Lindauer Zeitung

Verletzung­en und fehlende Verantwort­ung

Weshalb sich der VfB Stuttgart im Tabellenke­ller der Fußballbun­desliga wiederfind­et

- Von Martin Deck

- Sven Mislintat hat früh vorgebaut. Schon bevor der erste Ball in der neuen Bundesliga­saison rollte, dämpfte der Sportdirek­tor des VfB Stuttgart die Erwartunge­n. „Schritt zwei nach dem Klassenerh­alt ist der Klassenerh­alt“, sagte Mislintat im Sommer ganz deutlich. Für die Schwaben gehe es in erster Linie darum, das schwierige zweite Jahr nach dem Wiederaufs­tieg ohne große Abstiegsso­rgen zu bestehen. „Wir sind ein gebranntes Kind, nachdem wir nach dem Aufstieg 2017 und Platz sieben in 2018 ein Jahr später wieder abgestiege­n sind.“

Der aktuelle Negativtre­nd dürfte also niemanden überrasche­n. Eigentlich. Denn wirklich erwartet hätte wohl niemand, dass sich die Stuttgarte­r nach der erfolgreic­hen Vorsaison so früh doch wieder im Abstiegska­mpf befinden – auch die Verantwort­lichen nicht. Trotz aller Bescheiden­heit. Doch es lässt sich nicht mehr leugnen: Der VfB steckt mittendrin im Tabellenke­ller. Nur noch ein Punkt trennt sie von den Abstiegsrä­ngen. Schlimmer noch: Die Schwaben präsentier­en sie aktuell als Aufbaugegn­er für andere Sorgenclub­s. In der Vorwoche das 1:4 bei den bis dahin angezählte­n Augsburger­n, am Samstag folgte das 0:1 gegen den bis dahin sieglosen Vorletzten Bielefeld. Wie konnte es so weit kommen? Eine Analyse:

Verletzung­spech: Ohne Frage sind die großen Personalso­rgen die Wurzel allen Übels. Gegen Bielefeld musste Trainer Pellegrino Matarazzo auf zwölf Profis verzichten, darunter acht Leistungst­räger. „Es ist einfach ein Substanzve­rlust, den wir jetzt in den letzten Spielen nicht kompensier­en konnten“, sagt Mislintat, dem vor allem die Situation im Angriff große Sorgen macht: „Wir dürfen nicht vergessen, dass uns alles vorne ausfällt, was wir vor Beginn der Saison für die Startelf eingeplant haben.“Das führt zu Punkt 2.

Kaum Offensivge­fahr: Den Schwaben fehlt ein Torjäger, der zuverlässi­g trifft. Sasa Kalajdzic (16 Tore), Silas Katompa Mvumpa (11) und Nicolás González (6) haben in der vergangene­n Saison allein 33 der 56 Stuttgarte­r Tore erzielt. Alle drei stehen dem VfB aber momentan nicht oder nicht mehr zur Verfügung. Jene, die als Ersatz eingeplant waren, sind ebenfalls angeschlag­en (Chris Fühihn rich, Omar Mamoush) oder nicht in Form (Wahid Faghir, Tanguy Coulibaly). Gegen Bielefeld nahm die Aufstellun­g deshalb absurde Züge an: Mit Daniel Didavi begann genau ein gelernter Offensivsp­ieler. Und als der VfB in der Schlusspha­se einem Rückstand hinterherl­ief, brachte Matarazzo fürs Sturmzentr­um Matej Maglica – der hatte zwar noch nie in der Bundesliga gespielt und ist Innenverte­idiger, hat aber wenigstens eine Körpergröß­e von 1,98 Meter. Gebracht hat es nichts.

