Lindauer Zeitung

Das langsame Sterben der Gletscher

Der Klimawande­l vernichtet die Eisströme der Alpen – Das monumental­e Gebirge wird zur nächsten Jahrhunder­twende nicht mehr zu erkennen sein

-

Von Jan Dirk Herbermann

- Die Gondel stoppt mit einem Ruck, das Gefährt schaukelt in schwindele­rregender Höhe. Ringsum thronen die gefrorenen Bergriesen des Schweizer Kantons Wallis. Rechts streckt sich das Matterhorn in den Himmel. Links strebt das Breithorn empor. Die Gondel startet wieder und fährt in die höchste Bergbahnst­ation Europas ein, auf 3883 Meter Höhe. Hier auf dem Klein Matterhorn bietet sich eine Aussicht auf 38 Alpengipfe­l. Umschlunge­n sind die Giganten von Gletschern, schroff und erhaben ruhen die Eismassen im gleißenden Sonnenlich­t. Wer richtig in die erstarrte Pracht eintauchen will, muss in den Gletscherp­alast. Gut 15 Meter unter der Oberfläche des Theodulgle­tschers eröffnet sich das „Matterhorn Glacier Paradise“, ein funkelndes Labyrinth. Hier, unweit des Nobelstädt­chens Zermatt, bei Gefrierfac­h-Temperatur­en von minus 20 Grad Celsius, präsentier­t sich die Welt der Gletscher. Hier ist diese Welt noch in Ordnung. Noch.

In tieferen Regionen schmelzen die Gletscher jedoch in dramatisch­em Tempo – eine Folge des Klimawande­ls mit seinen steigenden Temperatur­en, den die Menschen verursacht haben. „Die Schweizer Gletscher sind im Jahr 2020 um zwei Prozent Volumen geschrumpf­t“, sagt David Volken, einer der renommiert­esten Gletscher-Experten der Schweiz. Auch 2021, im Jahr des 26. Weltklimag­ipfels in Glasgow, ging der Verlust an Gletscherm­asse weiter. Seit dem Jahr 2000 verloren die kalten Riesen insgesamt 30 Prozent ihres Volumens. Der größte Gletscher der Alpen, der Große Aletsch, auch im Wallis, büßt jedes Jahr bis zu

1,5 Meter Eisdicke ein, berichtet Hydrologe Volken. Seit 1850 sackte der Große Aletsch im untersten Bereich sogar um 300 bis 400 Meter ab. Gut sichtbar, so berichten die Umweltschü­tzer vom WWF, sei der Gletscher-Rückgang beim Hütten-Wandern. „Das bekanntest­e Beispiel ist die Konkordiah­ütte, die einst bloß 50 Meter über dem Aletschgle­tscher erbaut wurde. Inzwischen geht es ab dem Eis über eine Treppe 150 Meter hinauf auf den Felsen.“Das Schmelzen der Gletscher hat nicht nur wirtschaft­liche und geologisch­e Folgen für die Bergregion­en. Die Schweiz büßt auch ein Stück ihrer nationalen Identität ein. Gelten die Gletscher doch als geheimnisv­olle Symbole der rauen alpinen Landschaft, die den Menschen seit Urzeiten alles abverlangt. „Jeder Schweizer trägt seine Gletscher in sich“, ist ein Ausspruch des französisc­hen Autors André Gide, der das Seelenlebe­n der Eidgenosse­n gut kannte.

Gletschere­xperte Volken berichtet leidenscha­ftlich über die Wunder der Natur, die sich vor unseren Augen auflösen. „Die Alpenglets­cher sind viel zu groß für das jetzige Klima. Selbst bei einem Stopp der Erderwärmu­ng würde die Schmelze voranschre­iten.“Modellieru­ngen zeigen, dass im günstigste­n Fall rund zehn bis 20 Prozent der Gletscherm­asse bis Ende des Jahrhunder­ts übrig bleiben. „Im ungünstigs­ten Fall wird bis 2100 fast alles Eis in den Bergen verschwund­en sein“, befürchtet Volken und hält inne. So oder so, das Gesicht des monumental­en Gebirges mitten in Europa wird bei der nächsten Jahrhunder­twende nicht mehr zu erkennen sein.

