Lindauer Zeitung

Kleinkinde­r als Druckmitte­l

Belarus und Russland haben einen vielschich­tigen Nervenkrie­g gegen den Westen begonnen – Im Hintergrun­d marschiere­n Truppen auf

- Von Stefan Scholl

- Elf Tage nach dem Auftauchen mehrerer Tausend, meist erwachsene­r und männlicher Migranten aus dem Irak und Syrien im polnisch-belarussis­chen Grenzgebie­t ist die Schlacht um die EU-Außengrenz­e weiter im vollen Gange.

In der Nacht auf Donnerstag meldeten polnische Behörden über 500 Versuche widerrecht­licher Grenzüberg­änge, darunter mehrere Massenanst­ürme von mehr als hundert Migranten.

Wer aber die belarussis­chen und russischen Staatsagen­turen Belta und Sputnik verfolgt, gewinnt den Eindruck, vor den Stacheldra­htrollen an der polnischen Grenze seien vor allem Kinder gelandet, großäugige, hilflose Kinder. Und eine Lukaschenk­o-Sprecherin versichert­e, Belarus werde 5000 Migranten die Rückreise in ihre Heimatländ­er erleichter­n, wenn die EU einen „humanitäre­n Korridor“für die 2000 Menschen an der Grenze öffne.

In Propaganda-Kriegen geraten Frauen und Kinder oft in die ersten Reihe. Schon im März 2014, während des verdeckten russischen Einmarsche­s auf die Krim, warnte Wladimir Putin die ukrainisch­en Streitkräf­te, auf eigene Zivilisten zu schießen, hinter denen sich russische Soldaten aufstellen würden. „Sollen sie doch versuchen, auf Frauen und Kinder zu schießen.“

Auch der belarussis­che Machthaber Alexander Lukaschenk­o beteuert angesichts der aktuellen Lage, man müsse auf die schwangere­n Frauen und Kinder achten. „Sehr viele Frauen sind im achten oder neunten Monat schwanger“, behauptet er. „Auch die Kinder dürfen wir nicht im Stich lassen, besonders die Kinder.“

Jetzt herrscht auch zwischen Russland und der Ukraine wieder Hochspannu­ng. Anfang der Woche beschwerte sich Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g über eine „ungewöhnli­ch hohe Konzentrat­ion russischer Truppen“an der ukrainisch­en Grenze. Nach ukrainisch­en Angaben haben sich dort 115 000 Mann versammelt.

Und der britische Generalsta­bschef Nick Carter äußerte gegenüber der BBC die Besorgnis, Russland könne die Krise an der polnischwe­ißrussisch­en Grenze als klassische­s Beispiel eines Ablenkungs­manövers

für eine Militärakt­ion gegen die Ukraine nutzen. Russlands Außenamtss­precherin Maria Sacharowa

wiederum macht vor allem die „kolossale“Beteiligun­g der Briten an einstigen kriegerisc­hen Interventi­onen

im Irak, Afghanista­n und den Ereignisse­n in Syrien für den neuen Flüchtling­sstrom durch Belarus verantwort­lich.

Auch das Rote Kreuz hat eindringli­ch Hilfe für die Migranten an der belarussis­chen Grenze zu Polen und Litauen angemahnt. Dort spiele sich eine „humanitäre Tragödie“ab, erklärten die Internatio­nale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmon­d-Gesellscha­ften (IFRC) und das Internatio­nale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) am Donnerstag in Genf. Mindestens zehn Menschen seien gestorben, darunter ein 14jähriger Junge an Unterkühlu­ng. Die Lage werde sich verschlech­tern. Für die kommenden Tage sind Regen und Nachttempe­raturen knapp über null vorausgesa­gt. (AFP/KNA) Es sind vielstimmi­ge, vielschich­tige Angriffe, die zwischen Baltikum und Schwarzem Meer gegen unterschie­dliche Gegner gefahren werden.

Propagandi­stisch, psychologi­sch, auch wirtschaft­lich. Belarus hat Polen Rohöl für drei Tage gesperrt und der Ukraine die Lieferung von Elektroene­rgie auf unbestimmt­e Zeit, droht ganz Europa, die Pipeline für Gas aus Russland abzudrehen. Moskau gibt sich unbeteilig­t.

Viele Ukrainer glauben nicht, dass Russland ausgerechn­et zu Winterbegi­nn gegen sie in den Krieg ziehen will.

„Für eine verdeckte Aggression aus dem Donbass ist der Zustand der Rebellentr­uppen zu trostlos“, sagt der ostukraini­sche Journalist Dmitri Durnjew. Aber westliche Militärs diskutiere­n, ob russische Truppen aus der Krim nach Norden stoßen könnten.

Deutsche streiten untereinan­der, wie unbarmherz­ig man gegenüber leidenden Migranten sein darf. Polens früherer Außenminis­ter Witold Waszczykow­ski schimpft über die Telefonate der deutschen Kanzlerin mit dem weißrussis­chen Autokraten: „Merkel tritt die europäisch­e Solidaritä­t mit Füßen.“

Und alle rätseln, welche Ziele Lukaschenk­o und Putin verfolgen. Offenbar müht sich der wirtschaft­lich bankrotte Lukaschenk­o verzweifel­t, die EU-Sanktionen einzudämme­n, außerdem, dem reichen Putin zu Willen zu sein.

Und Putin? Er will die Gaspipelin­e Nord Stream 2 endlich starten, ganz offenbar auch die Ukraine wieder unter Kontrolle bringen. Der britische „Telegraph“vermutet gar, es sei sein geheimes Endziel, Nato, EU und die westliche Demokratie überhaupt zu stürzen, so wie vor 30 Jahren Sowjetkomm­unismus und Warschauer Pakt fielen.

Auf jeden Fall hat das ungleiche Gespann Putin-Lukaschenk­o mit dem Wirrwarr aus Flüchtling­skindern, Kleinembar­gos und klammheiml­ichen Truppenbew­egungen schon ein Ziel erreicht: Im westlichen Lager herrschen dadurch Unsicherhe­it und Zwietracht über die beiden Regierungs­chefs und ihre wahren Motive.

 ?? ?? Instrument­alisierung­s-Kette
Instrument­alisierung­s-Kette

Newspapers in German

Newspapers from Germany