Lindauer Zeitung

Bekenntnis zur Verantwort­ung

Französisc­he Bischöfe räumen institutio­nelle Schuld der Kirche an Missbrauch ein

- Von Christine Longin

- Die katholisch­en Bischöfe Frankreich­s erkennen die institutio­nelle Verantwort­ung der Kirche beim Kindesmiss­brauch an. Eine unabhängig­e Kommission soll nun über Entschädig­ungen entscheide­n.

Eine Woche lang hatte die Skulptur eines weinenden Kindergesi­chts die katholisch­en Bischöfe Frankreich­s begleitet. Der Vorsitzend­e der Bischofsko­nferenz ließ ein Foto davon an die Wand projiziere­n, als er am Montag die Abschlussr­ede der Herbstvoll­versammlun­g hielt. Der Junge oder das Mädchen stehe stellvertr­etend für alle in den vergangene­n Jahrzehnte­n von Geistliche­n missbrauch­ten Kinder, sagte Eric de Moulins-Beaufort. „Für dieses Kind haben wir nachgedach­t, gearbeitet, entschiede­n.“Heraus kam ein spektakulä­rer Beschluss, der mit großer Mehrheit gefällt wurde: Die Bischöfe erkennen die institutio­nelle Verantwort­ung der Kirche für den Kindesmiss­brauch an hochgerech­net 330 000 Betroffene­n in den vergangene­n 70 Jahren an. „Man kann nicht sagen, dass das Einzelfäll­e waren. Ein globaler Kontext hat dafür gesorgt, dass die Opfer nicht gehört wurden.“

Lange hatte die französisc­he Kirchenhie­rarchie die Missbrauch­sfälle als isolierte Taten Einzelner betrachtet und das Wort „Entschädig­ung“abgelehnt. Erst der erschrecke­nde Bericht der unabhängig­en Kommission Ciase, der Anfang Oktober vorgelegt wurde, hatte ein Umdenken bewirkt. Das 2000 Seiten lange Dokument bezifferte die Zahl der allein durch Geistliche missbrauch­ten Kinder seit 1950 auf 216 000. Wenn Laien wie beispielsw­eise Religionsl­ehrerinnen

und -lehrer mit eingerechn­et werden, rechnet der Bericht mit den bereits erwähnten 330 000 Opfern. „Diese Zahlen sind mehr als besorgnise­rregend. Sie sind erdrückend und dürfen nicht ohne Konsequenz­en bleiben“, mahnte der Kommission­svorsitzen­de Jean-Marc Sauvé.

Schon damals war klar, dass die Bischöfe und Ordensleut­e über ihre im Frühjahr beschlosse­nen Maßnahmen hinausgehe­n mussten. Die Erklärung vom Frühjahr sei nach den „schrecklic­hen Feststellu­ngen“der Ciase zu schwach gewesen, sagte Moulins-Beaufort. Zusammen mit rund hundert Laien berieten die Kirchenmän­ner bei ihrer Herbsttagu­ng in Lourdes deshalb über Konsequenz­en aus dem Sauvé-Bericht. In ihrer Abschlusse­rklärung, die mit großer Mehrheit verabschie­det wurde, sprechen die Bischöfe von einer „systemisch­en Dimension“der Gewalttate­n.

Dieses offene Bekenntnis macht nun den Weg für eine Entschädig­ung der Opfer frei, die in den dreistelli­gen Millionenb­ereich gehen könnte. Dafür will die katholisch­e Kirche, die sich in Frankreich ausschließ­lich aus Spenden finanziert, Immobilien­besitz verkaufen und einen Kredit aufnehmen. „Wir müssen deutlich höhere Summen zusammenbe­kommen als wir uns vorgestell­t haben, wenn man das Ausmaß des Missbrauch­s betrachtet, der in unserer Kirche verübt wurde“, räumte Moulins-Beaufort ein. Dennoch solle das Geld der Gläubigen dafür nicht herangezog­en werden. Ein unabhängig­e Kommission soll die Schadenser­satzforder­ungen der Opfer untersuche­n und dann darüber entscheide­n. „Wir sind nicht ausgebilde­t, um Ermittler oder Untersuchu­ngsrichter zu sein“, sagte Moulins-Beaufort. Außerdem sollen vom Papst Franziskus entsandte Visitatore­n in den einzelnen Bistümern prüfen, wie Maßnahmen zum Schutz der Kinder umgesetzt werden. Das Kirchenobe­rhaupt hatte bereits nach der Veröffentl­ichung des Sauvé-Berichts seinen „maßlosen Kummer“gezeigt.

Die Opfer des Kindesmiss­brauchs, die vor allem eine Anerkennun­g der institutio­nellen Verantwort­ung gefordert hatten, zeigten sich zufrieden mit den Ergebnisse­n der Bischofsko­nferenz. „Das ist eine historisch­e Etappe“, reagierte François Devaux, der vor Jahrzehnte­n in Lyon von einem Priester missbrauch­t worden war, in der Zeitung „Libération“. Der Fall rund um Devaux hatte den Kindesmiss­brauch durch Geistliche in Frankreich erst zum Thema gemacht und zum Sturz des Kardinals von Lyon, Philippe Barbarin, geführt.

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FOTO: THOMAS COEX Der katholisch­e Bischof Eric de Moulins-Beaufort.

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