Frei auf Widerruf
Die ungewisse Zukunft wilder Wisente in Deutschland – Artenschutzprojekt hat nicht nur Fans
(dpa) - Deutschlands einzige wilde Wisent-Herde demonstriert an diesem Novembertag, was Freiheit heißt: Keines der imposanten Riesenrinder lässt sich blicken. An welcher Stelle genau sie zur Zeit durch das Rothaargebirge streifen ist unbekannt. „Wir haben seit ein paar Tagen keinen Kontakt. Sie sind in irgendeinem Tal, wo wir kein GPSSignal kriegen“, sagt Wisent-Ranger Henrik Brinkschulte. Auch der Versuch, die mit Sender-Halsband ausgestatteten Leittiere mit der Ortungsantenne aufzuspüren, schlägt fehl. „Sie sind halt freilebend“, so der 24-Jährige schulterzuckend.
Noch zumindest. Die anfangs achtköpfige Herde war 2013 ausgewildert worden. Acht Jahre später ist offen, wie es mit dem Artenschutzprojekt weitergeht. Seit Jahren läuft ein Rechtsstreit zwischen einigen Waldbesitzern und dem Trägerverein des Projekts, weil die Wisente in den Wirtschaftswäldern Baumrinden abknabbern, die Bäume dadurch absterben können. Zuletzt bekamen die klagenden Waldbauern recht: Sie müssen nicht hinnehmen, dass die Wisente ihre Grundstücke betreten und Schäden an den Bäumen anrichten, so das noch nicht rechtskräftige Urteil des Oberlandesgerichts in Hamm.
Ungeachtet dessen soll ein von der Politik beauftragtes, noch nicht veröffentlichtes Gutachten Entscheidungshilfe geben, ob oder wie das Projekt weitergeführt werden kann. Es geht auch um Grundsätzliches: Wem gehört der Wald, der eben nicht Natur pur ist, sondern auch der Holzgewinnung dient und sich dazu in Nordrhein-Westfalen zu einem hohen Anteil von 63 Prozent in Privatbesitz befindet? Wie viel Wildnis soll es im bevölkerungsreichsten Bundesland überhaupt geben?
Dicht besiedelt sind weder das Rothaargebirge noch der angrenzende Hochsauerlandkreis. Hier gibt es die größten zusammenhängenden Waldgebiete und höchsten Berge des Landes, das Straßennetz ist dünn. Als größter Waldbesitzer der Region hatte Richard Prinz zu Sayn Wittgenstein-Berleburg 2003 die Idee, die vom Aussterben bedrohte Tierart wieder auf seinem Territorium anzusiedeln. Ähnliche Projekte sind sonst mehrheitlich im Osten Europas zu finden: Die größte Population der europaweit mehr als 6800 Wisente in freier Wildbahn lebt laut europäischem Wisent-Zuchtbuch im polnisch-weißrussischen Urwald von Bialowieza.
„Auswilderungsprojekte waren und sind nach wie vor ein wichtiger Bestandteil, um die für die heimischen Ökosysteme so bereichernde Schlüsseltierart zu erhalten“, erklärt Benjamin Bleyhl, Biogeograf der Humboldt-Universität zu Berlin. „Bei uns wissen viele Leute gar nicht, dass es die Tiere überhaupt gibt“, sagt der Wildtierexperte. Es sei daher absolut wünschenswert den Wisent mitten in Europa auszuwildern – und damit auch ins Bewusstsein zu rücken.
