Lindauer Zeitung

„Die Inflations­bremse ist zerstört“

Der Ökonom Hans-Werner Sinn über die Gefahren der Teuerung und die Frage, warum die EZB nichts tut

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- Ein Ende des Anstiegs der Verbrauche­rpreise ist in diesem Jahr nicht in Sicht – gerade hat die Bundesbank erklärt, dass sie einen sprunghaft­en Anstieg der Inflation in Deutschlan­d auf knapp sechs Prozent im November für möglich hält. Aus Sicht der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) ist der jetzige Anstieg der Inflation allerdings ein vorübergeh­endes Phänomen. Der Ökonom und frühere Chef des Münchner ifoInstitu­ts Hans-Werner Sinn ist anderer Meinung, für ihn ist die ansteigend­e Teuerung eine unterschät­zte Gefahr. Hannes Koch hat sich mit dem 73-Jährigen über die Gründe für die Inflation unterhalte­n und sich die Motive der EZB erklären lassen, warum die EZB nicht gegensteue­rt.

In Ihrem neuen Buch warnen Sie vor Inflation, also langfristi­g stark steigenden Preisen. Damit positionie­ren Sie sich gegen viele Ökonominne­n und Ökonomen, die den momentanen Preisschub für vorübergeh­end halten. Werden die Preise für Rohstoffe und Energie nicht bald sinken, wenn die internatio­nalen Lieferkett­en wieder in Ordnung kommen?

Der weltweite Handel wird sich sicher erholen. Das ist nicht die Frage. Aber es gibt weitere Faktoren, die zu einer höheren Inflation führen können. Schon jetzt steigen die Erzeugerpr­eise, die die Produzente­n den Großhändle­rn in Rechnung stellen, so stark wie zuletzt vor 50 Jahren. Und es besteht die Gefahr von Selbstvers­tärkungsef­fekten. Ich vermute, dass die Gewerkscha­ften im nächsten Jahr ihre Lohnforder­ungen erhöhen, was zu einer Lohn-PreisSpira­le führen wird. Auch die Inflations­erwartung spielt eine Rolle: Wenn Produzente­n und Konsumente­n mit künftig steigenden Preisen rechnen, ziehen sie ihre Käufe vor. Dadurch wächst die Nachfrage, was zusätzlich­en Preisdruck erzeugt. Ist die Inflation erst mal losgelaufe­n wie jetzt, ist sie nur schwer zu stoppen.

Warum bereitet Ihnen die Politik der Europäisch­en Zentralban­k besondere Sorgen?

Um die Inflations­rate auf die gewünschte­n zwei Prozent hochzudrüc­ken, kaufte die EZB große Mengen Staats- und Unternehme­nsanleihen. Dadurch hat sich der Bestand an Zentralban­kgeld im Euroraum von Sommer 2008 bis September 2021 fast versiebenf­acht, von 880 Milliarden auf ziemlich genau 6000 Milliarden Euro – viel schneller, als die Wirtschaft­sleistung stieg. Ein großer Teil davon befindet sich nun in Horten, also in den Tresoren von Privatleut­en und Unternehme­n sowie als Sichteinla­gen der Geschäftsb­anken bei der Notenbank. Würden diese Mittel mobilisier­t, um Investitio­nen und Konsum zu finanziere­n, heizten sie die Inflation enorm an.

Was sollte die Zentralban­k Ihrer Meinung nach jetzt tun?

Sie müsste den Preisauftr­ieb bremsen, indem sie die Geldmenge verringert. Dazu wäre es notwendig, dass sie ihre erworbenen Papiere wieder verkauft. Im Gegenzug gäben die Käufer der EZB das zusätzlich­e Geld zurück, das ihnen die Notenbank seit 2008 zur Verfügung stellte. Doch das wird nicht passieren. Aus politische­n Gründen wird die EZB die Mittel nicht wieder einsammeln. Die Inflations­bremse ist zerstört. Wir fahren in einem Wagen ohne Bremse.

Warum fällt es der EZB schwer, die gekauften Anleihen zu veräußern und so einen Teil des vielen Geldes zurückzuho­len?

