Bis zur Triage fehlt nicht mehr viel
Wahrscheinlich sind Intensivbetten am Klinikum Friedrichshafen in zwei Wochen voll
- Als Anfang September die Sommerferien zu Ende gingen, schien auch das Ende des Corona-Ausnahmezustands greifbar nahe. Rufe nach einem „Freedom Day“mit Aufhebung aller Schutzmaßnahmen, wie etwa in Großbritannien oder Dänemark, wurden laut. Nicht einmal zwei Monate später befindet sich Deutschland mitten in der vierten und bislang heftigsten Welle der Corona-Pandemie. „Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt noch eine Welle ist. Vielleicht wird es eher eine Steilwand“, sagt Winfried Dotterweich, OP-Manager am Medizin Campus Bodensee.
Am Dienstag wurden im Klinikum Friedrichshafen 45 Patienten stationär versorgt, die positiv auf Covid-19 getestet worden sind, darunter 21 Nichtgeimpfte zwischen drei und 95 Jahren. Sechs Patienten sind intensivpflichtig. Wenn man die Prognosen anschaue, werde sich in zwei Wochen die Zahl der stationären Aufnahmen verdreifacht und die Zahl der intensivpflichtigen Patienten verdoppelt haben, sagt Dotterweich. Und dann fehlt nicht mehr viel, bis die Ärzte am Klinikum Friedrichshafen zur Anwendung der ethisch problematischen Triage gezwungen
TRAUERANZEIGEN wären. Das Level der coronabedingten Auslastung am Klinikum Friedrichshafen sei schon jetzt höher als zur gleichen Zeit im Vorjahr, so Dotterweich. Trotz Impfung.
Zurückzuführen sei das zum einen auf die nun vorherrschende Delta-Variante, die deutlich aggressiver sei als das ursprüngliche Sars-CoV-2, und zum anderen darauf, dass die Menschen im vergangenen Jahr im Lockdown konsequent zu Hause geblieben wären und Kontakte zu Menschen außerhalb des eigenen Haushalts vermieden hätten. Im Herbst 2021 berichtet Maximilian Bosch, Leiter des Zentralen Aufnahme- und Belegungsmanagements des MCB, hingegen von ungeimpften Menschen, die sich zu Corona-Partys verabreden, um sich durch gezielte Ansteckung zu immunisieren. Das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs scheint dabei keine allzu abschreckende Wirkung zu haben.
Von den aktuell sechs intensivpflichtigen Patienten sind fünf ungeimpft, wobei es sich bei dem geimpften Patienten um einen 49Jährigen handelt, der bereits seit fast zwei Wochen intensivpflichtig ist. Dennoch ist Winfried Dotterweich überzeugt: „Retten wird uns nur die Impfung.“Und das sagt er auch mit Blick auf Kinder ab einem Alter von fünf Jahren, die aktuell sehr stark zur Ausbreitung des Virus beitrügen – und bei denen es mittlerweile auch schwere Verläufe gebe. Noch ist in Europa kein Impfstoff für Kinder unter zwölf Jahren zugelassen, das dürfte aber nicht mehr lange dauern.
Richtig sauer macht Dotterweich, wenn Menschen ihre Ablehnung von Impfung und Schutzmaßnahmen mit der Einschränkung ihrer Grundrechte begründen. „Wir in den Krankenhäusern sind es doch, die durch eine solche Haltung eingeschränkt werden. Wir sind es, die unter Dauerbeschuss stehen, die erschöpft sind, die unzählige Überstunden und Urlaubstage
vor sich herschieben“, sagt er. Die Stimmung beim Personal sei enorm angespannt, berichtet Maximilian Bosch. „Egal, ob es die Reinigungskraft ist, der Arzt, der Mitarbeiter der Cafeteria oder die Pflegefachkraft – alle sind tagtäglich mit diesem Virus in Kontakt, alle müssen sich jeden Tag nach bestimmten Regeln richten, die gefühlt auch noch beinahe täglich geändert werden müssen, weil wir uns in einer besonderen Situation befinden.“Was aktuell noch dazu komme, sind Ausfälle durch die parallel verlaufende Erkältungswelle. „Das alles zehrt an den Gemütern“, so Bosch.
Und schon jetzt, wo der Winter noch gar nicht begonnen hat, würden sich die Mitarbeiter den Frühling herbeisehnen. Denn wenn steigende Temperaturen die Menschen wieder mehr nach draußen locken, wird sich das Infektionsgeschehen erfahrungsgemäß beruhigen.
Aber wie wird es sich bis dahin entwickeln? Um die Situation noch bewältigen zu können, hat das Klinikum Friedrichshafen sein Operationsprogramm bereits in der vergangenen Woche heruntergefahren. Von regulär acht OP-Teams pro Tag werden aktuell nur noch drei für den „Normalbetrieb“eingesetzt, ein viertes steht als Notfall-Reserve bereit. Die anderen Teams werden auf den Corona-Stationen benötigt. Zudem hat das Häfler Krankenhaus vergangene Woche die Patienten der urologischen Abteilung im Haus verlegt, um das gesamte Team auf den Corona-Stationen einsetzen zu können. „Das ist fast wie ein Tetris-Spiel“, sagt Maximilian Bosch zum Verschieben der personellen Ressourcen.
Nachdem in Friedrichshafen mittlerweile drei Corona-Stationen in Betrieb sind, darunter eine Intensivstation, wird nun auch in der Klinik Tettnang eine eigene Corona-Station eingerichtet. Dafür musste mit Beginn
dieser Woche auch dort das normale Programm reduziert werden – von regulär sechs bis sieben OP-Teams auf zwei (plus ein NotfallTeam).
Sollten sich die Prognosen zur weiteren Entwicklung des Infektionsgeschehens bestätigen, wären die Intensivkapazitäten im Klinikum Friedrichshafen laut Dotterweich in etwa zwei Wochen erschöpft: „Mancherorts wird bereits überlegt, Triage-Teams zu bilden. Ich habe eigentlich gedacht, dass wir das außer in Kriegszeiten nie erleben werden.“
Wie Maximilian Bosch berichtet, bereiten sich Bund und Länder tatsächlich bereits auf eine Triage vor. Dabei handelt es sich um ein Verfahren zur Priorisierung von Patienten, das angewandt werden muss, wenn die vorhandenen personellen und/ oder technischen Ressourcen nicht mehr ausreichen, um allen gleichermaßen zu helfen. Verkürzt lässt es sich auf die Formel reduzieren: Versorgt wird, wer die größten Überlebenschancen hat. „Ohne Angst schüren zu wollen: Jeder, der ungeimpft ist, hat keine guten Aussichten. Wenn ich als Arzt in einer Notlage triagieren müsste, würde ich mich für den Geimpften entscheiden“, sagt Maximilian Bosch. sagt Maximilian Bosch.