Das Ende der Wasserdampffahne
In einem Jahr soll in Neckarwestheim das letzte baden-württembergische Atomkraftwerk vom Netz gehen – Andere Staaten arbeiten am Ausbau der nuklearen Stromerzeugung
- Unten fließt der Neckar üblicherweise friedlich durch sein Tal, droben auf Muschelkalkfels thront das ummauerte altwürttembergische Städtchen Marbach. Es hat seinen Friedrich Schiller, den Nationaldichter, der zufälligerweise hier geboren wurde. Auf Steillagen wächst ein brauchbarer Trollinger, der am liebsten vor Ort getrunken wird.
So beschaulich kann eine Geschichte über Atomkraft, deren Ende oder mögliche Zukunft beginnen. Denn Marbach ist tangiert. Zum örtlichen Ambiente gehört nämlich auch eine riesige weiße Wolke, die nach Norden hin am Horizont steht: die Wasserdampffahne des Atomkraftwerks Neckarwestheim, bloß 13 Kilometer Luftlinie weg.
Selbst für die mittelalte Generation der Marbacher war sie praktisch immer da – von den einen einfach wahrgenommen, von anderen als ewige Bedrohung empfunden. Nun läuft aber die Zeit des Kraftwerks ab. Beim ersten Reaktor erfolgt schon der Abbau. Ein Jahr noch, dann wird auch der zweite Reaktor abgeschaltet: Atomausstieg, das Ende des letzten noch in BadenWürttemberg betriebenen Nuklearmeilers.
„Gott sei Dank“, scheint die Mehrheitsmeinung bei Gesprächen mit Einheimischen zu sein – zumal Alteingesessenen gut bekannt ist, dass entlang mancher Straße die eine Seite noch Jodtabletten im
Falle einer nuklearen Havarie bekommen hat, die andere Seite jedoch nicht. Der amtliche Grund dafür: Angeblich reichten ein paar Meter mehr Distanz zum Atomkraftwerk, um aus der Risikozone heraus zu sein.
Nun ist die in Marbach spürbare Freude über das absehbare Ende des atomaren Kraftwerksbetriebs heutzutage eine höchst erwartbare Haltung – sozusagen politisch korrekt. Zudem haben die Bürger der Stadt außer unkonkreten Stromlieferungen und der Wasserdampfwolke nie etwas wirklich Fassbares vom nuklearen Betrieb gehabt.
Geht man hingegen ganz dicht an den in einen alten Steinbruch am Neckar hineingebauten Riesenkomplex heran, ist dies durchaus anders. Die 4000-Seelen-Gemeinde Neckarwestheim konnte sich über die vom Kraftwerksbetreiber EnBW erhaltenen Gewerbesteuern fast die Provinz vergolden lassen.
Selbst als ein früherer Bürgermeister in den 1990er-Jahren über 40 Millionen Mark Gemeindevermögen in dubiosen Anlagen verschleuderte, war der Ort weit von der Pleite entfernt. Des Weiteren bot das Kraftwerk zahlreiche Arbeitsplätze. Im Großen und Ganzen hatte die Bürgerschaft deshalb wenig Probleme mit der Anlage. „Eine Bürgerinitiative gegen das Atomkraftwerk gibt es in Neckarwestheim nicht. Solche Organisationen
kommen alle von anderswoher“, bestätigt der heutige Bürgermeister Jochen Winkler.
Natürlich, sagt Winkler, habe es speziell in jüngerer Zeit auch etwas böses Blut gegeben – etwa dadurch, dass Kavernen auf dem Kraftwerksgebiet für ein Zwischenlager hergenommen worden seien. Die ungeklärte Frage, wo der strahlende Abfall aus den Castorbehältern irgendwann einmal final hinkommen soll, treibe seine Bürger immer mal wieder um.
Laut Winkler besonders heikel für die Gefühlslage der Einheimischen: das Deponieren von ortsfremden Material, in diesem Fall aus dem nahen, neckarabwärts gelegenen Obrigheim, wo der Abriss eines Atomkraftwerks schon weit fortgeschritten ist. „Das kann eigentlich nicht unsere Sache sein“, betont er.
Als Aufreger wird in Neckarwestheim auch empfunden, dass an Heizungsrohren der Dampferzeuger im Kraftwerk immer mal wieder Risse auftauchen. „Aber ansonsten ist der Betrieb akzeptiert“, berichtet Winkler. Nach seiner Feststellung wird „der Anlage eher nachgetrauert“. Zumindest was die Gemeindefinanzen angeht, ist es bei ihm dasselbe. „Die goldenen Zeiten sind vorbei“, bedauert er.
