Ambulante Pflegedienste „am Limit“
Warteliste und Absagen: Wenn zum akuten Fachkräftemangel auch noch Corona kommt
- In Kliniken und Intensivstationen herrscht absoluter Notstand. Was bisher kaum jemand beachtet: Auch die ambulanten Pflegedienste sind am Ende ihrer Kräfte. „Die Lage ist mehr als ernst“, sagt BRK-Chef Roman Gaißer. „Wir sind am Anschlag“, warnt eine andere Pflegedienstleiterin. Wieso das unterm Strich teilweise heftige Folgen für Pflegebedürftige hat.
Tag für Tag klingelt das Telefon. Die Sozialdienste von Kliniken rufen genauso an wie verzweifelte Angehörige: Sie alle hoffen auf Hilfe von ambulanten Pflegediensten, weil dringend Pflegebedürftige zu Hause versorgt werden müssen. Doch die Antworten sind fast immer gleich: „Nein.“„Tut uns leid.“„Wir sind voll.“
Jetzt richten jene, die sonst jahrelang alles versucht haben, um Notfälle gut zu versorgen, selbst einen Notruf an die Öffentlichkeit: Die Verantwortlichen der vier größeren ambulanten Pflegedienste in Lindau schlagen Alarm. Denn weil zu dem schon seit Jahren schwelenden Fachkräftemangel nun auch die Folgen der anhaltenden Corona-Pandemie kommen, droht der ambulanten Pflege ein Fiasko.
„Wir sind am absoluten Limit“, sind sich Clemens Obermaier vom Pflegeteam am See, BRK-Kreisgeschäftsführer Roman Gaißer, Pflegeinsel-Chefin Sabine Schönherr und Peter Kleiner von der Lindauer Sozialstation einig: Überall fehlt Fachpersonal, überall gibt es zusätzliche pandemiebedingte Ausfälle. Mit teilweise drastischen Folgen.
Wer bei Clemens Obermaier anruft, landet bestenfalls auf einer Warteliste. Da stehen bereits an die 20
Namen. Die Chance auf eine zeitnahe Aufnahme in die ambulante Pflege sind dort genauso minimal wie bei den anderen Lindauer Pflegediensten. „Ich könnte sofort drei weitere Pflegegruppen beschäftigen – wenn ich denn geeignetes Personal bekäme“, seufzt der Chef des Pflegeteams am See.
38 Beschäftigte hat er, davon 26 in Vollzeit. Mit seiner Bezugspflege umsorgt er damit an die hundert Patienten mindestens zweimal am Tag. Neue Bewerbungen? Fehlanzeige. „Am Gehalt liegt’s nicht“, ist Obermaier
überzeugt: Seine Mitarbeiterinnen verdienen nach seinen Worten in Vollzeit zwischen 3500 und 4000 Euro im Monat.
Doch die Arbeitsbelastung in der ambulanten Pflege sei inzwischen gewaltig. Kaum geringer als in Krankenhäusern. Ebenfalls im Schichtbetrieb. Zahlreiche gute Kräfte hätten ihren erlernten Beruf inzwischen an den Nagel gehängt.
Was den Lindauer besonders wurmt: „Wenn diese ausgebildeten Pflegefachkräfte heute irgendwo an Verwaltungsschreibtischen sitzen.“In Obermaier brodelt es: Einige Stunden zuvor hat sich bei ihm der Medizinische Dienst angekündigt für Kontrollen. „Die können von mir aus gerne in einer der Touren mitarbeiten – dann sehen sie, was gerade draußen läuft.“
„Wir sind am Anschlag“, so beschreibt auch seine Kollegin Sabine Schönherr die Lage in der ambulanten Pflege. Ihre Pflegeinsel ist zwar klein, der Kundenstamm überschaubar. Aber wenn ein Viertel des eigentlichen Personals fehlt, dann heißt es das für das restliche Team: „Wochenlang durcharbeiten, auch an den Wochenenden.“
Was Schönherr krass findet: Wenn sich Pflegehelferinnen bewerben, aber gleichzeitig erklären, dass eine Corona-Impfung für sie nicht infrage komme. „Da ist das Gespräch für mich nach 30 Sekunden beendet.“Denn so etwas wolle sie in der jetzigen Pandemiezeit weder ihrem Team noch ihren Patienten zumuten. „Das ist ja wie ein Busfahrer ohne Führerschein“, schüttelt sie verständnislos den Kopf.
