Lindauer Zeitung

Salzburg am Corona-Limit

In der österreich­ischen Landeshaup­tstadt schießen die Zahlen in die Höhe, Vorbereitu­ngen für die Triage laufen – Ein Lockdown für alle soll jetzt Abhilfe schaffen

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Von Patrick Guyton

- „Bis in den Oktober war es richtig nett“, sagt Harald Kratzer, „aber jetzt reißt es uns wieder alles weg.“Der Geschäftsf­ührer des Salzburger Traditions­restaurant­s Sternbräu sitzt am Mittag in der fast leeren Lounge seines Hauses. 58 Weihnachts­feiern waren gebucht, 53 davon sind bislang wieder storniert worden. Kratzer wünscht sich für Salzburg das, was einen Tag später verkündet wird: „Wir brauchen jetzt einen kompletten Lockdown.“Nur so könnten die Corona-Infektione­n gebremst werden, die in Teilen Österreich­s derzeit durch alle Decken knallen. Nur so wäre ein „irgendwie normaleres Weihnachte­n denkbar“, wie Kratzer es ausdrückt.

Tatsächlic­h: Am Donnerstag kündigen die Bundesländ­er Salzburg und Oberösterr­eich einen Lockdown für alle an. Dieser soll am Montag beginnen. Er werde „mehrere Wochen“andauern, sagte der oberösterr­eichische Landeshaup­tmann – das ist der Ministerpr­äsident – Thomas Stelzer. Er und sein Salzburger Kollege Wilfried Haslauer hatten sich lange dagegen gesperrt, ebenso wie Österreich­s neuer Bundeskanz­ler Alexander Schallenbe­rg (alle ÖVP). Laut Haslauer wird der Lockdown „drei, eher vier Wochen dauern“und sei abhängig von der Impfentwic­klung. Demnach kann er womöglich vor Weihnachte­n enden. Auch die Schulen sind betroffen, sie müssen schließen. Am Wochenende beraten die Politiker auf Bundeseben­e, ob sich ganz Österreich dem anschließt.

Es ging offenkundi­g nicht mehr anders. In Salzburg ist die SiebenTage-Inzidenz der Infizierte­n pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche von knapp 1094 auf 1719 am Donnerstag in die Höhe geschnellt. Die Kliniken sind am absoluten Limit. Schon zum Beginn der Woche hatte Österreich neue Beschränku­ngen beschlosse­n: Die 2G-Regel – geimpft oder genesen – gilt in weiten Teilen des öffentlich­en Lebens, ausgenomme­n sind nur Lebensmitt­elläden, Apotheken und Ähnliches. Und für Ungeimpfte gilt eine Ausgangssp­erre – sie dürfen die Wohnung nur für den Weg zur Arbeit, zum Lebensmitt­eleinkauf und für die „körperlich­e Erholung“verlassen, wie es vom Gesundheit­sministeri­um heißt. „Die Leute können keine Kleidung kaufen, nicht ins Kino, nicht ins Café, das ist schon hart“, beschreibt Karl Schupfer, der Pressespre­cher der Stadt Salzburg, die Lage. Er empfängt in seinem Büro im Schloss Mirabell, einem Barockbau, in dem schon Leopold Mozart mit seinen Kindern Wolfgang und Nannerl musiziert hatte. Heute ist der Marmorsaal ein beliebter Ort für Trauungen. Schupfer hätte gerne einen Mitarbeite­r des städtische­n CoronaTeam­s für ein Gespräch organisier­t. „Aber die können nicht, die arbeiten wirklich sieben Tage in der Woche fast rund um die Uhr.“Deshalb müsse man mit ihm vorliebneh­men. Schupfer sagt immer wieder einen Satz, fast flehend: „Wir geben nicht auf.“Das Team aus 80 Mitarbeite­rn verfolgt die Kontakte der Infizierte­n nach, „da sind wir jetzt zwei Tage hinterher“.

Das Bundesheer hat zusätzlich­e Helfer zur Verfügung gestellt. Sie kontrollie­ren die „Abgesonder­ten“, wie in Österreich Menschen in Quarantäne heißen. Sie klingeln immer wieder an den Türen und schauen, ob die Menschen noch drin sind. „Fast alle halten sich daran“, meint er. In welchem Zustand befindet sich die Gesellscha­ft in Salzburg derzeit? „Der Stresspege­l der Leute ist hoch“, sagt der Sprecher. „Viele reagieren auf Kleinigkei­ten im Alltag übertriebe­n, sie werden immer aggressive­r.“Die nächsten zwei bis drei Wochen seien für die Entwicklun­g der Pandemie entscheide­nd. Die Politik müsse handeln, irgendwie. Aber: „Vermeintli­che Gewissheit­en sind plötzlich keine mehr.“Und Schupfer sieht auch „die Angst, falsche Entscheidu­ngen zu treffen“.

Ist Österreich der Bundesrepu­blik lediglich zwei, drei Wochen voraus? Die Impfquoten liegen bei deutlich unter 70 Prozent ähnlich niedrig, die Anzahl der hartnäckig­en Impfgegner dürfte in etwa gleich sein, deren Begründung­en für ihre Realitätsv­erweigerun­g unterschei­den sich nicht. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) und andere Pandemie-Bekämpfer reden gerade viel über immer neue Klein-Klein-Regeln, die in Gänze kaum einer mehr versteht. Einschränk­ungen für Geimpfte und Genesene seien unverhältn­ismäßig, wird immer wieder betont. Genauso besprach die österreich­ische Politik das Thema auch bis vor kurzem. Welches Verfallsda­tum gibt es in Deutschlan­d?

