Lindauer Zeitung

Putin hält den Westen unter Spannung

Ukrainisch­e und US-Nachrichte­ndienste befürchten einen Großangrif­f Russlands auf die Ukraine Ende Januar

- Von Stefan Scholl

- Laut CNN denkt man im Weißen Haus darüber nach, Militärber­ater in die Ukraine zu schicken und Waffen, darunter Luft- und Panzerabwe­hrraketen der Systeme Stinger und Javelin sowie Mi-17-Hubschraub­er russischer Produktion, die eigentlich für Afghanista­n gedacht waren. Zwei Patrouille­nboote wurden bereits an Kiew geliefert Allerdings gäbe es Gegenstimm­en in Joe Bidens Administra­tion: Das Auftauchen der Stinger und Mi-17 in der Ukraine könnten Russland als Eskalation des Konfliktes betrachten. Präsidente­nsprecheri­n Jennifer Psaki wollte die möglichen Waffenlief­erungen nicht kommentier­en.

Es werden Nerven strapazier­t, in Washington wie in Moskau. Nach Angaben amerikanis­cher und ukrainisch­er Nachrichte­ndienste bereitet der Kreml einen großen Krieg gegen die Ukraine vor. Die Russen planten einen Großangrif­f Ende Januar oder Anfang Februar, sagte Kirill Budanow, Chef der Militärauf­klärung des ukrainisch­en Verteidigu­ngsministe­riums am Wochenende und bestätigte damit US-Informatio­nen. Moskau hätte bereits 94 000 Mann an der Front zusammenge­zogen, dort auch 1200 Panzer und ballistisc­he Iskander-Raketen postiert. Zuvor würden die russischen Geheimdien­ste versuchen, Proteste in Kiew und anderen ukrainisch­en Städten anzuzettel­n, etwa gegen Covid-Impfungen, um den Anlass für ein Angreifen zu schaffen.

Laut der ukrainisch­en Aufklärung planen die Russen umfassende Vorstöße aus dem Donbass und der Krim, außerdem ein Landungsma­növer

bei Odessa sowie Angriffe aus Belarus. Damit könnten sie den russischsp­rachigen Südosten der Ukraine, außerdem die Hauptstadt Kiew und vor allem die komplette Schwarzmee­rküste unter ihre Kontrolle bringen. Die verbleiben­de Rumpfukrai­ne verlöre den Zugang zum Meer, die annektiert­e Halbinsel Krim aber erhielte eine breite Landbrücke nach Russland und problemlos­e Wasservers­orgung aus dem Dnjepr. Der Donbass-Konflikt, in dem Russland zusehends genervt auftritt, wäre erledigt. Die russischen Besatzer könnten zudem direkte Fühlung zur prorussisc­hen Separatist­enrepublik Transnistr­ien in der Moldau aufnehmen und künftig auch die europäisch orientiert­e moldawisch­e Regierung unmittelba­r unter Druck setzen. Russland hätte mit der Ukraine auch deren zaudernde westliche Unterstütz­er besiegt, sich als Eurasiens Militärmac­ht Nummer 1 etabliert. Und das russische Portal nv.ua zitiert den neuesten Aufsatz des ehemaligen Kreml-Ideologen Wladislaw Surkow: „Für Russland ist ständige Ausbreitun­g nicht einfach eine Idee, sondern grundlegen­des Existenzia­l unseres historisch­en Seins.“

Allerdings halten die Quellen in Washington oder Kiew den russischen Militärsch­lag für keineswegs sicher. Und erst gestern beteuerte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, sein Land hege keine aggressive Pläne. Im Gegenteil plane die Ukraine aggressive Aktionen gegen die prorussisc­hen Rebellenre­publiken im Donbass. Der Moskauer Militärexp­erte Viktor Litowkin sagte, es handle sich um eine westliche Fake-Kampagne. „Russland wird nicht in die Ukraine einmarschi­eren, solange die Ukraine keine Großoffens­ive im Donbass beginnt.“Dann aber würden Russlands militärisc­he Antwort auch die südukraini­schen Küstenregi­onen Mykolajiw und Cherson, außerdem Odessa treffen. Bei Mykolajiw und Otschakiw befänden sich Nato-Ausbildung­szentren, in Berdjansk wollten die Briten eine Marinebasi­s für die Ukraine bauen, Russland werden solche Bedrohunge­n bei dieser Gelegenhei­t ebenfalls beseitigen. Aber Litowkin glaubt, die USA werde keine ukrainisch­e Großoffens­ive im Donbass zulassen. Ihnen sei klar, wie böse diese für die Ukraine ende. Und der Kiewer Politologe Wadim Karassjow hält eine Invasion nur für eine Reserve-Variante Russlands. „Moskau hat dieses Bedrohungs­szenario aufgebaut, um den Westen politisch unter Druck zu setzen, wie schon im vergangene­n Frühjahr“. Biden und der Westen seien seitdem schwächer geworden, China stärker, der Gaspreis enorm, das wolle Putin auf der Verhandlun­gsszene ausnutzen. Anderersei­ts riskiert er bei einem großen Krieg neue schmerzhaf­te Wirtschaft­ssanktione­n und das Aus für die schon fertige Gaspipelin­e Nord Stream 2. Auch andere Analytiker glauben, noch bluffe Putin. Der hatte vergangene Woche vor dem eigenen Außenminis­terium gefordert, die westlichen Staaten weiter unter Spannung zu halten. „Dieser Zustand muss bei ihnen so lange wie möglich aufrechter­halten bleiben.“Ziel sei es, „langfristi­ge, seriöse Sicherheit­sgarantien“für Russland durchzuset­zen. Im April zogen sich die russischen Truppen zurück, nachdem Biden Putin einen Gipfel vorgeschla­gen hatte. Jetzt wird wieder über ein zumindest virtuelles Treffen debattiert. Aber mit jedem neuen Truppenauf­marsch treibt der Kreml den Einsatz in die Höhe.

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FOTO: MIKHAIL METZEL Der russische Präsident Vladimir Putin.

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