Geländewagen rast in Weihnachtsparade
Ein weiterer Gewaltakt in den USA mit mindestens fünf Toten und 40 Verletzten
- Wieder Wisconsin. Wieder eine nach Ureinwohnern benannte Stadt unweit von Milwaukee. Und wieder ein Ausbruch an brutaler Gewalt, der Tote und Verletzte zurücklässt. Doch anderes als im August 2020, als der 17-jährige Kyle Rittenhouse bei Anti-RassismusDemonstrationen in Kenosha zwei Menschen erschoss, gab es am Sonntag nichts, das auf Verwerfungen in Waukesha hindeutete. Bis auf die zeitliche Nähe des Freispruchs des jungen Vigilante vom Freitag durch eine Jury, die in vielen Städten Proteste ausgelöst hatte.
Nicht so in der 70 000 Einwohner großen Stadt, die sich nach einem Jahr Zwangspause wegen der Pandemie auf die Rückkehr der traditionellen Weihnachtsparade gefreut hatte. Bürgermeister Shawn Reilly beschrieb die Stimmung in seiner Stadt als ausgelassen. „Überall saßen lachende Kinder am Straßenrand. Ich kann noch ihre fröhlichen Gesichter sehen.“Bis zu dem Moment, wo sich der begeisterte Jubel in herzzerreißende Schreie umschlug.
Eine Praktikantin der Lokalzeitung, die den roten Ford Escape in die Main Street einbiegen sah, dachte zunächst, in dem SUV säße der Weihnachtsmann. Sie ahnte nicht, dass es sich um einen kaltblütigen Mörder handelte, der sein Auto in eine gefährliche Waffe verwandeln würde.
Damit hatte auch der 25-jährige Tom Hickey nicht gerechnet, der aus dem Weg ging als der in einem Sweatshirt und grauer Mütze gekleidete Fahrer hinter ihm hupte. Hickey beobachtete, wie er gegen 16.40 Uhr rechts in die Hauptstraße hineinfuhr „und plötzlich das Gaspedal voll durchdrückte“.
Angela O’Boyle verfolgte das grausige Geschehen vom Balkon in der fünften Etage ihrer Wohnung an der Main Street. Sie hatte gerade ihr Smartphone auf die Parade gerichtet, um ein paar Erinnerungen aufzunehmen, die sie mit Freunden und Familie teilen könnte. „Plötzlich hörte ich Schreie“, erinnert sie sich an den grausigen Moment, als wie aus dem Nichts der rote SUV auftauchte und auf die Marschkappelle einer örtlichen Highschool zuhielt.
„Er hat mindestens zwei Leute überrollt“, beschreibt sie den Horror, der auf dem Video festgehalten ist, das sie dem Fernsehsender CNN zur Verfügung stellte. Andere Augenzeugen sagen, der Täter sei mit hoher Geschwindigkeit in Schlangenlinien von einer Straßenseite zur nächsten gefahren. Als wollte er möglichst viele Menschen erwischen.
Corey Montiho, der die Tanztruppe seiner Tochter gerade vorbeimarschieren sah, versetzte das Geschehen unter Schock. „Ich habe überall Körper gesehen und Kinder und Väter, die nicht mehr atmeten“, erzählt er von dem Horror auf der Main Street. Er habe dem Täter durch das Fenster in die Augen sehen können. „Er sah ganz ruhig und überlegt aus.“Montiho selber kam mit dem Schrecken
davon. Wie auch seine Tochter, die er unversehrt in die Arme nahm.
Viele der mindestens 40 Verletzten werden in örtlichen Krankenhäusern behandelt. Für mindestens fünf Menschen kam jede Hilfe zu spät. Die Polizei versuchte den Todesfahrer mit Schüssen zu stoppen. Diesem gelang es zunächst, vom Tatort zu entkommen. Erst später stellten Polizeibeamte das Fahrzeug sicher, in dem Einschusslöcher zu sehen sind. Anschließend nahmen sie eine „Person von Interesse“fest.
Fieberhaft versuchen die Ermittler herauszufinden, ob es sich tatsächlich um den Täter handelt und welche Motive er hatte. Aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs zu dem „Rittenhouse“-Freispruch informierten die Behörden auch das Weiße Haus. Sprecherin Jan Psaki erklärte, Präsident Joe Biden werde über alle Entwicklungen aktuell auf dem Laufenden gehalten. „Unsere Herzen sind bei den Familien und der ganzen Gemeinde.“
Derweil verdichteten sich die Hinweise, dass der mörderische Vorfall keinen terroristischen Hintergrund habe – weder einheimisch noch international. CNN berichtet unter Berufung auf mehreren Quellen aus Sicherheitskreisen, der mutmaßliche Täter sei von einem anderen Verbrechen oder Vorfall geflohen, bevor er die Weihnachtsparade ins Visier genommen hätte.
Während die Ermittlungen auf Hochtouren laufen, versuchen die Menschen in Waukesha, Sinn aus dem Geschehen zu machen. Der örtliche Schulbezirk stellte Psychologen zur Verfügung, die den Kindern helfen, mit dem Erlebten umzugehen. Pastor David Simmons von der Episkopal-Kirche St. Matthias sagt, es habe Streit über alles Mögliche in der Stadt gegeben. „Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir in dieser Situation zusammenstehen werden.“