Warum Barbara Aichele mit Mitte 40 Jägerin wird
Erst spät entscheidet Barbara Aichele sich dazu, den Jagdschein zu machen – Über das Jagen und was es bedeutet
- Ein lauter Knall zerreißt die Stille. Sie atmet laut, ihr Herz schlägt hörbar. Adrenalin schießt in ihre Blutbahnen. Der Bock geht still zu Boden. Kurz bewegt er sich noch, dann nicht mehr. Fast zwei Stunden hat Barbara Aichele auf dem Hochsitz in der Oktoberkälte gewartet. Vor ein paar Minuten war das Tier auf den Weg getreten, einige Meter vom Hochsitz entfernt. Die Jägerin hatte es durch ihr Fernglas beobachtet, abgewogen, die Position bemessen. Bis sie sich sicher war. Und dann geschossen. Jetzt ist sie erleichtert. Als sie nach unten steigt, fällt die Anspannung von ihr ab.
„Ein Stück weit kostet es mich jedes Mal Überwindung“, sagt Barbara Aichele. „Vor dem Schuss bin ich hoch konzentriert.“Es dürfe schließlich nichts schiefgehen. Das Tier müsse richtig stehen, nämlich seitlich, sodass man es mit einem Schuss in die Kammer direkt tötet. Der Schuss muss sitzen. Nur verletzen wäre fatal. Würde das Tier davonlaufen, wäre die Suche schwer.
Barbara Aichele, 52 Jahre alt aus Lindenberg, ist Jungjägerin. So nennt man alle Jäger und Jägerinnen, die den Schein noch nicht so lange besitzen. Barbara Aichele hat ihn seit siebeneinhalb Jahren. Früher war für sie Jagen nie ein Thema. Als die 52-Jährige dann Urlaub in einer ländlichen Region in Kanada machte, in der Jäger unterwegs waren, sie ihnen zuschaute, beschloss die 52Jährige gemeinsam mit ihrem Mann, einen Jagdschein zu machen.
Barbara Aichele macht den Jägerkurs beim Kreisjagdverband in Kempten. Acht Monate, zweimal pro Woche und manchmal an den Wochenenden musste sie dort hin. Wildbiologie, Jagdpraxis, Brauchtum, Waffenkunde, Wildbrethygiene und Jagdrecht – sie merkte, wie vielfältig die Ausbildung ist. Das kostete viel Zeit. „Gegen Ende bin ich echt an meine Grenzen gekommen“, sagt sie. In Bayern sei die Ausbildung sehr anspruchsvoll. „Das war aber auch gut, weil man viel lernt.“Man könne es auch in zwei- oder dreiwöchigen Kursen machen, aber davon sei Aichele nicht überzeugt. „Ich brauche ja das nötige Wissen und das Handwerkszeug.“
Still liegt es da. Barbara Aichele geht langsam auf das junge Reh zu. Aus Respekt und zu Ehren des Tiers gibt die Jägerin ihm den „letzten Bissen“, ein jagdliches Brauchtum. Jägerinnen und Jäger legen dem erlegten Wild einen Zweig quer ins Maul – symbolisch für seine letzte Mahlzeit. Die andere Hälfte steckt sie sich in den dunkelgrünen Hut, den sie auf dem Kopf trägt. „Auf der einen Seite bin ich froh, dass es geklappt hat, auf der anderen Seite tut es mir leid“, sagt sie.
Als Barbara Aichele und ihr Mann von Kanada zurück nach Deutschland kommen, informierte sich das Paar, bevor es die Ausbildung machte. Schnell wurde ihnen klar: Jagen ist viel mehr als Schießen. Es geht um die Verbindung zu Natur und Tier.
„Ich denke, es gehört auch die Wertschätzung gegenüber dem Tiere dazu“, sagt die Jägerin. Als Pächterin des Waldstücks bei Röthenbach im oberen Landkreis in der Nähe von Lindenberg, ist es zum Beispiel auch ihre Aufgabe, Futtertröge zu füllen. Damit die Tiere gut über den Winter kommen.
