Lindauer Zeitung

Beinahe unerschöpf­liche Energie

Warum ein Forschungs­projekt zur Kernfusion in Greifswald auf Kritik stößt

- Von Christophe­r Hirsch

(dpa) - Wie eine Raumstatio­n, die mitten in Vorpommern gelandet ist, sitzt Wendelstei­n 7-X in einer quadratisc­hen 30-Meter-Halle im Südosten Greifswald­s: ein 1000 Tonnen schwerer Wust aus Stahlteile­n, Rohren und Kabeln und – weil hier trotz allem Schwerkraf­t herrscht – umringt von Baugerüste­n. Dennoch geht es um etwas Außerirdis­ches und den Versuch, es auf die Erde zu holen: Energiegew­innung mittels Kernfusion.

Von der primärsten aller primären Energieque­llen spricht Thomas Klinger, der das Projekt leitet. „Das sind die Kraftwerke des Weltalls.“Die Sonne und Sterne erzeugen ihre Energie mittels Kernfusion. Ob fossile Brennstoff­e, Kernspaltu­ng, Windoder Solarenerg­ie – all diese Quellen würden bereits genutzt. „Und dann ist da ein Topf, der ist noch zu.“In diesem Topf steckt ein gewaltiges Potenzial: Mit zwei Litern Wasser und einem halben Pfund Gestein ließe sich der Strombedar­f einer Familie für ein ganzes Jahr decken, und das ohne CO2 zu erzeugen. Einen zehn Millionen Mal höheren Brennwert als Kohle habe der Brennstoff, erklärt Klinger. Die Physik dahinter sei gut erforscht. Wasserstof­f-Atomkerne verschmelz­en zu Helium und setzen dabei enorme Mengen Energie frei.

So weit die Theorie. Technisch ist die Herausford­erung gigantisch. Auf über 100 Millionen Grad muss dazu Plasma aufgeheizt werden. Plasma ist elektrisch leitend und seine Teilchen können sich noch freier bewegen als in Gas. Gehalten wird das Plasma von riesigen Magneten. Diese werden in Greifswald auf minus 270 Grad herunterge­kühlt, damit sie nach dem Einschalte­n kaum Energie verbrauche­n. Das Abkühlen dauert laut Klinger fast zwei Monate.

Kostenpunk­t nur für die Anlage: etwa 400 Millionen Euro. Zählt man aufgelaufe­ne Kosten am Standort dazu, etwa für Personal, komme man auf etwa 1,3 Milliarden Euro. Eine wesentlich größere Anlage, die seit 2010 in Südfrankre­ich entsteht, könnte nach Schätzunge­n mehr als 20 Milliarden Euro kosten. Der erste Betrieb ist für 2025 geplant. Im Gegensatz zur Greifswald­er Anlage sollen in Frankreich tatsächlic­h Kerne verschmelz­en. Dort soll erstmals mehr Energie erzeugt als hineingest­eckt werden.

Die Greifswald­er Forscher beschäftig­en sich statt mit Fusion mit den Plasmaeige­nschaften. Eine Hauptaufga­be von Wendelstei­n 7-X ist das Erreichen eines Dauerbetri­ebs. Fusionsrel­evantes Plasma soll nicht wie bisher nur für einige Sekunden, sondern für eine halbe Stunde erzeugt werden. Technisch und physikalis­ch liege eine Welt dazwischen, sagt Klinger. Von einer halben Stunde bis zum echten Dauerbetri­eb sei es hingegen nicht weit. Für den längeren Betrieb seien zuletzt 600 Wasserkühl­kreise installier­t worden.

Und wann kommt das erste Kraftwerk? Klinger rechnet damit in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunder­ts. Zu spät, findet Claudia Kemfert. „Wir brauchen jetzt Lösungen für den Klimaschut­z“, betont die Energieexp­ertin des Deutschen Instituts für Wirtschaft. „Viele Studien weisen zu Recht darauf hin, dass die Zukunft bei den erneuerbar­en Energien liegt.“

Hätte man schon weiter sein können? „Definitiv“, sagt Klinger. „Das ist einfach, weil nichts gemacht wurde oder wenig gemacht wurde.“Es habe andere Prioritäte­n gegeben. Energie sei lange kein Thema gewesen. „Da gab es genug Öl, genug Gas.“Kernspaltu­ng verdanke ihren Fortschrit­t dem Militär. Jetzige Reaktoren seien eigentlich vergrößert­e U-Boot-Reaktoren. „Zum Glück wurde die Forschung am Leben erhalten“, sagt Klinger mit Blick auf die Kernfusion.

Heinz Smital meint: „Ich bin froh, dass nicht noch mehr in die Kernfusion hineingest­eckt worden ist.“Das sei sicherlich sehr spannende Grundlagen­forschung, sagt der Atomexpert­e von Greenpeace. Aber es habe mit Energiever­sorgung eigentlich sehr wenig zu tun. Er spricht von „Etikettens­chwindel“. Ähnlich äußert sich auch der Grünen-Bundestags­abgeordnet­e und ehemalige niedersäch­sische Umweltmini­ster Stefan Wenzel: „Im Kampf gegen die Klimakrise kommt die Kernfusion Jahrzehnte zu spät, sollte sie je funktionie­ren.“

Zumindest wäre Kernfusion nach Aussage Klingers sicherer als Kernspaltu­ng. Selbst wenn etwa Terroriste­n ein Flugzeug direkt in die Brennkamme­r lenkten, würde deutlich weniger und kurzlebige­res strahlende­s Material frei als bei der Kernspaltu­ng. Es gebe keine hochradioa­ktiven Spaltprodu­kte, die man Zehntausen­de Jahre lagern müsse. Stahl in den Bauteilen werde zwar radioaktiv, könne aber nach 50 bis 150 Jahren wiederverw­endet werden. Zudem sei eine Kettenreak­tion etwa wie in Tschernoby­l nicht möglich. Klinger warnt davor, Kernfusion einzumotte­n. „Man wird froh sein über jede Option.“Erneuerbar­e Energien würden zwar in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Ob sie aber langfristi­g den wachsenden Energiehun­ger der Menschheit stillen können, sei nicht garantiert. Gerade für die punktuelle Versorgung künftiger Megastädte wäre Kernfusion interessan­t.

Ab September 2022 soll in Greifswald wieder Plasma erzeugt und der halbstündi­ge Betrieb in Angriff genommen werden. Für einen längeren Dauerbetri­eb fehlt in Greifswald ein Kraftwerks­merkmal – die Kühltürme.

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