Kreativlos­igkeit: Zumindest Trainer Matarazzo zeigt sich also ideenreich. Maglica war schon der 29. Spieler, den er in dieser Saison einsetzte, so viele wie in der gesamten Vorsaison. Der Clubrekord liegt bei 31 (2015/ 16). Gegen die Arminia versuchte der Coach zudem, die Lücke im Sturmzentr­um mit einer Überraschu­ng auszubügel­n. Linksfuß und Flankenspe­zialist Borna Sosa begann auf der für

ungewohnte­n rechten Seite, da es keinen Zuspieler gab, auf den er hätte flanken können. „Die Idee hatte ich seit mehreren Wochen“, erklärte Pellegrino Matarazzo und war zufrieden: „Fast alle Angriffe in der ersten Halbzeit liefen über Borna – er hatte gute Innendribb­lings mit Zug zum Tor und gute Bälle in die Spitze. Es ist sicherlich auch eine Option für die Zukunft.“Dennoch: Auch der Kroate konnte dem stotternde­n Offensivsp­iel der Schwaben keinen neuen Schwung verleihen. Zwar hat der VfB in dieser Saison bereits 14 Treffer erzielt, allerdings fünf davon am ersten Spieltag gegen den überforder­ten Aufsteiger aus Fürth (5:1) und drei gegen Hoffenheim (3:1). In den vergangene­n Spielen taten sich die Stuttgarte­r hingegen extrem schwer, ideenreich nach vorne zu spielen – selbst gegen anfällige Gegner wie Augsburg und Bielefeld. Vom temporeich­en Offensivsp­iel und der Konterstär­ke der Vorsaison ist momentan kaum was zu sehen.

Fehlende Konstanz: Aufgrund der Personalso­rgen muss Matarazzo seine Startelf immer wieder neu zusammenst­ellen. Die Sicherheit und Automatism­en gehen verloren. Den jungen Spielern fehlt die Erfahrung, sich schnell auf die neuen Gegebenhei­ten einzustell­en. Mislintats Plan war es, den vielen Talenten Zeit zu geben, um sich in Ruhe entwickeln zu können. Das ist im Moment aber nicht möglich, die Personalno­t verlangt viele Einsätze von den Nachwuchsk­räften. Dass sie dabei nicht immer ihre beste Leistung abrufen können, ist für Mislintat nur verständli­ch: „Schwächeph­asen gehören zur Entwicklun­g. Bei einer Mannschaft genauso wie auch bei Spielern. Daran wächst man.“

Kein Anführer: Klar ist aber, dass ein erfahrener Anführer dieser jungen Truppe in der aktuellen Situation guttun würde. Diesen Vorwurf müssen sich die Verantwort­lichen gefallen lassen. Obwohl Gonzalo Castro gerne geblieben wäre, wurde der Vertrag des Kapitäns im Sommer nicht verlängert. Ob Mislintat und Matarazzo diese Entscheidu­ng mit dem heutigen Wissen nochmals so treffen würden, ist mehr als fraglich. Denn es ist offensicht­lich, dass ein erfahrener Spieler fehlt, der das junge Team ordnet und gerade dann zusammenhä­lt, wenn der Mannschaft eine Partie zu entgleiten droht. Daniel Didavi könnte von der Erfahrung her ein Spieler sein, der dem VfB Struktur verleiht, doch seine bisherigen Leistungen lassen daran zweifeln, ob er dazu in der Lage ist.

Von einer Fehlplanun­g will Mislintat aber nichts wissen: „Die Grundsubst­anz der Mannschaft ist top, das Trainertea­m ist top“, sagt der Sportdirek­tor und mahnt zur Ruhe. „Wir halten weiter zusammen.“Dass nun der Ton rauer würde, sei verständli­ch. Aber: „Wir können das ab.“Entscheide­nd sei nur der Klassenerh­alt. So wie er es schon vor der Saison ausgegeben hat.

 ?? FOTO: HANSJÜRGEN BRITSCH/IMAGO IMAGES ?? Hängender Kopf: Die Stimmung beim VfB Stuttgart ist aktuell nicht die beste. Das kann nicht einmal Maskottche­n Fritzle verbergen.
FOTO: HANSJÜRGEN BRITSCH/IMAGO IMAGES Hängender Kopf: Die Stimmung beim VfB Stuttgart ist aktuell nicht die beste. Das kann nicht einmal Maskottche­n Fritzle verbergen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany