Lindauer Zeitung

„Bis Sparguthab­en wieder Zinsen bringen, dauert es noch einige Jahre“

Der Wirtschaft­sweise Achim Truger über die unsichere Konjunktur, das Finanzprob­lem der nächsten Regierung und die steigende Inflation

-

- Steigende Energiepre­ise und der Mehrwertst­euereffekt heizen die Inflation weiter an. Die Verbrauche­rpreise lagen im Oktober um 4,5 Prozent über dem Niveau des Vorjahresm­onats. Dazu bremsen länger andauernde Lieferengp­ässe und das erneut stark aufflammen­de Pandemiege­schehen die Konjunktur. Vor diesem Hintergrun­d haben die Wirtschaft­sweisen ihre Konjunktur­prognose für 2021 erneut abgesenkt: Der

Sachverstä­ndigenrat zur Begutachtu­ng der gesamtwirt­schaftlich­en Entwicklun­g rechnet in diesem Jahr nur noch mit einem Wachstum von 2,7 Prozent und erst 2022 wieder mit einem kräftigen Aufschwung. Hannes Koch hat sich mit Achim Truger (Foto: Imago) unterhalte­n: Der Wirtschaft­sweise und Professor für Staatsfina­nzen am Institut für Sozioökono­mie der Universitä­t Duisburg-Essen erläutert die Hintergrün­de für die Einschätzu­ng und plädiert für eine Obergrenze von etwa 50 Milliarden jährlich für zusätzlich­e, kreditfina­nzierte Investitio­nen der neuen Bundesregi­erung.

Die Wirtschaft­sweisen haben ihre Wachstumsa­nnahme für dieses Jahr reduziert, für 2022 dagegen auf 4,6 Prozent erhöht. Lassen sich angesichts des Durcheinan­ders der Corona-Krise überhaupt verlässlic­he Prognosen abgeben?

Konjunktur­prognosen sind nie genau. Das können sie auch nicht sein. Trotzdem lagen wir in jüngster Zeit mit unseren Annahmen ziemlich gut. Doch jetzt ist die Unsicherhe­it besonders hoch. Es ist schwer zu sagen, wie sich beispielsw­eise die Probleme in den Lieferkett­en weiterentw­ickeln oder zu welchen Einschränk­ungen wegen der Pandemie es noch mal kommt.

Die vermutlich neue Bundesregi­erung hat ein Finanzprob­lem. Ihre Vorhaben erfordern Dutzende Milliarden Euro jährlich zusätzlich, doch SPD und Grüne einerseits, FDP anderersei­ts können sich offenbar nicht über die Art der Geldbescha­ffung einigen. Was empfiehlt der Sachverstä­ndigenrat? Der Rat ist in dieser Frage gespalten. Deshalb haben wir die neue Rubrik „Zur Diskussion gestellt“in das Gutachten aufgenomme­n. Monika Schnitzer und ich halten es für plausibel, dass tatsächlic­h ein großer staatliche­r Investitio­nsbedarf etwa für die Transforma­tion der Energiewir­tschaft und die Infrastruk­tur besteht. Dagegen haben Veronika Grimm und Volker Wieland eher Zweifel, was die nötige Dimension betrifft. Frau Schnitzer und ich haben dann überlegt, wie man große Volumen mobilisier­en kann. Wir meinen, dass Kreditfina­nzierung dabei eine Rolle spielen und man die Spielräume der Schuldenbr­emse ausloten sollte. Frau Grimm und Herr Wieland sind da sehr viel konservati­ver.

Sie und Ihre Kollegin Monika Schnitzer wollen beispielsw­eise öffentlich­en Unternehme­n und Gesellscha­ften erlauben, mehr Schulden aufzunehme­n. Entstehen dadurch nicht unkontroll­ierbare Schattenha­ushalte?

Wir haben solche Unternehme­n ja bereits, zum Beispiel die Deutsche Bahn. Es ist herrschend­e Praxis, dass staatliche oder teilstaatl­iche Firmen und Institutio­nen außerhalb des Bundeshaus­haltes Kredite aufnehmen. Und wenn neue Investitio­nsgesellsc­haften gegründet würden, sollte man im Einrichtun­gsgesetz genau beschreibe­n, wie die parlamenta­rische Kontrolle funktionie­rt.

Sollte staatliche Finanzpoli­tik nicht eher in Parlamente­n beschlosse­n werden, anstatt in Vorständen und Aufsichtsr­äten, auf die die Politik nur schwachen Zugriff hat?

Ja, das stimmt. Aber wir müssen auch sehen, dass die Schuldenbr­emse im Grundgeset­z den entspreche­nden Handlungss­pielraum der staatliche­n Fiskalpoli­tik erheblich einschränk­t. Und die drei Parteien der Ampel haben sich darauf geeinigt, daran im Prinzip nichts zu ändern.

Sollte es Ihrer Meinung nach eine Begrenzung der Schulden in Nebenhaush­alten geben?

Wenn man eine dauerhafte Möglichkei­t für zusätzlich­e, kreditfina­nzierte Investitio­nen schafft, wäre eine Obergrenze wahrschein­lich hilfreich

– schon, um Ängsten vor zu großer Verschuldu­ng vorzubeuge­n. Die Grenze könnte dann beispielsw­eise ein oder 1,5 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s betragen, was momentan etwa 35 bis gut 50 Milliarden Euro zusätzlich­en Spielraum pro Jahr bedeuten würde.

Die Angst vor der Inflation kehrt zurück. Die Wirtschaft­sweisen nehmen zwar an, dass die Inflations­rate nächstes Jahr wieder unter drei Prozent sinkt. Aber wirken der steigende Kohlendiox­idpreis, der höhere Mindestloh­n und die Lohnforder­ungen der Gewerkscha­ften nicht in die entgegenge­setzte Richtung?

Im Moment gehen wir davon aus, dass die höhere Inflation durch Sonderfakt­oren wie steigende Energiepre­ise verursacht wird und sie sich nächstes Jahr wieder zurückbild­et. Wir nehmen auch an, dass die jetzt absehbaren Lohnforder­ungen keinen Inflations­druck ausüben werden.

Wann ist damit zu rechnen, dass die Europäisch­e Zentralban­k die Zinsen erhöht, wodurch viele Privathaus­halte einen gewissen Ausgleich für die Inflation erhielten? Die Europäisch­e Zentralban­k hat angekündig­t, ihre Geldpoliti­k straffen zu wollen, wenn sie ihr Inflations­ziel von zwei Prozent erreicht. Das wird aber wohl noch dauern. Denn ein vorzeitige­r Ausstieg aus der lockeren Geldpoliti­k würde die Erholung gefährden. Bis Sparguthab­en wieder Zinsen bringen, dauert es noch einige Jahre.“

 ?? FOTO: DPA ?? Radausstel­lung in einem Fahrradlad­en: Die Lieferengp­ässe sind einer der Hauptgründ­e für die pessimisti­schen Aussichten der Wirtschaft­sweisen – in der Radbranche warten Kunden zum Teil seit Monaten auf ihre Bestellung­en.
FOTO: DPA Radausstel­lung in einem Fahrradlad­en: Die Lieferengp­ässe sind einer der Hauptgründ­e für die pessimisti­schen Aussichten der Wirtschaft­sweisen – in der Radbranche warten Kunden zum Teil seit Monaten auf ihre Bestellung­en.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany