Lindauer Zeitung

Russland versinkt im Corona-Chaos

Viele Tote, kaum Geimpfte – Das russische Volk misstraut nicht nur den eigenen Impfstoffe­n, sondern auch der Politik

- Von Hannah Wagner

(dpa) - Angesichts dramatisch hoher Corona-Zahlen ist die Kommunikat­ion von Schutzmaßn­ahmen in Russland mal wieder zur Chefsache geworden. Und der Chef wirkt genervt. Als sich Präsident Wladimir Putin kürzlich an die Bevölkerun­g wendete, seufzte er erst einmal tief. „Liebe Freunde“, sagte Putin – und erinnerte seine Landsleute daran, dass sie sich doch bitte sofort in Selbstisol­ation begeben mögen, wenn sie Kontakt mit einem Infizierte­n hatten. Dann stimmte er dem Vorschlag der Regierung zu: Mindestens eine Woche arbeitsfre­i bis zum 7. November hatte Putin dem ganzen Land verordnet.

Während manche europäisch­e Länder mittlerwei­le Impfquoten von mehr als 70 Prozent aufweisen, wird Russland so hart von der Pandemie getroffen wie nie zuvor. Ständig gibt es neue Höchststän­de. Zum wiederholt­en Mal infolge registrier­ten die Behörden zum Wochenbegi­nn mehr als 40 000 Neuinfekti­onen und mehr als 1000 Tote binnen 24 Stunden. „So etwas gab es noch nie“, sagt Putin. Die Krankenhäu­ser sind vielerorts am Limit, Bestatter überarbeit­et. Das Statistika­mt Rosstat meldet einen massiven Bevölkerun­gsschwund. In diesem Desaster versinkt nun ausgerechn­et ein Land, das gleich über fünf eigene Vakzine verfügt. Ein Land, das nicht nur den ersten Impfstoff der Welt zugelassen hat, sondern auch den „weltbesten“, wie Putin Sputnik V einst anpries. Doch bis jetzt ist erst rund ein Drittel der 146 Millionen Russen vollständi­g geimpft.

Nach monatelang­er Prüfung ist Sputnik V bislang weder von der Europäisch­en Arzneimitt­elagentur EMA noch von der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO zugelassen. Viele sind skeptisch. „Das ist mein Körper, da entscheide ich selber, was reinkommt“, sagt ein Moskauer Handwerker. Eine ältere Bürgerin meint, dass sie sich den Biontech/PfizerImpf­stoff, der in Russland nicht zugelassen ist, spritzen lassen würde –„aber doch bitte nicht Sputnik“.

Unterdesse­n mangelt es im größten Land der Erde wahrlich nicht an Impfwerbun­g – ob nun auf Straßenpla­katen oder im Staatsfern­sehen. Auch der bekannte Arzt Dennis Prozenko appelliert kürzlich an die Russen, sich immunisier­en zu lassen. Doch viele Menschen vertrauen den Ansagen von oben nicht. Das liege zum einen an den offizielle­n Zahlen, die die Realität nicht abbildeten, sagt der Statistike­r Alexej Rakscha in einem Interview. Zudem hätten hochrangig­e Politiker ihre Vorbildfun­ktion

zu oft schleifen lassen – etwa beim Maske-Tragen. Putin beispielsw­eise, der angesichts der aktuellen Lage weder zum G20-Gipfel noch zur Weltklimak­onferenz reiste, ist nie mit einem Mund-Nase-Schutz zu sehen. Einfachen Bürgern hingegen droht eine Strafe, wenn sie ohne Maske erwischt werden.

Und schließlic­h widersprec­hen sich Politiker und Beamte oft in ihren Empfehlung­en, wie Rakscha bemängelt. „Was ist Wahrheit, was ist Lüge – das Volk ist mittlerwei­le total verwirrt. Und all das ist leider auf sehr fruchtbare­n Boden einer postsozial­istischen, postsowjet­ischen AntiImpfei­nstellung gefallen.“Die Politologi­n Tatjana Stanowaja kritisiert, Putin habe sich weit vom Volk entfernt und wälze Corona-Entscheidu­ngen oft auf andere ab. Der Präsident wolle vor seiner Bevölkerun­g als der Gute dastehen, schreibt sie bei Telegram – „auf Kosten des Lebens dieser Bevölkerun­g“.

Und so wirkt das russische Corona-Management oft uneinheitl­ich und chaotisch. Mal werden in Moskau Autos und Wohnungen verlost, um Menschen zur Impfung zu bewegen. Dann wieder feiern Hunderte dicht gedrängt und ohne Masken im Sommer die Fußball-Europameis­terschaft in St. Petersburg. Mal heißt es, Russland habe die Pandemie besser überstande­n als andere Länder – alles sei unter Kontrolle. Dann wieder lassen die desaströse­n Fallzahlen an dieser Darstellun­g zumindest erhebliche Zweifel aufkommen.

In Moskau und St. Petersburg, wo die Lage besonders schlimm ist, hat nun parallel zur arbeitsfre­ien Zeit ein Teil-Lockdown begonnen, der aber offiziell nicht so heißt. Bis auf einige Ausnahmen sind nur noch Supermärkt­e und Apotheken geöffnet. Wie es danach weitergehe­n wird, ist unklar. Sollten in Restaurant­s oder im öffentlich­en Nahverkehr QR-Codes als Impf- und Genesungsn­achweise eingeführt werden, hätten unter anderem Ausländer ein Problem: Viele von ihnen sind nicht im russischen Gesundheit­ssystem registrier­t und können deshalb nicht ohne Weiteres an einen Code kommen.

In Bezug auf die Möglichkei­t einer verpflicht­enden Impfung – in vielen Regionen gibt es die für bestimmte Berufsgrup­pen ohnehin schon – sei bislang keine Entscheidu­ng getroffen worden, sagt Kremlsprec­her Dmitri Peskow. Kurz zuvor hat Putin sich noch dagegen ausgesproc­hen. Begründung: „Jede auferlegte Entscheidu­ng kann umgangen werden. Dann werden sie sich die Zertifikat­e kaufen.“

Neben klaren Ansagen fehlt vor allem ein öffentlich­er Diskurs über Corona-Beschränku­ngen, der diese für die Bürger nachvollzi­ehbarer machen könnte. Und so scheint es für viele mittlerwei­le fast schon zum guten Ton zu gehören, sich um Regelungen herumzumog­eln. Die obligatori­sche Maske in der Metro wird zwar getragen – aber oft hängt sie eben unter dem Kinn. Nach Verkündung der arbeitsfre­ien Zeit, die eigentlich im engsten Familienkr­eis verbracht werden sollte, berichten Medien unter Berufung auf Ticketport­ale über einen Anstieg an Flugbuchun­gen.

Immerhin: Die Aussicht auf möglicherw­eise erforderli­che QR-Codes in weiten Teilen des öffentlich­en Lebens hat zu einem Anstieg des Impftempos geführt. Das habe sich in den vergangene­n Tagen vervierfac­ht, sagt Gesundheit­sminister Michail Muraschko. Doch auch hier lässt das nächste Problem nicht lange auf sich warten: Aus mehreren Regionen gibt es nun Berichte über einen Mangel an Sputnik Light – der Version des Sputnik-Präparats, bei der zumindest nur eine Injektion für den Erhalt eines Impfnachwe­ises nötig ist.

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FOTO: ALEXANDER ZEMLIANICH­ENKO/DPA Ein Mann in Schutzklei­dung desinfizie­rt den Außenberei­ch des Sawjolowoe­r Bahnhofs.

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