„Kommt eine Seuche auf, wird erst bagatellisiert, dann bricht Panik aus, oft werden Sündenböcke gesucht.“
- Niemand, der Blut spuckt, überlebt. Am Morgen sitzen Familien beim Frühstück zusammen, am Abend fiebern die Eltern, die Kinder winden sich unter Schmerzen – und die Dienstmagd ist geflohen. Die Toten verrotten in ihren Häusern oder werden von Überlebenden in notdürftig ausgehobene Gräber vor den Mauern der Stadt geworfen. Mancherorts sollen Stofffetzen vor dem Gesicht und die Isolation der Erkrankten die Menschen schützen. Oder Essig zur Desinfektion genutzt werden. Hilft alles nichts. Es tobt „das gewaltigste, schrecklichste und furchtbarste Sterben, von dem je berichtet wurde“, wie der italienische Chronist Agnolo di Tura das Wüten der Krankheit beschreibt.
Auch wenn manches davon an die Corona-Pandemie erinnert – bei den Beschreibungen handelt es sich um die Pest, die Europa im Mittelalter heimsuchte. Den Schwarzen Tod. Nach Schätzungen starben zwischen 1346 und 1353 während dieser Pandemie 25 Millionen Menschen in Europa. Jeder Dritte. Andere Forscher gehen von noch weitaus höheren Opferzahlen aus. Yersinia pestis, so der wissenschaftliche Name des Erregers, hat sich wohl wie keine andere Krankheit in das kollektive Gedächtnis der Menschheit gebrannt.
Ähnlich wie in der CoronaPandemie setzten die Menschen zur Zeit der Pestwellen vielerorts auf Hygieneregeln wie Abstand, Händewaschen, Mundbedeckungen oder Quarantäne. Nur war die Krankheit tödlicher und die Gesellschaften wehrloser. Und ähnlich wie bei Sars-CoV-2 sind noch viele Fragen zur Pest offen.
Ihnen geht man am Labor für Paläogenetik der Universität Tübingen nach. Dort arbeitet Maria Spyrou, Expertin für die Genetik des Pestbakteriums. Spyrou erklärt: „Es ist sehr wichtig, dass wir erforschen, wie und warum sich Erreger so genetisch verändern, dass sie sogar weniger erfolgreich sein können. Ob es mit Umweltbedingungen oder anderen, älteren Mechanismen zu tun hat.“Während bei Corona eher gefährlichere Varianten entstehen und dominieren, spielte das bei der Pest mutmaßlich keine Rolle.
Nicht erst seit dem Mittelalter werden Menschen von dem Yersinia pestis dahingerafft. Seit einigen Jahren ist klar, auch die verheerende Pestwelle der Spätantike, die sogenannte Justinianische Pest in der Mitte des 6. Jahrhunderts, wurde durch Yersinia pestis verursacht. Mit herausgefunden hat das Spyrou. Das Genom des Erregers wurde in ganz Europa gefunden. In ländlichen Gebieten Oberschwabens, in Gräbern entlang alter römischer Straßen im Osten Englands, in Flussgebieten Frankreichs. Sie sagt, „die ältesten Funde des Bakteriums Yersinia pestis stammen aus dem Zeitraum um 3000 vor Christus. Seither hat es sich entwickelt. Woher genau das Bakterium stammt, können wir nicht sagen.“Man vermutet jedoch die Wildnis Zentraloder Ostasiens als Geburtsort.
Um der historischen Reise der Pest und anderer Krankheiten nachzuspüren, untersuchen die Forscher am Institut deren Erbgut. Es ist aus den Basen Adenin, Cytosin, Thymin und Guanin zusammengesetzt – auf die richtige Abfolge von A, C, T und G kommt es den Wissenschaftlern an.