Denn Wisente waren hier einst heimisch – bis der Mensch sie jagte und ihren Lebensraum nahm. Im 20. Jahrhundert war der Europäische Bison, wie die Art auch genannt wird, in freier Wildbahn ausgerottet. Nur 54 Tiere überlebten damals in Zoos und Gehegen. In einer Studie haben Bleyhl und seine Kollegen Regionen identifiziert, die sich besonders gut zur Wiederansiedlung der Landsäuger eignen, darunter der Müritz-Nationalpark und der Harz. Die nordrhein-westfälischen Mittelgebirgsregionen gehören nicht zu den favorisierten Rückkehrregionen. Und doch: „Das heißt nicht, dass dort der Wisent nicht gut aufgehoben ist“, so der Artenschützer
„Im Rothaargebirge ist wichtige Pionierarbeit geleistet worden“, betont er. Möglicherweise sei der Wisent an anderen Standorten – etwa dort, wo es Schutzgebiete wie Nationalparks gebe – reibungsloser zu integrieren. „Wir sehen aber auch bei anderen Artenschutzprojekten, dass es immer wieder Konflikte gibt, die ausgehandelt werden müssen“– sei es der Widerstreit mit ökonomischen Interessen von Landwirten oder eine allgemeine Sorge des Menschen vor den imposanten Tieren.
Inzwischen ist die Herde aus dem Rothaargebirge auf 24 oder 25 Tiere angewachsen. „So ganz genau, kann man das nicht wissen“, sagt Ranger Brinkschulte. Zwar gibt es eine Dokumentation, ob jedoch ein weiteres Kalb geboren wurde, wisse man nie ganz genau. Umso genauer kennt er die Tiere, die in der sogenannten Wisent-Wildnis in Bad Berleburg leben. Anders als der Name suggeriert lebt auf großzügigem, aber eben eingezäuntem 20-Hektar-Areal eine zweite Herde, die als Anschauungsobjekt dienen soll. 30 000 Besucher kamen im vergangenen Jahr, um die Kolosse zu bestaunen: Ihre massigen Körper mit braunem Zottelpelz, dem aufragenden Buckel und den großen gehörnten Schädeln.
„Die Tiere hier im Gehege kann man vom Verhalten her nicht vergleichen mit den Tieren in der freien Natur“, sagt Brinkschulte, als sie auf den Ranger hinter dem Gatter zutrotten. Letztere seien erheblich scheuer, nicht an den Menschen gewöhnt. Auf der Suche nach Futter ziehen sie eher gemächlich umher, bleiben jedoch längst nicht mehr im einst zugedachten Territorium im Wittgensteiner Land, sondern sind immer wieder auch weiter nördlich im Hochsauerlandkreis unterwegs – zum Ärger mancher Waldbauern.
Denn: Ein ausgewachsenes Tier frisst 40 bis 60 Kilo am Tag. „Alles was grün und saftig ist“, sagt Brinkschulte und zeigt ein Waldstück, dass die freie Herde vor etwa vier Wochen passiert hatte. „Einige Buchen sind geschält“, sagt der Ranger und deutet auf einen Baum mit einem Loch in der Rinde. Entstehen solche Schäden im Privatwald, gleicht der Trägerverein sie aus, wie dessen Sprecher betont. 50 000 Euro stehen dafür jährlich in einem Fond zur Verfügung.
Wildtier-Managerin Kaja Heising, die im Projekt die Forschung koordiniert, spricht im Bezug auf die Fraßspuren an den Bäumen lieber von „Einflüssen“als von „Schäden“: „Mit seinem Fressverhalten formt der Wisent die Landschaft“, sagt sie. Im forstwirtschaftlich genutzten Wald des Rothaargebirges erschaffe er etwa überall, wo er sich auf dem Boden gewälzt hat, sogenannte Mikro-Lebensräume: Es entstehen Mini-Lichtungen, wo durch das Mehr an Sonne neue Pflanzen wachsen, Schmetterlinge oder Eidechsen sich wohlfühlen – ein reich gedeckter Tisch für viele Vögel etwa. Auch der Dung der Wisente sei eine ökologische Bereicherung, sei attraktiv für Mistkäfer, die ihrerseits wiederum Nahrung für andere seien. „Der Wisent ist eine wunderbare Beispielart, wie Artenvielfalt gesteigert werden kann“, sagt Heising. Die Region profitiere zudem ökonomisch durch mehr Touristen von dem Prestigeprojekt.
Die Ergebnisse des entscheidenden Gutachtens sollen noch in diesem Jahr öffentlich werden – und Klarheit über Zukunft der Wisent-Herde im Rothaargebirge bringen.