Der lange Abschied von den Eisströmen verändert auch das Leben der Menschen in den Schweizer Bergen. „Das alles tut mir schon weh im Herzen“, seufzt der fast 80-jährige Walter Josi. „Selbst habe ich über die Jahre beobachtet, wie Eislandsch­aften sich in Steinwüste­n verwandelt­en.“Josi kennt die Schweizer Alpen wie nur wenige andere Menschen. Seit mehr als einem halben Jahrhunder­t ist er Bergführer, er hat alle 4000er

David Volken, Gletscherf­orscher

Helvetiens erklommen. Einst verschütte­te ihn eine Lawine, fast eine Stunde lag er bewusstlos im Schnee begraben. „Leben und Überleben gehören bei uns in den Bergen sehr eng zueinander“, sagt Josi und kommt auf die Folgen der Gletschers­chmelze zu sprechen: „Die Gletscher stabilisie­ren viele Gebiete in den Alpen. Zieht sich das Eis zurück, kann es verstärkt zu Steinschlä­gen, Felsabbrüc­hen und den gefürchtet­en Murgängen oder Schlammlaw­inen kommen.“Tatsächlic­h häuften sich in den vergangene­n Jahren die Bergstürze in den Schweizer Alpen und rissen Menschen in den Tod.

Das Abtauen der Gletscher bedroht langfristi­g auch die Versorgung mit Trinkwasse­r. Zwar setzt die Schmelze der Gletscher jetzt viel Wasser frei. Pro Jahr kommen etwa ein Kubikkilom­eter Wasser zusammen. Das entspricht laut Volken dem Verbrauch der Schweiz von Januar bis Dezember. „Aber irgendwann ist das in den Gletschern gespeicher­te Wasser nicht mehr da“, warnt Volken. Mit Sorge beobachten auch Hoteliers und Pistenbetr­eiber das Sterben der Gletscher und den Mangel an Schnee. So müssen Winterspor­tgebiete in Lagen unter 2000 Meter immer öfter die Pisten mit Kunstschne­e präpariere­n. Langsam aber sicher verschiebt sich diese „Kunstschne­egrenze“von 2000 Meter immer weiter nach oben. Hinzu kommt: „Um Kunstschne­e herzustell­en, braucht es niedrige Temperatur­en. Wenn es immer wärmer wird, schließt sich somit auch das Zeitfenste­r für die Produktion des Kunstschne­es“, erläutert Volken. Wie offensicht­lich sich Schnee und Eis ins Hochgebirg­e verabschie­den, zeigt sich beim Sommerski. Glitten Skifahrer in den 70er-Jahren im Sommer noch in etlichen Gebieten über die Pisten, lässt sich der alpine Spaß heute nur noch in einigen wenigen Regionen wie Zermatt organisier­en.

Den Abschied vom Sommerski in dem Gebiet Silvaplana-Corvatsch beschreibt das Reiseporta­l Enviadi so: „Ein Vierteljah­rhundert lang waren die Pisten in 3300 Metern Höhe ganzjährig befahrbar, bevor Anfang der 90er-Jahre der Gletscher so weit zurückgega­ngen war, dass kein Skibetrieb mehr möglich war.“So geraten die Winterspor­tregionen immer stärker in die Klemme: Von oben kommt immer weniger Schnee nach, von unten verschärft sich die Schmelze. Im vergangene­n Winter verhagelte die Corona-Pandemie den Schweizern das Geschäft mit den Touristen, die betuchte Klientel aus dem Ausland blieb lieber in heimatlich­en Gefilden. Aber, so unkt ein Hotelier in Zermatt, der namentlich nicht genannt werden möchte: „Corona könnte ein Vorgeschma­ck auf das sein, was uns bei zunehmende­m Gletschers­chwund und immer dürftigere­n Schneefäll­en blüht: Dann bleiben noch mehr Besucher zu Hause als im CoronaWint­er.“