Dafür werden Zähne oder Knochenfragmente aus Fundstätten mit Geräten, wie sie ein Zahnarzt nutzen würde, millimetergenau aufgespalten, um dort an die feinen Überreste der Blutbahnen zu gelangen. Anschließend werden sie zu einer Art ultrafeinem Staub gemahlen. Daraus wird die DNA des Pathogens „herausgefiltert“und in weiteren Schritten mittels Chemikalien immer weiter verfeinert. Die Wissenschaftler in dem zweckdienlichen Bau mit grauem PVCBoden, versteckt in einer Seitenstraße der Universitätsstadt, führen die meisten ihrer Arbeitsprozesse in einem sogenannten Reinlabor durch. Kein Staubkorn, kein Keim soll dort hineingelangen. Betreten ist nur im Schutzanzug möglich.
Ein Besuch dort ist schwierig. Aber Spyrou und das Team um den Junior Professor für Archäo- und Paläogenetik Cosimo Posth haben auch andere Arbeitsplätze. Dort stehen Behälter voller Pipetten, klobige, graue Maschinen, ein spezieller Ofen. Sie heißen „Rico“, „Amy“oder „Bernadette“und helfen, die unterschiedlichen Behandlungsschritte der DNA zu trennen, die Proben zu reinigen oder auf eine für weitere Untersuchungen notwendige Konzentration zu bringen.
Schließlich kommen die Proben in Sequenziermaschinen – „Stellen Sie sich einen Mix aus iPad und Kühlschrank vor“– in denen die Abfolge von A, C, T und G bestimmt wird. Nach Milliarden von Sequenzen und vielen Stunden gibt es Ergebnisse. Mehrere Proben werden pro Monat untersucht, Gigabyte an Daten werden von Hochleistungsrechnern ausgewertet. Posth selbst ist auf die Evolutions- und Populationsgeschichte
des Menschen spezialisiert – unter anderem untersucht er die genetischen Überreste des Neandertalers in uns. Zwei bis drei Prozent Neandertaler-DNA trägt jeder Mensch in sich. Das kann gravierende Folgen haben:
Wer eine bestimmte NeandertalerGenvariante in der DNA hat, hat ein mehrfach erhöhtes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken.
Vor 25 Jahren war Forschung mit dieser Genauigkeit unvorstellbar. Was Yersinia pestis tödlich macht: Beulen- und Lungenpest, zwei Spielarten des Erregers, sind genetisch betrachtet gleich. Der Erreger kann die Lungenpest hervorrufen, nachdem er den Menschen als Beulenpest befallen hat. Bei der Beulenpest geht man von einer Sterblichkeitsrate von etwa 75 Prozent aus, bei der Lungenpest von bis zu 100 Prozent. Nur Letztere ist von Mensch zu Mensch übertragbar, allerdings weitaus weniger ansteckend als Grippe oder Covid-19: Der Erreger stirbt rasch an der Luft.
Warum ein genetisch identischer Erreger unterschiedlich tödliche und ansteckende Krankheitsvarianten hervorbringt, erforscht man in Tübingen. Was man dort noch herausgefunden hat: Sowohl am Ende der Justinianischen Pestwellen im 6. Jahrhundert als auch der mittelalterlich-neuzeitlichen entwickelte sich derselbe spezielle Genomstrang im Bakterium, der wohl deutlich weniger ansteckend und tödlich ist.
Laut Spyrou existieren einige Varianten des Bakteriums, welches Abermillionen während des Mittelalters tötete, heute nicht mehr in Europa. Denn moderne Yersiniapestis-Stämme,
etwa am Kaspischen Meer, unterscheiden sich genetisch deutlich. Sorgte die Krankheit also selbst für das Ende der Pandemie in Europa? Mehr als 300 Jahre fraß sich Yersinia pestis von der Mitte des 14. Jahrhunderts an durch Europa. Die Ursache für das Ende der Pestwellen kennt niemand, es bleiben Vermutungen: Vielleicht entwickelten genug Menschen eine Immunität, vielleicht lag es am Verschwinden eines Hauptüberträgers, der schwarzen Ratten.
