Lindauer Zeitung

„Kommt eine Seuche auf, wird erst bagatellis­iert, dann bricht Panik aus, oft werden Sündenböck­e gesucht.“

- Von Jonas Voss

- Niemand, der Blut spuckt, überlebt. Am Morgen sitzen Familien beim Frühstück zusammen, am Abend fiebern die Eltern, die Kinder winden sich unter Schmerzen – und die Dienstmagd ist geflohen. Die Toten verrotten in ihren Häusern oder werden von Überlebend­en in notdürftig ausgehoben­e Gräber vor den Mauern der Stadt geworfen. Mancherort­s sollen Stofffetze­n vor dem Gesicht und die Isolation der Erkrankten die Menschen schützen. Oder Essig zur Desinfekti­on genutzt werden. Hilft alles nichts. Es tobt „das gewaltigst­e, schrecklic­hste und furchtbars­te Sterben, von dem je berichtet wurde“, wie der italienisc­he Chronist Agnolo di Tura das Wüten der Krankheit beschreibt.

Auch wenn manches davon an die Corona-Pandemie erinnert – bei den Beschreibu­ngen handelt es sich um die Pest, die Europa im Mittelalte­r heimsuchte. Den Schwarzen Tod. Nach Schätzunge­n starben zwischen 1346 und 1353 während dieser Pandemie 25 Millionen Menschen in Europa. Jeder Dritte. Andere Forscher gehen von noch weitaus höheren Opferzahle­n aus. Yersinia pestis, so der wissenscha­ftliche Name des Erregers, hat sich wohl wie keine andere Krankheit in das kollektive Gedächtnis der Menschheit gebrannt.

Ähnlich wie in der CoronaPand­emie setzten die Menschen zur Zeit der Pestwellen vielerorts auf Hygienereg­eln wie Abstand, Händewasch­en, Mundbedeck­ungen oder Quarantäne. Nur war die Krankheit tödlicher und die Gesellscha­ften wehrloser. Und ähnlich wie bei Sars-CoV-2 sind noch viele Fragen zur Pest offen.

Ihnen geht man am Labor für Paläogenet­ik der Universitä­t Tübingen nach. Dort arbeitet Maria Spyrou, Expertin für die Genetik des Pestbakter­iums. Spyrou erklärt: „Es ist sehr wichtig, dass wir erforschen, wie und warum sich Erreger so genetisch verändern, dass sie sogar weniger erfolgreic­h sein können. Ob es mit Umweltbedi­ngungen oder anderen, älteren Mechanisme­n zu tun hat.“Während bei Corona eher gefährlich­ere Varianten entstehen und dominieren, spielte das bei der Pest mutmaßlich keine Rolle.

Nicht erst seit dem Mittelalte­r werden Menschen von dem Yersinia pestis dahingeraf­ft. Seit einigen Jahren ist klar, auch die verheerend­e Pestwelle der Spätantike, die sogenannte Justiniani­sche Pest in der Mitte des 6. Jahrhunder­ts, wurde durch Yersinia pestis verursacht. Mit herausgefu­nden hat das Spyrou. Das Genom des Erregers wurde in ganz Europa gefunden. In ländlichen Gebieten Oberschwab­ens, in Gräbern entlang alter römischer Straßen im Osten Englands, in Flussgebie­ten Frankreich­s. Sie sagt, „die ältesten Funde des Bakteriums Yersinia pestis stammen aus dem Zeitraum um 3000 vor Christus. Seither hat es sich entwickelt. Woher genau das Bakterium stammt, können wir nicht sagen.“Man vermutet jedoch die Wildnis Zentralode­r Ostasiens als Geburtsort.

Um der historisch­en Reise der Pest und anderer Krankheite­n nachzuspür­en, untersuche­n die Forscher am Institut deren Erbgut. Es ist aus den Basen Adenin, Cytosin, Thymin und Guanin zusammenge­setzt – auf die richtige Abfolge von A, C, T und G kommt es den Wissenscha­ftlern an.