Barbara Aichele ist studierte Maschinenbauerin und Gruppenleiterin bei dem Flugzeugteilebauer Liebherr-Aerospace in Lindenberg. Die meisten ihrer Kollegen sind Männer, ähnlich wie beim Jagen. Das stört sie aber nicht, sagt sie. Ein Grund, warum sie mit dem Jagen angefangen hat, sei vielleicht auch der, dass sie Rollen aufbrechen möchte. Denn immer wird klarer: Die Jagd verändert sich, seit mehreren Jahren ist ein Wandel zu spüren.
Immer mehr Frauen gehen zur Jagd. Waren es in Bayern 2017 um die 7000, sind es vier Jahre später schon 9000 Frauen mit Jagdschein. Das berichtete das bayerische Staatsministerium für Forsten und Ernährung im Juni. Von demselben Trend berichtet auch der Deutsche Jagdverband (DJV).
Ein Viertel der Teilnehmer in den Jagdschulen seien mittlerweile Frauen. Vor 25 Jahren waren es gerade einmal ein Prozent. Was die Zahlen zeigen, spiegelt sich auch in der Realität wider: Vielerorts tun sich Jägerinnen zusammen, bilden Gruppen. In Bayern gibt es ein Jägerinnenforum, bei dem Frauen ihre Erfahrungen austauschen.
Auch die Motivation zum Jagen hat sich laut DJV verschoben. Für viele gehe es mittlerweile um die Nähe zur Natur. Gleich danach komme der Naturschutz. Während Frauen als weiteren Grund für einen Jagdschein den Umgang mit einem Jagdhund angeben, ist für Männer laut der DJV-Umfrage die Geselligkeit wichtig.
Negative Erfahrungen als Frau beim Jagen hat Barbara Aichele nie gemacht – eher überrascht reagierten die Leute oft, sagt Aichele. Als sie einmal erzählte, dass sie ein Reh aus der Decke geschlagen hat – also das Fell vom Schalenwild entfernt – habe ihr Gegenüber gefragt: „Ja, kann eine Frau so etwas?“
Obwohl es ein kalter Oktoberabend ist – die Sonne ist bereits untergegangen – wird Barbara Aichele warm. Denn das Reh, das sie vor sich herträgt, ist schwer. Um die 15 Kilogramm wiegt es. Nachdem sie es bei dem Zuständigen im Landkreis Lindau gemeldet hat, nimmt sie es mit nach Hause. Aufbrechen, Fell abziehen, weiterverarbeiten. Das machen Barbara Aichele und ihr Mann selbst. Das Fleisch nutzen sie zum Eigenverzehr oder schenken es weiter.
Für das Waldstück, das das Ehepaar gepachtet hat, legt, wie in anderen auch, ein sogenannter Abschussplan fest, wie viel Wild im Jahr geschossen werden muss. Das bestimmt die Jagdbehörde des Landratsamts. In diesem Jahr fehlen noch einige, sagt sie. Bisher haben sie zwischen sechs oder acht – eigentlich hätten es aber mehr sein müssen. Ein Wald müsse bejagt werden, sagt die Jägerin.
Jagen bedeutet für Barbara Aichele auch Beobachten und Kümmern. „Es ist so schön zu sehen, wie die Geiß mit ihren Kitzen unterwegs ist und wie die Kleinen herumtollen“, sagt sie. „Es ist einfach auch schön draußen zu sitzen und nur in die Gegend zu schauen.“Es sei ja auch nicht so, dass man alles schießt, was sich bewegt.
Ganz zu Beginn, vor sieben Jahren, fiel der 52-Jährigen das Jagen manchmal noch schwer, sagt sie, komisch fand sie es aber nie. Aber ihr Verhältnis zum Tod hat sich verändert. „Der Tod ist weniger abstrakt – man lernt, dass er zum Leben dazugehört.“