Die Konsequenz des Personalmangels: „Wir haben seit Ende des Sommers einen Aufnahmestopp.“Dabei ist der Pflegefachfrau durchaus klar: „Nicht jeder Angehörige kann selbst pflegen.“Auf verzweifelte Nachfragen könne sie dennoch oft keine Antworten geben, gesteht Schönherr ein. Denn „die Pflegeheime sind ja auch voll“, wie ihr Kollege Obermaier zu bedenken gibt. Und wenn es dort freie Betten gebe – dann stünden sie mangels Fachpersonal leer.
Tief durchatmen muss auch Peter Kleiner, Pflegedienstleiter der Lindauer Sozialstation: Sein Team von rund 70 Pflegekräften muss sich um rund 600 Bestandskunden kümmern. „Und jene werden ja nicht jünger – sprich deren Pflegebedarf steigt ständig.“Doch die letzte neue Pflegefachkraft hat die Sozialstation nach seinen Worten im Juli eingestellt.
Der Personalmangel sorge immer wieder für „sehr starke Engpässe“. Fällt ein Pflegeteam aus, müssten andere Kollegen deren Arbeit zusätzlich übernehmen, zumindest die absolute Grundversorgung. Das zehre an den Kräften. Täglich erreichen ihn mehrere Anfragen, nahezu immer müsse er absagen. „Wenn überhaupt, dann können wir höchstens noch eine Notversorgung anbieten.“
Besonders drastisch beschreibt BRK-Kreisgeschäftsführer Roman
Sabine Schönherr schüttelt den Kopf über Pflegehelferinnen, die sich nicht
gegen Corona impfen lassen.
Gaißer die aktuelle Situation in der ambulanten Pflege: „Wir werden dieses Jahr ein Desaster erleben.“Die Personaldecke in der Pflege sei ohnehin knapp. Nun komme hinzu, dass fast ein Viertel seiner Pflegekräfte derzeit nicht zur Arbeit kommen kann – weil sie selbst als Kontaktpersonen oder ihre Kinder sich in Corona-Quarantäne befinden.
„Pflegekräfte- und Ärztemangel gab es ja schon vor Corona“, gibt Gaißer zu bedenken. Doch nach knapp zwei Jahren Pandemie „ist die Lage jetzt wirklich sehr, sehr ernst“. Die täglichen Anfragen an die ambulante Pflege „können wir nicht mehr bedienen“, gibt der BRK-Chef unumwunden zu.
Was ihm zusätzlich schlaflose Nächte bringt: Neben der ambulanten Pflege ist inzwischen auch der Rettungsdienst von der dramatischen Entwicklung betroffen. Dem BRK fehlen nach Gaißers Worten mindestens drei hauptamtliche Rettungssanitäter. Da setzt sich der BRKChef als ausgebildeter Profi wieder häufiger selbst in den RTW: „Ich kann doch meine Leute nicht im Stich lassen.“
Wobei die wegen Corona überlasteten Krankenhäuser dem Rettungsdienst weitere Probleme bescheren: „Unsere Fahrzeiten werden immer länger – weil es immer schwieriger wird, eine Klinik mit freien Kapazitäten zu finden.“
Und so schlägt Gaißer genauso Alarm wie die anderen Verantwortlichen der ambulanten Pflege in Lindau: „Wir sind alle am absoluten Limit.“
BRK-Kreisgeschäftsführer Roman Gaißer, berichtet, dass neben Pflegekräften auch Rettungssanitäter
fehlen.