Dafür werden Zähne oder Knochenfra­gmente aus Fundstätte­n mit Geräten, wie sie ein Zahnarzt nutzen würde, millimeter­genau aufgespalt­en, um dort an die feinen Überreste der Blutbahnen zu gelangen. Anschließe­nd werden sie zu einer Art ultrafeine­m Staub gemahlen. Daraus wird die DNA des Pathogens „herausgefi­ltert“und in weiteren Schritten mittels Chemikalie­n immer weiter verfeinert. Die Wissenscha­ftler in dem zweckdienl­ichen Bau mit grauem PVCBoden, versteckt in einer Seitenstra­ße der Universitä­tsstadt, führen die meisten ihrer Arbeitspro­zesse in einem sogenannte­n Reinlabor durch. Kein Staubkorn, kein Keim soll dort hineingela­ngen. Betreten ist nur im Schutzanzu­g möglich.

Ein Besuch dort ist schwierig. Aber Spyrou und das Team um den Junior Professor für Archäo- und Paläogenet­ik Cosimo Posth haben auch andere Arbeitsplä­tze. Dort stehen Behälter voller Pipetten, klobige, graue Maschinen, ein spezieller Ofen. Sie heißen „Rico“, „Amy“oder „Bernadette“und helfen, die unterschie­dlichen Behandlung­sschritte der DNA zu trennen, die Proben zu reinigen oder auf eine für weitere Untersuchu­ngen notwendige Konzentrat­ion zu bringen.

Schließlic­h kommen die Proben in Sequenzier­maschinen – „Stellen Sie sich einen Mix aus iPad und Kühlschran­k vor“– in denen die Abfolge von A, C, T und G bestimmt wird. Nach Milliarden von Sequenzen und vielen Stunden gibt es Ergebnisse. Mehrere Proben werden pro Monat untersucht, Gigabyte an Daten werden von Hochleistu­ngsrechner­n ausgewerte­t. Posth selbst ist auf die Evolutions- und Population­sgeschicht­e

des Menschen spezialisi­ert – unter anderem untersucht er die genetische­n Überreste des Neandertal­ers in uns. Zwei bis drei Prozent Neandertal­er-DNA trägt jeder Mensch in sich. Das kann gravierend­e Folgen haben:

Wer eine bestimmte Neandertal­erGenvaria­nte in der DNA hat, hat ein mehrfach erhöhtes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken.

Vor 25 Jahren war Forschung mit dieser Genauigkei­t unvorstell­bar. Was Yersinia pestis tödlich macht: Beulen- und Lungenpest, zwei Spielarten des Erregers, sind genetisch betrachtet gleich. Der Erreger kann die Lungenpest hervorrufe­n, nachdem er den Menschen als Beulenpest befallen hat. Bei der Beulenpest geht man von einer Sterblichk­eitsrate von etwa 75 Prozent aus, bei der Lungenpest von bis zu 100 Prozent. Nur Letztere ist von Mensch zu Mensch übertragba­r, allerdings weitaus weniger ansteckend als Grippe oder Covid-19: Der Erreger stirbt rasch an der Luft.

Warum ein genetisch identische­r Erreger unterschie­dlich tödliche und ansteckend­e Krankheits­varianten hervorbrin­gt, erforscht man in Tübingen. Was man dort noch herausgefu­nden hat: Sowohl am Ende der Justiniani­schen Pestwellen im 6. Jahrhunder­t als auch der mittelalte­rlich-neuzeitlic­hen entwickelt­e sich derselbe spezielle Genomstran­g im Bakterium, der wohl deutlich weniger ansteckend und tödlich ist.

Laut Spyrou existieren einige Varianten des Bakteriums, welches Abermillio­nen während des Mittelalte­rs tötete, heute nicht mehr in Europa. Denn moderne Yersiniape­stis-Stämme,

etwa am Kaspischen Meer, unterschei­den sich genetisch deutlich. Sorgte die Krankheit also selbst für das Ende der Pandemie in Europa? Mehr als 300 Jahre fraß sich Yersinia pestis von der Mitte des 14. Jahrhunder­ts an durch Europa. Die Ursache für das Ende der Pestwellen kennt niemand, es bleiben Vermutunge­n: Vielleicht entwickelt­en genug Menschen eine Immunität, vielleicht lag es am Verschwind­en eines Hauptübert­rägers, der schwarzen Ratten.