In mancher der hier üblichen rustikalen Besenwirtschaften für den privaten Weinverkauf der Winzer lassen sich beim ländlichen Publikum noch zusätzliche Ansichten für das Nachtrauern vernehmen. Die deutschen Atomkraftwerke seien ja so gut gepflegt, heißt es aus Zechermündern unbeeindruckt von den Nuklearkatastrophen in Fukushima oder Tschernobyl. Die hiesigen Meiler könnten ruhig weiterlaufen. Was besser sei als bei einem angenommenen Strommangel Atomenergie aus dem Ausland zu importieren. Schließlich wisse man ja nicht, in welchem Zustand die dortigen Meiler seien.
Nun sind die Viertelesschlotzer rund um Neckarwestheim mit solchen nuklearfreundlichen Meinungen nicht alleine. Im Gegenteil, es gibt sogar hochkarätige Unterstützung. Wobei es da weniger um Reinlichkeit, Wartung oder deutsche Ingenieursleistungen in Atomanlagen geht. Selbst die einst gerne in die Diskussion eingeführte Befürchtung einer Stromversorgungslücke beim Atomausstieg ist in den Hintergrund gerückt – vielleicht, weil sie offenbar nach Berechnungen der Energieversorger unter anderem durch mehr Einsatz von Gaskraftwerken geschlossen werden kann. Dafür wird sehr modern und aktuell die Klimapolitik zugunsten der gegenwärtig bundesweit noch sechs betriebenen Reaktoren bemüht.
Dies tut etwa der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn, von 1999 bis 2016 Präsident des renommierten ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Seine Meinung: Ohne Atomkraft könne Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen. VW-Chef Herbert Diess glaubt, das Klima ließe sich leichter retten, wenn zuerst aus der anerkannt dreckigen Kohleverstromung ausgestiegen werde – und dann erst aus der Atomkraft.
Ähnlich hat sich auch Ex-CDUSpitzenkandidat Armin Laschet geäußert. In seiner Partei gibt es sogar Leute, die noch etwas drauflegen: beispielsweise aus der sehr konservativen Gruppe Werteunion. Ihr war der 2011 nach Fukushima beschlossene Atomausstieg schon immer ein Dorn im Auge. Sie wittert „eine irrationale und technikfeindliche Haltung“.
Selbst im momentan auf Marketingdeutsch als „The Länd“titulierten Ländle existiert ein exponierter Mensch, der einen freundlicheren Umgang mit der Kernenergie in Betracht zieht: Landwirtschaftsminister Peter Hauk. Atomkraftwerke könnten zugunsten einens Endes der Braunkohle länger laufen, hat der CDU-Politiker schon vor Jahren als Strategie zur Klimaschonung vorgeschlagen.
Diese Argumentation hat offenbar selbst weitere Bevölkerungskreise erreicht. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag von Nuklearia und des Deutschen Arbeitgeberverbands ergab vor einigen Monaten, dass sich 47 Prozent der Befragten Atomstrom im Dienste des Klimaschutzes vorstellen können.
Klar ist, dass solche Standpunkte wiederum speziell die Grünen schäumen lassen. Immerhin sind sie vom jahrzehntelangen Kampf gegen die von ihnen verhasste Atomkraft geprägt. Eine Laufzeitverlängerung geht gar nicht, kann noch als harmloseste Entgegnung von dieser Seite betrachtet werden. Interessanterweise scheinen aber auch die einstigen Großprofiteure der nuklearen Stromerzeugung nichts von einem weiteren Benutzen ihrer Reaktoren wissen zu wollen.
So hat die EnBW als Betreiberin von Neckarwestheim längst mit einem nüchternen Pressestatement auf entsprechende Ansinnen reagiert. Kurzum wird bedeutet: „Der Ausstieg aus der Kernenergie ist im Jahr 2011 im politischen und gesellschaftlichen Konsens beschlossen worden und gesetzlich klar geregelt.“Worauf von der EnBW der Weg für den Rückbau der Werke bereitet worden sei. Die Nutzung der Kernenergie für die Stromproduktion habe sich damit in Deutschland erledigt.
Aber anderswo? Im Ausland? Dort eben nicht. Erst Anfang November hat der französische Präsident Emmanuel Macron in einer TV-Ansprache verkündet: „Um Frankreichs Energieunabhängigkeit zu gewährleisten, die Stromversorgung unseres Landes zu sichern und unser Ziel der Kohlenstoffneutralität im Jahr 2050 zu erreichen, werden wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Errichtung von Kernreaktoren in unserem Land wiederaufnehmen.“Eine Mitteilung, die von der französischen Öffentlichkeit gänzlich unaufgeregt aufgenommen wurde.
Zusammen mit Polen und sechs weiteren osteuropäischen Ländern drängt Frankreich die EU-Kommission sogar darauf, Atomstrom als nachhaltig anzuerkennen. Sollte dies geschehen, hätten Kernkraftwerke praktisch ein Ökosiegel. Die Befürworter verweisen gerne darauf, dass bei der atomaren Erzeugung von Strom praktisch kein CO2 ausgestoßen werde, der gefürchtete Klimakiller also wegfalle.