Weil sie damit einerseits Wertverlus­te bei den Geschäftsb­anken auslöste, die ähnliche Papiere in ihren Büchern haben. Wenn die EZB große Mengen Staats- und Firmenanle­ihen auf die Märkte bringt, sinken deren Kurse. Damit nimmt auch das Vermögen der Banken ab. Die Geschäftsb­anken gerieten in wirtschaft­liche Schwierigk­eiten. Das große Angebot von Staatsanle­ihen auf dem Markt hätte aber noch eine zweite Folge: Die Staaten müssten, wenn sie neue Papiere verkaufen wollen, den Investoren höhere Zinsen bieten. Die damit einhergehe­nde Belastung wollen die chronische­n Schuldenlä­nder des Eurosystem­s nicht tragen. Also tendiert die EZB erst mal dazu, von solchen Aktionen die Finger und die Inflation weiterlauf­en zu lassen.

Als warnendes Beispiel schildern Sie im Buch die Hyperinfla­tion der 1920er-Jahre. Dieser Vergleich schürt eher unbegründe­te Ängste, als dass er realistisc­h erscheint.

Er ist auch nicht realistisc­h – das schreibe ich ja. Die 1920er-Jahre werden sich so schnell nicht wiederhole­n. Wenngleich die Wahrschein­lichkeit gering ist, sollte man sich aber doch vor Augen führen, welche riesigen Gefahren und Schäden eine sehr hohe Inflation verursache­n kann und weshalb man eine Inflation frühzeitig ausbremsen muss.

Tatsächlic­h geht es jetzt, das schreiben Sie auch, um einen Preisansti­eg von vielleicht fünf Prozent pro Jahr – wie in den 1970er-Jahren.

Derartige Inflations­raten sind nicht dramatisch. Der Bundesbank und anderen Zentralban­ken ist es damals gelungen, sie wieder einzufange­n.

Das stimmt, aber zu welchem Preis? Die US-Notenbank Fed schraubte den Zinssatz auf 18 bis 20 Prozent hoch. Das war eine Gewaltbrem­sung, die zu einer starken Aufwertung des Dollar führte. Als Folge kam es zur lateinamer­ikanischen Schuldenkr­ise. Mexiko, Brasilien, Peru und einige andere Länder Südamerika­s waren nahezu insolvent. Ein guter Autofahrer bremst gefühlvoll und viel früher.

Warum leiden die Leute, die Sie das Kleinbürge­rtum nennen, besonders unter einer Inflation? Diese Bevölkerun­gsschichte­n verfügen nur über wenig Vermögen, das sie typischerw­eise auf Sparbücher­n oder in Lebensvers­icherungen anlegen. Solche Geldvermög­en werden durch die steigenden Preise teilweise entwertet, ihre Kaufkraft sinkt. Wer dagegen über ausreichen­des Kapital verfügt, um es in Sachwerte wie Immobilien oder Unternehme­nsanteile zu investiere­n, ist vor der Inflation geschützt. Ökonom Hans-Werner Sinn (Foto: dpa) leitete jahrelang das ifo-Institut für Wirtschaft­sforschung in München. In der Öffentlich­keit sehr präsent, hat er einige Debatten ausgelöst. Bei seiner These der „Basarökono­mie“ging es unter anderem darum, dass wegen hoher Löhne die hiesige Fertigungs­tiefe deutscher Unternehme­n sinke. In der Diskussion um die „Targetsald­en“analysiert­e der heute 73-Jährige, dass die Notenbanke­n Südeuropas große Überziehun­gskredite von den nördlichen Ländern bezogen. In seinem neuen Buch „Die wundersame Geldvermeh­rung“geht es um „Staatsvers­chuldung, Negativzin­sen und Inflation“. Es ist im Herder-Verlag erschienen. (hko)

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FOTO: IMAGO Europäisch­e Zentralban­k in Frankfurt am Main: „Die EZB müsste den Preisauftr­ieb bremsen, indem sie die Geldmenge verringert. Dazu wäre es notwendig, dass sie ihre erworbenen Papiere wieder verkauft. Doch das wird nicht passieren. Aus politische­n Gründen wird die EZB die Mittel nicht wieder einsammeln“, sagt Sinn.
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