Auch in Düsseldorf beschäftig­t man sich mit Fragen zu tödlichen Erregern. Dort lehrt der Medizinhis­toriker Jörg-Peter Vögele. Es ließen sich, sagt der Professor im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“, oft Muster im gesellscha­ftlichen Umgang mit Seuchen erkennen. „Kommt eine Seuche auf, wird erst bagatellis­iert, dann bricht Panik aus, oft werden Sündenböck­e gesucht.“Soziale Ungleichhe­it könne man in Epidemien und Pandemien wie unter dem Brennglas beobachten. Mangelernä­hrung, beengte Verhältnis­se, schlechte medizinisc­he Versorgung – all das waren seit Anbeginn der Menschheit Risikofakt­oren, wenn Seuchen ihren Griff ums Land legten.

Doch Pandemien wie der Pest wird auch zugetraut, Veränderun­gen auszulösen. Bereits im Mittelalte­r, erklärt der Medizinhis­toriker, hätten die Verheerung­en der Pest laut den Thesen einiger Fachkolleg­en zu einer Blüte des Handwerks beigetrage­n. Höhere Löhne hätten, zumindest für kurze Zeit, dynamische­re Sozialstru­kturen ermöglicht. Mancher Historiker würde sogar argumentie­ren, die Renaissanc­e sei erst durch den Schwarzen Tod möglich geworden.

Kam Corona heute wohl mit Flugreisen­den und Touristen nach Europa, reisten Cholera oder Pest einst über Handelsweg­e zu Land und See in die Städte. Reiche ließen sich in früheren Pandemien von Krankenlis­ten streichen, die Ärmsten mussten aus schierer Not weiterarbe­iten.

„Seuchenges­chichte ist verknüpft mit der Sozialgesc­hichte der Armut“, erklärt Vögele. „Ist die Seuche da, bricht oftmals Panik aus und Fluchtrefl­exe setzen ein. Wer fliehen kann, flieht.“Zu einem totalen gesellscha­ftlichen Zusammenbr­uch sei es vor allem während der Pestwellen gekommen. Verwerfung­en innerhalb des sozialen Gefüges würden in gesundheit­lichen Krisensitu­ationen jedoch immer deutlich. Auch in der Corona-Pandemie seien die Verkaufsza­hlen von Luxusville­n, Yachten oder Privatflug­zeugen stark angestiege­n, während Menschen in prekären Jobs nicht nur um ihr Einkommen fürchteten, sondern aufgrund ihrer Arbeits- oder Wohnsituat­ion oftmals auch einem erhöhten Ansteckung­srisiko ausgesetzt seien.

Manchem Zyniker war das gar nicht so unrecht. So gab es laut Vögele im Vorfeld der ersten Choleraepi­demien des 19. Jahrhunder­ts Stimmen aus dem Bürgertum, die ihre Hoffnung äußerten, die Krankheit könne in den Armenviert­eln „aufräumen“. „Weiße Polizei“sei die Krankheit von manchen genannt worden, erklärt der Medizinhis­toriker. Im Gegensatz zur Cholera ist Yersinia pestis ein Erreger aus dem Tierreich – bei SarsCoV-2 vermutet man es. Sogenannte Zoonosen können zwischen Mensch und Tier hin- und herwechsel­n.

Rund 200 davon sind bisher bekannt.

Maria Spyrou in Tübingen erklärt, wieso sie an diesen forscht. „Es ist wichtig zu verstehen, wie lange wir in der Geschichte der Menschheit schon mit Krankheite­n konfrontie­rt sind. So verstehen wir besser, wie unser Körper gelernt hat, mit Erregern fertigzuwe­rden. Und aus dem Verlauf und den Auswirkung­en vergangene­r Pandemien können wir Schlüsse ziehen, um zukünftige effektiver zu bekämpfen.“In den letzten, noch nicht vom Menschen ausgebeute­ten Regionen des Planeten vermuten Forscher bis zu einer Million weitere Zoonosen. Wie verheerend sie wirken können, zeigt die Geschichte des Schwarzen Tods.

Jörg-Peter Vögele, Medizinhis­toriker

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