Das Umweltbundesamt schiebt bei dieser Argumentation aber nach, dass die so erzeugte Energie auch nicht komplett klimaneutral produziert werde. Das CO2 falle anderswo an: beim Bau der Kraftwerke durch große Mengen Beton und Stahl, beim Uranabbau und bei der Endlagerung.
Wobei das Umweltbundesamt hier wohl noch in den Kategorien der alten Großkraftwerke denkt. Nuklearbegeisterte fühlen sich bei der Diskussion technisch bereits auf einer anderen Ebene. An diesem Punkt kommt der Name des US-Milliardärs Bill Gates ins Spiel. Er gilt als einer der führenden Vorantreiber für kleine, in Modulen gefertigte Reaktoren, abgekürzt SMR genannt. Worin er auch investiert. Die Mini-Atomkraftwerke seien sauber, kostengünstig und risikolos. Bei einer Panne würde kaum mehr als das Betriebsgelände verseucht.
Eine solche Anlage arbeitet sogar schon. Es handelt sich um das schwimmende russische Kraftwerk Akademik Lomonossow. Es versorgt seit Kurzem die Stadt Pewek in Sibirien mit Strom. Russlands Präsident Wladimir Putin ist erfreut. Jenseits des Atlantiks sieht aber auch US-Präsident Joe Biden in den Kleinst-Meilern eine Chance für die Klimarettung. Das Problem: Um tatsächliche Effekte zu erzielen, wären Unmengen von ihnen nötig. „Zehntausende“, schätzt Christoph Pistner, Nuklearexperte beim Darmstädter Öko-Institut, in einer Veröffentlichung. Also für jede große Stadt ein eigenes Atomkraftwerk? „Völlig unrealistisch“, kommentiert der Wissenschaftler. Nur zum Vergleich: Gegenwärtig existieren weltweit rund 400 nukleare Großkraftwerke.
Immerhin mögen aber einige der mit den Kleinstreaktoren verbundenen Ansätze interessant klingen. So treibt etwa China die Entwicklung von sogenannten Thorium-Meilern voran. Salopp gesagt handelt es sich dabei um Reaktorkonzepte mit Salzschmelze, eine theoretisch schon lang bekannte Technik, bei der anerkannterweise ein atomarer GAU ausgeschlossen ist. Dumm nur, dass dabei waffenfähiges Uran entsteht und die Endlagerung heikler ist als bei klassischen Brennstäben.
Weshalb letztlich die Fusionstechnik verlockender wirkt. Sie basiert auf dem Verschmelzen von Wasserstoffatomen. Ein Explodieren wie bei Uran-Meilern ist nicht möglich. Zudem besitzt der Brennstoff Tritium im Gegensatz zu Uran oder Plutonium eine fast schon sensationell kurze Halbwertszeit von gerade mal 12,3 Jahren.
Global wird fieberhaft an diesen Konzepten geforscht. Selbst eher nuklear unverdächtige Länder wie Kanada sind tätig. In Deutschland gilt Karlsruhe als Forschungshochburg. Dort ist das ehemalige Kernforschungszentrum in das Karlsruher Institut für Technologie übergegangen. Insgesamt gesehen haben aber alle Ansätze einen entscheidenden Malus wie das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung schreibt: „Keine der diskutierten Technologien ist derzeit und absehbar am Markt verfügbar.“Simpel ausgedrückt: Für die aktuelle Energiewende stehen sie nicht zur Verfügung. Ob aus ihnen je etwas wird, weiß nur der liebe Gott.
Wobei das besagte Bundesamt eines verwundert feststellt: So würden diese Technologien „mit ähnlichen Versprechen wie zu den Reaktoren in den 1950er- und 1960er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts angepriesen“. Also als Lösung aller Probleme der Energieversorgung. Dies war damals auch im Umfeld von Neckarwestheim so gewesen. Die Lichter sollten nie mehr ausgehen, wurde den Bürgern von der konservativen Landesregierung unter Ministerpräsident Hans Filbinger versprochen.
Inzwischen ist viel Wasser den Neckar hinuntergeflossen. Ab 2022 muss es auch nicht mehr zur Reaktorkühlung benutzt werden. Die Wasserdampfwolke wird Geschichte. Hierzu gibt es zwei dokumentierte Zitate, eines davon registriert in einer Gaststätte bei Neckarwestheim. „Dann fehlt mir die Orientierung“, lautet es launig dahergesagt. Das andere stammt aus dem nahen Marbach. „Dann weiß ich nicht mehr, wo Norden ist.“Indes stellt die Gemeinde Neckarwestheim ihren Kompass auf eine nachnukleare Nutzung des Kraftwerksgeländes – irgendetwas Gewerbliches heißt es, jedenfalls ohne Atom. Dies sei vorbei. Erst einmal muss aber rund 20 Jahre lang der bestehende Komplex abgerissen werden.
Neckarwestheims Bürgermeister
Jochen Winkler