Verletzungen und fehlende Verantwortung
Weshalb sich der VfB Stuttgart im Tabellenkeller der Fußballbundesliga wiederfindet
- Sven Mislintat hat früh vorgebaut. Schon bevor der erste Ball in der neuen Bundesligasaison rollte, dämpfte der Sportdirektor des VfB Stuttgart die Erwartungen. „Schritt zwei nach dem Klassenerhalt ist der Klassenerhalt“, sagte Mislintat im Sommer ganz deutlich. Für die Schwaben gehe es in erster Linie darum, das schwierige zweite Jahr nach dem Wiederaufstieg ohne große Abstiegssorgen zu bestehen. „Wir sind ein gebranntes Kind, nachdem wir nach dem Aufstieg 2017 und Platz sieben in 2018 ein Jahr später wieder abgestiegen sind.“
Der aktuelle Negativtrend dürfte also niemanden überraschen. Eigentlich. Denn wirklich erwartet hätte wohl niemand, dass sich die Stuttgarter nach der erfolgreichen Vorsaison so früh doch wieder im Abstiegskampf befinden – auch die Verantwortlichen nicht. Trotz aller Bescheidenheit. Doch es lässt sich nicht mehr leugnen: Der VfB steckt mittendrin im Tabellenkeller. Nur noch ein Punkt trennt sie von den Abstiegsrängen. Schlimmer noch: Die Schwaben präsentieren sie aktuell als Aufbaugegner für andere Sorgenclubs. In der Vorwoche das 1:4 bei den bis dahin angezählten Augsburgern, am Samstag folgte das 0:1 gegen den bis dahin sieglosen Vorletzten Bielefeld. Wie konnte es so weit kommen? Eine Analyse:
Verletzungspech: Ohne Frage sind die großen Personalsorgen die Wurzel allen Übels. Gegen Bielefeld musste Trainer Pellegrino Matarazzo auf zwölf Profis verzichten, darunter acht Leistungsträger. „Es ist einfach ein Substanzverlust, den wir jetzt in den letzten Spielen nicht kompensieren konnten“, sagt Mislintat, dem vor allem die Situation im Angriff große Sorgen macht: „Wir dürfen nicht vergessen, dass uns alles vorne ausfällt, was wir vor Beginn der Saison für die Startelf eingeplant haben.“Das führt zu Punkt 2.
Kaum Offensivgefahr: Den Schwaben fehlt ein Torjäger, der zuverlässig trifft. Sasa Kalajdzic (16 Tore), Silas Katompa Mvumpa (11) und Nicolás González (6) haben in der vergangenen Saison allein 33 der 56 Stuttgarter Tore erzielt. Alle drei stehen dem VfB aber momentan nicht oder nicht mehr zur Verfügung. Jene, die als Ersatz eingeplant waren, sind ebenfalls angeschlagen (Chris Fühihn rich, Omar Mamoush) oder nicht in Form (Wahid Faghir, Tanguy Coulibaly). Gegen Bielefeld nahm die Aufstellung deshalb absurde Züge an: Mit Daniel Didavi begann genau ein gelernter Offensivspieler. Und als der VfB in der Schlussphase einem Rückstand hinterherlief, brachte Matarazzo fürs Sturmzentrum Matej Maglica – der hatte zwar noch nie in der Bundesliga gespielt und ist Innenverteidiger, hat aber wenigstens eine Körpergröße von 1,98 Meter. Gebracht hat es nichts.
Kreativlosigkeit: Zumindest Trainer Matarazzo zeigt sich also ideenreich. Maglica war schon der 29. Spieler, den er in dieser Saison einsetzte, so viele wie in der gesamten Vorsaison. Der Clubrekord liegt bei 31 (2015/ 16). Gegen die Arminia versuchte der Coach zudem, die Lücke im Sturmzentrum mit einer Überraschung auszubügeln. Linksfuß und Flankenspezialist Borna Sosa begann auf der für
ungewohnten rechten Seite, da es keinen Zuspieler gab, auf den er hätte flanken können. „Die Idee hatte ich seit mehreren Wochen“, erklärte Pellegrino Matarazzo und war zufrieden: „Fast alle Angriffe in der ersten Halbzeit liefen über Borna – er hatte gute Innendribblings mit Zug zum Tor und gute Bälle in die Spitze. Es ist sicherlich auch eine Option für die Zukunft.“Dennoch: Auch der Kroate konnte dem stotternden Offensivspiel der Schwaben keinen neuen Schwung verleihen. Zwar hat der VfB in dieser Saison bereits 14 Treffer erzielt, allerdings fünf davon am ersten Spieltag gegen den überforderten Aufsteiger aus Fürth (5:1) und drei gegen Hoffenheim (3:1). In den vergangenen Spielen taten sich die Stuttgarter hingegen extrem schwer, ideenreich nach vorne zu spielen – selbst gegen anfällige Gegner wie Augsburg und Bielefeld. Vom temporeichen Offensivspiel und der Konterstärke der Vorsaison ist momentan kaum was zu sehen.
Fehlende Konstanz: Aufgrund der Personalsorgen muss Matarazzo seine Startelf immer wieder neu zusammenstellen. Die Sicherheit und Automatismen gehen verloren. Den jungen Spielern fehlt die Erfahrung, sich schnell auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Mislintats Plan war es, den vielen Talenten Zeit zu geben, um sich in Ruhe entwickeln zu können. Das ist im Moment aber nicht möglich, die Personalnot verlangt viele Einsätze von den Nachwuchskräften. Dass sie dabei nicht immer ihre beste Leistung abrufen können, ist für Mislintat nur verständlich: „Schwächephasen gehören zur Entwicklung. Bei einer Mannschaft genauso wie auch bei Spielern. Daran wächst man.“
Kein Anführer: Klar ist aber, dass ein erfahrener Anführer dieser jungen Truppe in der aktuellen Situation guttun würde. Diesen Vorwurf müssen sich die Verantwortlichen gefallen lassen. Obwohl Gonzalo Castro gerne geblieben wäre, wurde der Vertrag des Kapitäns im Sommer nicht verlängert. Ob Mislintat und Matarazzo diese Entscheidung mit dem heutigen Wissen nochmals so treffen würden, ist mehr als fraglich. Denn es ist offensichtlich, dass ein erfahrener Spieler fehlt, der das junge Team ordnet und gerade dann zusammenhält, wenn der Mannschaft eine Partie zu entgleiten droht. Daniel Didavi könnte von der Erfahrung her ein Spieler sein, der dem VfB Struktur verleiht, doch seine bisherigen Leistungen lassen daran zweifeln, ob er dazu in der Lage ist.
Von einer Fehlplanung will Mislintat aber nichts wissen: „Die Grundsubstanz der Mannschaft ist top, das Trainerteam ist top“, sagt der Sportdirektor und mahnt zur Ruhe. „Wir halten weiter zusammen.“Dass nun der Ton rauer würde, sei verständlich. Aber: „Wir können das ab.“Entscheidend sei nur der Klassenerhalt. So wie er es schon vor der Saison ausgegeben hat.