Auch in Düsseldorf beschäftigt man sich mit Fragen zu tödlichen Erregern. Dort lehrt der Medizinhistoriker Jörg-Peter Vögele. Es ließen sich, sagt der Professor im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“, oft Muster im gesellschaftlichen Umgang mit Seuchen erkennen. „Kommt eine Seuche auf, wird erst bagatellisiert, dann bricht Panik aus, oft werden Sündenböcke gesucht.“Soziale Ungleichheit könne man in Epidemien und Pandemien wie unter dem Brennglas beobachten. Mangelernährung, beengte Verhältnisse, schlechte medizinische Versorgung – all das waren seit Anbeginn der Menschheit Risikofaktoren, wenn Seuchen ihren Griff ums Land legten.
Doch Pandemien wie der Pest wird auch zugetraut, Veränderungen auszulösen. Bereits im Mittelalter, erklärt der Medizinhistoriker, hätten die Verheerungen der Pest laut den Thesen einiger Fachkollegen zu einer Blüte des Handwerks beigetragen. Höhere Löhne hätten, zumindest für kurze Zeit, dynamischere Sozialstrukturen ermöglicht. Mancher Historiker würde sogar argumentieren, die Renaissance sei erst durch den Schwarzen Tod möglich geworden.
Kam Corona heute wohl mit Flugreisenden und Touristen nach Europa, reisten Cholera oder Pest einst über Handelswege zu Land und See in die Städte. Reiche ließen sich in früheren Pandemien von Krankenlisten streichen, die Ärmsten mussten aus schierer Not weiterarbeiten.
„Seuchengeschichte ist verknüpft mit der Sozialgeschichte der Armut“, erklärt Vögele. „Ist die Seuche da, bricht oftmals Panik aus und Fluchtreflexe setzen ein. Wer fliehen kann, flieht.“Zu einem totalen gesellschaftlichen Zusammenbruch sei es vor allem während der Pestwellen gekommen. Verwerfungen innerhalb des sozialen Gefüges würden in gesundheitlichen Krisensituationen jedoch immer deutlich. Auch in der Corona-Pandemie seien die Verkaufszahlen von Luxusvillen, Yachten oder Privatflugzeugen stark angestiegen, während Menschen in prekären Jobs nicht nur um ihr Einkommen fürchteten, sondern aufgrund ihrer Arbeits- oder Wohnsituation oftmals auch einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt seien.
Manchem Zyniker war das gar nicht so unrecht. So gab es laut Vögele im Vorfeld der ersten Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts Stimmen aus dem Bürgertum, die ihre Hoffnung äußerten, die Krankheit könne in den Armenvierteln „aufräumen“. „Weiße Polizei“sei die Krankheit von manchen genannt worden, erklärt der Medizinhistoriker. Im Gegensatz zur Cholera ist Yersinia pestis ein Erreger aus dem Tierreich – bei SarsCoV-2 vermutet man es. Sogenannte Zoonosen können zwischen Mensch und Tier hin- und herwechseln.
Rund 200 davon sind bisher bekannt.
Maria Spyrou in Tübingen erklärt, wieso sie an diesen forscht. „Es ist wichtig zu verstehen, wie lange wir in der Geschichte der Menschheit schon mit Krankheiten konfrontiert sind. So verstehen wir besser, wie unser Körper gelernt hat, mit Erregern fertigzuwerden. Und aus dem Verlauf und den Auswirkungen vergangener Pandemien können wir Schlüsse ziehen, um zukünftige effektiver zu bekämpfen.“In den letzten, noch nicht vom Menschen ausgebeuteten Regionen des Planeten vermuten Forscher bis zu einer Million weitere Zoonosen. Wie verheerend sie wirken können, zeigt die Geschichte des Schwarzen Tods.
Jörg-Peter Vögele, Medizinhistoriker