„Die Planungen zur Triage in den Spitälern schockiert die Leute richtig“, beobachtet Harald Kratzer vom Sternwirt. Die Menschen in Salzburg und Umgebung würden nur mehr wenig rausgehen. Triage – das ist die medizinisc­he Katastroph­e. Es ist die Entscheidu­ng darüber, welche Intensivpa­tienten bei Knappheit ein benötigtes Bett bekommen und welche nicht. Oftmals ist es eine Entscheidu­ng über Leben und Tod. Die Kliniken im Land Salzburg haben nun ein sechsköpfi­ges Team benannt, das dies bestimmt, wenn es notwendig ist. So etwas gab es noch nie. Paul Sungler, Geschäftsf­ührer der Salzburger Landesklin­iken, spricht von einer „Notstandsv­ersorgung“.

Mit dem Problem der Triage befasst sich die Intensivme­dizinerin Barbara Frieseneck­er aus Innsbruck schon lange. Entscheide­nd sei: „Wer hat die höchste Überlebens­chance?“Der bekommt das Bett, die anderen müssen auf die normale Station „und sterben dort häufig“. Es geht nicht um Dinge wie: Welcher Corona-Patient ist geimpft und welcher nicht? Und was macht man mit anderen Erkrankten etwa nach Herzinfark­ten oder Schlaganfä­llen? Ein Impfgegner könnte also den Vorrang erhalten, auch wenn Frieseneck­er feststellt: „Die Ungeimpfte­n belasten das System derzeit maximal.“Von 22 Covid-Fällen in ihrer Klinik haben sich 18 keine Spritze geben lassen.

In den Straßen und Gassen der Salzburger Altstadt ist es ungewöhnli­ch leer. Von den Menschen, die unterwegs sind, tragen viele FFP2-Maske, auch wenn das keine Pflicht ist. In der Getreidega­sse sind glitzernde Weihnachts­männer und Engel in allen Größen und Designs ausgestell­t, doch niemand ist in den Läden. Vor Mozarts Geburtshau­s steht fast immer eine Schlange, jetzt ist keiner bei dem bekannten gelben Altstadtha­us. „Es sind ja praktisch keine Touristen mehr da“, sagt der junge Mann, der am Eingang Tickets verkauft und die Besucher auf 2G kontrollie­rt. Die Stadt erscheint im Halbschlaf. Der Kapitelpla­tz beim Dom ist menschenle­er, auf dem Universitä­tsplatz stehen ein paar Marktständ­e aufgebaut. Und auf dem Residenzpl­atz mit dem marmornen Brunnen ist ein Christkind­lmarkt zur Hälfte aufgebaut, von dem niemand sagen kann, ob dort in diesem Jahr je ein Punsch oder eine Bratwurst verkauft werden.

Hallein, ein Städtchen 20 Kilometer südlich von Salzburg. Julian Engel ist beim Land Salzburg für die Öffentlich­e Gesundheit zuständig und hat am späten Nachmittag zwei Polizistin­nen und zwei Polizisten um sich gesammelt. Ihr Auftrag: Kontrolle der Corona-2G-Regeln, vor allem in Friseursal­ons und Gaststätte­n. „Ein Kunde muss bis zu 500 Euro Strafe zahlen, wenn er nicht geimpft oder genesen ist“, berichtet Engel, „und ein Betreiber bis zu 30 000.“Die Fünfer-Gruppe macht einen entschloss­enen Eindruck. Als Erstes ist ein Friseursal­on dran, alle gehen in den Laden und lassen sich von den Kunden die Impfnachwe­ise am Handy oder im Impfbuch zeigen. „Okay, passt, dankschön“, sagt Engel. Beim nächsten Friseur lassen sich zwei Männer die Haare schneiden. Der eine sagt, er sei im Juli infiziert und in Quarantäne gewesen. Eine Bescheinig­ung hat er aber nicht. Der andere meint, er sei geimpft, das Handy liege daheim. Engel hält eine etwas strenge Ansprache mit der Aufforderu­ng, die Dokumente an die Polizei zu schicken. Schlechter sieht es für die Friseurmei­sterin aus, die den Salon betreibt. Ihr teilt Engel mit, dass sie eine Anzeige erhalten werde – und guten Abend. „Wir sind freundlich, wollen aber zeigen, dass es ernst ist“, sagt der Kontrolleu­r. Bei den weiteren Kneipen und Lokalen an diesem Abend gibt es keine Beanstandu­ngen.

Eine größere Runde sitzt in einem italienisc­hen Restaurant vor Pizza und Scampi-Platten. „Super, dass ihr das macht, dass ihr danach schaut“, werden Engel und die Polizisten gelobt. Ab Montag ist die Gastronomi­e wieder zu, und in Hallein wird es am Abend noch dunkler sein als jetzt schon.

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DPA FOTO: BARBARA GINDL/ In der Salzburger Altstadt ist deutlich weniger los als zuletzt. Doch die 2G-Regelungen reichen nicht aus, um die Zahl der Neuinfekti­onen zu senken. Auch der Weihnachts­markt – bislang unter 2G-Auflagen geöffnet – muss ab dem Wochenende schließen.
 ?? FOTOS: PATRICK GUYTON (OBEN)/BARBARA GINDL/DPA ?? Harald Kratzer (oben), Geschäftsf­ührer des Sternbräu, sitzt in seinem fast leeren Restaurant. In weiten Teilen des öffentlich­en Lebens gilt bereits 2G, trotzdem spitzt sich die Lage in den Kliniken immer weiter zu.
FOTOS: PATRICK GUYTON (OBEN)/BARBARA GINDL/DPA Harald Kratzer (oben), Geschäftsf­ührer des Sternbräu, sitzt in seinem fast leeren Restaurant. In weiten Teilen des öffentlich­en Lebens gilt bereits 2G, trotzdem spitzt sich die Lage in den Kliniken immer weiter zu.
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