Der Zehn-Jahres-Absturz
Beständig steigerte der schwäbische Flugsitzhersteller Recaro den Umsatz – Corona hat die Rekordjagd jäh gestoppt
- Der kurze Moment der Stille vor dem Start verfliegt in dem Moment, wenn die Turbinen aufheulen. Der Schub drückt die Menschen in die Sitze, wenig später steigt der Druck auf die Ohren, bevor die anvisierte Flughöhe erreicht ist. Die enormen Kräfte, die die Reisenden aufgrund des Turbinenschubs spüren, nimmt ein Gefüge aus Aluminium, Stoff und Plastik auf. Der Flugzeugsitz ist eine Spezialkonstruktion und im Schnitt kommt jeder vierte weltweit vom Flugsitzhersteller Recaro Aircraft Seating mit Sitz in Schwäbisch Hall.
Doch ein Flugsitz muss nicht nur die Kräfte abfangen, die bei Start und Landung auf die Menschen wirken. Tischchen zum Ausklappen für einen Snack, Multimediasysteme und verstellbare Rückenlehnen gehören längst zur Ausstattung vieler Fluglinien. Ein Sitz in der Economy-Klasse besteht daher aus etwa 1000 Teilen, im Business-Bereich sind es locker dreimal so viel. Hinzu kommt, dass nicht jede Sitzreihe gleich ist. Ganz hinten ergibt ein Monitor auf der Rückseite der Lehne keinen Sinn und durch die rundliche Form der Flugzeugkabine unterscheidet sich beispielsweise die Reihenbreite. In einer Maschine gibt es daher bis zu 30 verschiedene Sitze. Das muss bei der Produktion im Voraus bedacht werden.
Etwa 200 Airlines in der ganzen Welt beliefert Recaro eigenen Angaben zufolge. Vor der Pandemie erreichte das Unternehmen immer neue Rekordhöhen, ehe geschlossene Grenzen und Reiseverbote den Absturz für die gesamte Branche bedeuteten. Der Höhenflug des schwäbischen Flugsitzherstellers wurde ebenfalls jäh beendet. „Unser Umsatz ist 2020 um 60 Prozent zurückgegangen“, sagt der geschäftsführende Gesellschafter Mark Hiller über den Einfluss der Pandemie auf das Geschäftsergebnis.
In absoluten Zahlen hat das Unternehmen im vergangenen Jahr einen Umsatz von 295 Millionen Euro erzielt. „Das ist in etwa der Umsatz, den wir 2010 und 2011 erreicht haben. Wir sind also um zehn Jahre zurückgefallen“, vergleicht Hiller. Eine ungewohnte Situation für das Unternehmen, dessen Umsatz vor der Pandemie immer neue Rekordhöhen erreichte. 2019 war das bisher beste Jahr mit 716 Millionen Euro.
Die Pandemie hat Recaro in die roten Zahlen getrieben. Verlustzahlen veröffentlicht das Unternehmen nicht, doch Hiller verrät, dass sich das Minus 2020 im hohen zweistelligen Millionenbereich bewegt. Ähnlich ist es 2021, da sich noch keine positive Entwicklung im Vergleich zum Vorjahr eingestellt hat. „Wir sind trotz Krise finanziell robust aufgestellt. Da hilft uns, dass wir wirtschaftlich sehr gut aufgestellt in die Krise gegangen sind“, sagt Hiller und verneint damit Existenzängste.
Die Nachricht, dass vom 8. November an wieder Touristen in die USA einreisen dürfen, hat der 49Jährige dennoch erleichtert aufgenommen. Seit Beginn der Pandemie gehen in der ganzen Luftfahrtbranche Sorgen um. Erst im Juli des vergangenen Jahres hat der RecaroKonkurrent ZIM aus Markdorf am Bodensee Insolvenz angemeldet. Dort einzusteigen, war in Schwäbisch Hall keine Option. Recaro will aus eigener Kraft wachsen. „Wir schauen uns Möglichkeiten natürlich immer an, sind aber die vergangenen zehn Jahre extrem erfolgreich gewesen und die Gewinner der Branche, was den Marktanteil angeht – und das mit organischem Wachstum“, sagt Hiller.