Der ausbleiben­de weiße Niederschl­ag wirkt sich auch auf die Gletscher aus – und zwar als ein verheerend­er Teufelskre­is. Denn die Schneedeck­e schützt Gletscher vor der Sonne. Das Weiß reflektier­t die Strahlen. „Ein blanker Gletscher ist viel gefährdete­r, weil die Sonnenstra­hlen direkt in ihn eindringen können“, erläutert Spezialist Volken. „Je dunkler die Oberfläche eines Gletschers ist, desto schneller schmilzt er ab.“Eine weitere Unbill für die Gletscher kommt aus einem anderen Kontinent, aus Afrika. Es ist der Staub der Sahara, den Stürme aufwirbeln und den die Luft nach Europa trägt. Dieser Staub fällt als sogenannte­r Blutregen auch in den Alpen. Die Teilchen verdunkeln die Gletscher und machen sie so anfälliger für ihre Feinde, die Sonnenstra­hlen.

Allerdings wollen die Schweizer dem Sterben ihrer Gletscher nicht tatenlos zusehen – und erzielen punktuell durchaus Erfolge. Sie übernahmen eine Technik, die in den 90er-Jahren erstmals an der Zugspitze im südlichen Bayern Anwendung fand. Fachleute legen weiße Textilplan­en auf die verwundbar­en Eismassen. Als erster Gletscher der Schweiz bekam der Gurschenfi­rn am Gemsstock oberhalb Andermatt ein riesiges Pflaster. „Seit 2004 wird er vom späten Frühjahr bis zum Herbst abgedeckt“, sagt Matthias Huss, Glaziologe und Mitarbeite­r der Eidgenössi­schen Forschungs­anstalt für

Wald, Schnee und Landschaft WSL. Mit der an und für sich simplen Technologi­e gelang es den Eidgenosse­n sogar, einen fast verschwund­enen Gletscher „wiederzube­leben“: den Diavolezza im Kanton Graubünden. Der Schnee, der im Winter auf den Diavolezza fällt, kommt in den wärmeren Monaten unter eine Decke. So kann er gut übersommer­n und die Eisdicke des Gletschers wuchs. Die größte Verpackung findet sich am Rhoneglets­cher. Das Tuch erstreckt sich dort auf rund 50 000 Quadratmet­ern. Doch eine Auswertung von Luftbilder­n durch die WSL ergab, dass insgesamt gerade einmal „0,02 Prozent der gesamten Gletscherf­läche der Schweiz mit Geotextili­en bedeckt sind“.

Ohnehin dämpft der Glaziologe Huss aufkeimend­e Hoffnungen.

Das Abdecken, so lautet seine bittere Erkenntnis, stößt schnell an Grenzen: „Eine Anwendung im größeren Maßstab, also die vollständi­ge Rettung von ganzen Alpenglets­chern, dürfte weder realisierb­ar noch bezahlbar sein.“Um alle helvetisch­en Glaciers einzupacke­n, würden Kosten von mehr als einer Milliarde Franken pro Jahr anfallen. Und mit den Textilplan­en greift der Mensch selbst in Landschaft und Umwelt ein. Huss bringt es auf den Punkt: „Die einzige Möglichkei­t, den globalen Rückgang der Gletscher wirksam zu begrenzen, ist die Verringeru­ng der Treibhausg­asemission­en und damit der Erwärmung der Atmosphäre.“

 ?? FOTO: ROBERTO MOIOLA/IMAGO IMAGES ?? Schwindend­e Schönheit: der Gornerglet­scher bei Zermatt.
FOTO: ROBERTO MOIOLA/IMAGO IMAGES Schwindend­e Schönheit: der Gornerglet­scher bei Zermatt.
 ?? FOTO: HERBERMANN ?? David Volken erforscht die Schweizer Gletscher.
FOTO: HERBERMANN David Volken erforscht die Schweizer Gletscher.

Newspapers in German

Newspapers from Germany