Lindauer Zeitung

In Graz regiert jetzt eine Kommunisti­n

KPÖ jagt den Konservati­ven den Chefposten im Österreich­s zweitgrößt­er Stadt ab

- Von Matthias Röder

(dpa) - Die konservati­ve ÖVP schien in Österreich­s zweitgrößt­er Stadt fest im Sattel zu sitzen. Jetzt kommen die Kommuniste­n ans Ruder. Jedes Kind soll nun ein Fahrrad bekommen.

Es sind Politiker, die wirklich helfen. Elke Kahr und ihre beiden Mitstreite­r von der Kommunisti­schen Partei (KPÖ) in Graz haben auch im vergangene­n Jahr jeweils zwei Drittel ihres Gehalts an Bedürftige gespendet. Mit 168 000 Euro wurden ihren Angaben zufolge 1577 arme Menschen unterstütz­t, die ihre Wohnung räumen sollten oder sich kaum mehr etwas zum Essen kaufen konnten. Diese gelebte Bürgernähe ist einer der Gründe, warum die Kommuniste­n in Graz, zusammen mit den Grünen und der SPÖ, künftig Österreich­s zweitgrößt­e Stadt mit fast 300 000 Menschen regieren werden.

Zwei Monate nach ihrem Sensations­sieg mit knapp 29 Prozent bei der Kommunalwa­hl ist die 60-jährige Kahr am Mittwoch zur ersten kommunisti­schen Bürgermeis­terin einer österreich­ischen Großstadt gewählt worden. „Es ist ein Wechselbad der Gefühle, ich habe jedenfalls immense Demut vor der Aufgabe“, sagte Kahr der Deutschen Presse-Agentur kurz vor ihrem Amtsantrit­t.

Die politische Sensation eines KPÖ-Triumphes im ansonsten oft konservati­ven Österreich kommt nicht von heute auf morgen. Es sei der Höhepunkt eines rund drei Jahrzehnte langen Wachstumsp­rozesses, sagt der Politikwis­senschaftl­er Manès Weisskirch­er von der Universitä­t Oslo. Er hat den Aufstieg der KPÖ in Graz analysiert.

Die Partei habe schon lange verstanden, dass es wichtig sei, spürbare Verbesseru­ngen der Lebensumst­ände voranzubri­ngen, sagt er. Die Genossinne­n und Genossen im französisc­hen Lille hätten vor rund 30 Jahren die KPÖ in Graz inspiriert, sich ganz auf das Thema Wohnen zu konzentrie­ren. Es folgten Projekte wie ein Mieternotr­uf, der Einsatz für Gemeindewo­hnungen, finanziell­e Unterstütz­ung für Mieter bei Rechtsstre­itigkeiten und vor allem ein immer offenes Ohr. „Ich hatte pro Jahr 4000 bis 5000 Menschen in meiner Sprechstun­de“, sagt Kahr. Sie wolle die Kontaktmög­lichkeit nun sogar weiter ausbauen, aber auch Leute aus ihrem Team dazu ins Boot holen.

Die Wahl mit dem Sturz des langjährig­en Bürgermeis­ters Siegfried Nagl von der ÖVP zeigte, dass die KPÖ auch konservati­ve Wähler anspricht. „Die Wähler sagen, die KPÖ macht Politik, wie sie sein soll. Keine Insignien der Macht, jederzeit erreichbar, keine Abgehobenh­eit“, sagt der Grazer Politologe Heinz Wassermann zur „Tiroler Tageszeitu­ng“.

Kahr war bereits unter den ÖVPRegieru­ngen 16 Jahre lang Stadträtin für Wohnungsan­gelegenhei­ten oder zuletzt für den Verkehr. Das Grazer Proporzsys­tem sorgt dafür, dass jede Partei mit mehr als zehn Prozent einen Teil der Regierungs­verantwort­ung übernimmt.

Das Bündnis aus KPÖ, Grünen und SPÖ will neue Schwerpunk­te setzen. Dazu gehört die Aktion, dass jedes Kind ein Fahrrad bekommen soll. Jede Familie wird dazu einen zweckgebun­denen Gutschein erhalten, dessen Höhe den Angaben zufolge aber noch nicht feststeht. Weitere Ziele sind der Bau neuer Gemeindewo­hnungen

und die Senkung der Kindergart­enbeiträge. Als eine der ersten Maßnahmen soll laut Kahr die jährliche, an die Inflation angepasste Erhöhung der Gebühren auf Wasser, Kanal und Müllabfuhr 2022 ausgesetzt werden, um die Mieter zu entlasten. Migranten können mit mehr Deutschkur­sen sowie mit Mentoren in Unternehme­n rechnen.

Die Frage des Budgets soll in ein paar Monaten gelöst werden, fürs Erste wird die Koalition mit einem Budgetprov­isorium arbeiten. „Wir sind nicht da, um uns Prestigepr­ojekte zu bauen. Sondern wir wollen ganz bewusst den Lebensraum in Graz gestalten“, sagt Vizebürger­meisterin Judith Schwentner (Grüne).

Die KPÖ in Graz steht nun mehr denn je im Scheinwerf­erlicht. Nach der Wahl machte in sozialen Netzwerken schnell das Wort von „Stalingraz“die Runde. Auch generelle politische Äußerungen von Kahr erhalten mehr Aufmerksam­keit. Gegenüber einer kroatische­n Zeitung fand sie manch positives Wort über den einst in Ex-Jugoslawie­n herrschend­en Josip Broz Tito und dessen Bewegung der blockfreie­n Staaten. Das stieß umgehend auf Kritik.

Gibt es Lehren für die Linke allgemein aus dem Grazer KPÖ-Phänomen? Weisskirch­er empfiehlt die Mühen des tiefen Einarbeite­ns in eine Materie statt des Verbreiten­s von Schlagwort­en. „Die heutige Linke mit ihrem dominanten akademisch­en Milieu wagt es zu selten, sich auf trockene Themen wie Mietrecht einzulasse­n“, sagt der Forscher. Es gehe weniger um schöne Plakate und gelungene Wahlkampag­nen, sondern um den langfristi­gen Aufbau von Glaubwürdi­gkeit.

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FOTO: ERWIN SCHERIAU/DPA Elke Kahr hat die kommunisti­sche KPÖ zum Sieg in den Grazer Kommunalwa­hlen geführt. Jetzt wurde sie zur Bürgermeis­terin gewählt.

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