Das Angebot von Recaro Aircraft Seating besteht aus Business- und Economy-Class-Sitzen für Kurz-, Mittel- und Langstreckenflüge. Bei einzelnen Flugzeugtypen wie der Boeing 787 oder dem Airbus A350 liegt der Marktanteil laut Hiller bei bis zu 50 Prozent. Mit Blick auf den Gesamtmarkt kommen etwa 30 Prozent der Flugzeugsitze in der Economy-Class und knapp zehn Prozent im Business-Bereich von Recaro. Das bedeutet, dass im Schnitt jeder vierte Flugzeugsitz weltweit von dem Unternehmen aus Schwäbisch Hall stammt. Die größten Wettbewerber kommen aus dem Ausland und sind der amerikanischen Rüstungsund Elektronikkonzern Raytheon sowie die französische Aktiengesellschaft Safran.
Der Flugsitzhersteller selbst gehört zur Recaro Holding mit Sitz in Stuttgart. Dort hat das Unternehmen seien Ursprung. 1906 gründet Wilhelm Reutter die Stuttgarter Carosserieund Radfabrik. Der Name Recaro entsteht aus den beiden Anfangsbuchstaben von Reutter und den zwei Silben Caro für Karosserie. 1971 produziert das Unternehmen zunächst in Lizenz die ersten Flugzeugsitze. Die Marke Recaro gehört heute der Holding und mit Recaro eGaming besitzt sie eine weitere selbstständig operierende Gesellschaft, die Spezialstühle für Computerspieler herstellt. Hinzu kommen die Geschäftsbereiche Autositze und Kindersitze sowie -wagen, die von Lizenznehmern betrieben werden. „Aircraft Seating ist für rund 90 Prozent des Gesamtumsatzes der Gruppe verantwortlich“, beschreibt Hiller die eigene Position in der Dachgesellschaft.
An seinen Standorten im Amerika, Polen, China, Südafrika und Deutschland beschäftigte der Flugsitzhersteller vor der Pandemie etwa 2700 Mitarbeiter. Kurzarbeit und Gehaltsverzicht haben Arbeitsplätze in Schwäbisch Hall gesichert. An den internationalen Standorten war das Unternehmen gezwungen, die Mitarbeiteranzahl zu verringern und beschäftigt nun weltweit insgesamt noch rund 2100 Menschen. Trotz der Krise baut Recaro ein neues Gebäude in Schwäbisch Hall, das im September eröffnet wurde – Kostenpunkt: 50 Millionen Euro. „Das hat Fragen hervorgerufen, ob die Krise wirklich so schlimm ist und ob wir den Bau nicht stoppen sollen“, erklärt Hiller. „Das hat sich aber schnell gelegt, weil es ein Bekenntnis zum Standort ist. Nun gilt es, das neue Gebäude mit zukünftigem Geschäft zu füllen.“
In der Eingangshalle dieses Gebäudes steht ein hellblauer Porsche 356, der an die Anfänge des Unternehmens im Karosseriebau erinnert. Eine neue Crashtest-Anlage, die den Sitzhersteller in Zukunft von Dienstleistern unabhängig macht, und der Kundenservice befinden sich nun in dem Neubau. Dort stehen noch weite Teile der Halle leer. Bis der Umsatz, den die Airlines seit einiger Zeit wieder machen können, bei Recaro in
Form von Aufträgen ankommt, kann es zwischen sechs Monaten und einem Jahr dauern.
Zwei Aufträge für Neuausstattungen hat das Unternehmen in den vergangenen Wochen bereits vermelden können. In den kommenden sechs Jahren soll Recaro 146 Flugzeuge der ungarischen Billigfluggesellschaft Wizz Air mit Economy-Sitzen ausstatten. Ende 2022 beginnt der Einbau von Sitzen in 20 Maschinen von Qatar Airways. „Die Airlines entscheiden über die Kabinenausstattung. Die Produkte müssen vom Flugzeughersteller allerdings zertifiziert sein“, sagt Hiller. Bei Neuausstattungen übernehme der Hersteller des Flugzeugs den Einbau , bei einer Nachrüstung die Airline oder ein Dienstleister.
Bis die Luftfahrtbranche das Vorkrisenniveau erreicht, wird es noch drei bis vier Jahre dauern, schätzt der Recaro-Chef. Nach dem Rekordjahr 2019 hat die Geschäftsführung dem 49-Jährigen zufolge von sich aus bereits einen Umsatzrückgang von 25 Prozent für das kommende Jahr eingeplant. „Wir haben kalkuliert, dass der Umsatz auf 540 Millionen Euro zurückgehen könnte und hatten schon einen Plan, wie wir damit gut zurechtkommen“, sagt Hiller. Die Pandemie hat die Pläne durchkreuzt und das Unternehmen weit stärker abstürzen lassen. In Schwäbisch Hall sind die Verantwortlichen jedoch zuversichtlich, dass es keine zehn Jahre dauern wird, die anvisierte Flughöhe wieder zu erreichen.