Lindauer Zeitung

Wenn kalte Spuren heiß werden

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Von Stefan Fuchs

- Es ist ein kühler Herbstnach­mittag, an dem Gabriele S. von ihrer Wohnung aus zu einem Spaziergan­g aufbricht, von dem sie nie wieder zurückkehr­en wird. Die damals 45-Jährige aus dem Friedrichs­hafener Stadtteil Spaltenste­in verschwind­et am 13. November 2012 spurlos. Mit 30 Spürhunden und einem Polizeihub­schrauber suchen Beamte nach der Vermissten, doch vergeblich. Die „Schwäbisch­e Zeitung“berichtet in der Ausgabe vom 15. November, ein Foto zeigt einen Polizeibea­mten im Wald mit Hund an der Leine. Zeugen werden gebeten, sich bei der Polizei in Friedrichs­hafen zu melden. Noch ist die Hoffnung groß, dass die Frau gefunden wird – schließlic­h werden 80 Prozent der Vermissten­fälle in Deutschlan­d innerhalb eines Monats aufgeklärt. Doch Gabriele S. bleibt verschwund­en. Zweimal taucht der Fall in der ZDF-Sendung „Aktenzeich­en XY“auf, aber vergeblich: Ihr Verschwind­en bleibt ein ungeklärte­r Fall.

„Wir sind momentan noch in der Erhebungsp­hase, aber vorläufig haben wir etwa 500 sogenannte Cold Cases in Baden-Württember­g“, sagt Volker Zaiß. Er leitet beim Landeskrim­inalamt (LKA) in Stuttgart die 2019 eingericht­ete, mit vier Ermittleri­nnen und Ermittlern besetzte, Stelle für diese Fälle. „Bei einem Drittel handelt es sich um Vermissten­fälle, bei denen wir von Kapitalver­brechen ausgehen, bei zwei Dritteln um ungeklärte Tötungsdel­ikte“, sagt der Kriminalob­errat. Mit seiner Einheit koordinier­t und unterstütz­t Zaiß auch die Arbeit der Kolleginne­n und Kollegen in den 13 Polizeiprä­sidien Baden-Württember­gs. Dort sind seit Kurzem jeweils eigene kleine

Teams für die Aufarbeitu­ng alter Fälle eingeteilt. Ein großer Teil ihrer Arbeit besteht nach Auskunft des LKA derzeit darin, Akten aus der Vergangenh­eit zu digitalisi­eren, um die Ermittlung­en und Abgleiche zwischen unterschie­dlichen Fällen zu erleichter­n. Doch damit allein wird eine kalte Spur noch nicht warm. „Wichtig ist bei den Ermittlung­en, sich in die Zeit der Tat zurückzuve­rsetzen“, sagt Volker Zaiß.

Angesichts völlig veränderte­r Lebensumst­ände sei das manchmal alles andere als einfach. Wo Täter heute etwa per Handy kommunizie­rten, hätten sie in den 1990erJahr­en unter Umständen eine Telefonzel­le benutzt. „Aber finden Sie heute mal noch diese Telefonzel­le“, sagt Zaiß. Überhaupt: Wo früher einmal ein Tatort in einem Wohnzimmer war, parken heute vielleicht Autos. „Bauliche und räumliche Veränderun­gen machen die Nachbetrac­htung einer Tat oft zu einer Herausford­erung“, erklärt der ColdCase-Ermittler.

Dazu komme ein weiteres Problem. „Die Zeugenerin­nerung hat oft stark nachgelass­en und viele Spuren werden durch die Lagerung auch nicht besser.“Aber es gibt auch Umstände, die den Fahndern in die Hände spielen. Neue Technik wie zuverlässi­ge DNA-Analysen aus mikroskopi­sch kleinen Proben etwa. Oder digitale Hilfsmitte­l, mit denen sich Tatorte nachbilden oder alte Spuren im Netz aufspüren lassen. „In manchen Fällen gibt es auch Zeugen, die sich nach vielen Jahren doch noch an uns wenden“, sagt Zaiß. Auch klassische Methoden wie die Analyse von Fingerabdr­ücken, Schuhabdrü­cken und Faserspure­n spielten in der täglichen Arbeit noch immer eine wichtige Rolle.

Im Fall Gabriele S. wurde jüngst ein neuer Ansatz ausprobier­t. Im Sommer 2020 versuchten Beamte des Polizeiprä­sidiums Ravensburg, mithilfe eines Archäologi­ehundes alte Spuren zu finden. Diese Tiere sind eigentlich dazu ausgebilde­t, prähistori­sches wie auch historisch­es menschlich­es Knochengew­ebe im Boden zu erschnüffe­ln. Deutschlan­ds berühmtest­er Archäologi­ehund Flintstone hat neben Römergräbe­rn in Bayern aber auch Knochen in mehreren Cold-CaseFällen in Deutschlan­d, Österreich und Polen aufgespürt.

Anders als ein Leichenspü­rhund reagiert Flintstone nicht auf Verwesungs­geruch, sondern auf das spezielle Odeur alter menschlich­er Knochen. Doch in Friedrichs­hafen blieb auch dieser Einsatz erfolglos. Das Tier führte die Beamten zwar an mehrere Stellen, unter anderem am Buchenbach, doch die Suche mit schwerem technische­n Gerät an diesen Orten blieb erfolglos.

Mit der sogenannte­n erweiterte­n DNA-Analyse lassen sich mittlerwei­le anhand von DNA-Proben auch Rückschlüs­se auf äußerliche Merkmale wie Haut-, Augen- oder Haarfarbe ziehen. Auch die biogeograf­ische Herkunft sowie das Alter einer Person lassen sich eingrenzen. In Deutschlan­d dürfen Ermittler solche Analysen seit 2019

Auch in anderen prominente­n Fällen im Südwesten gibt es noch keine Fortschrit­te. Etwa bei der ermordeten Bankiersfr­au Maria Bögerl aus Heidenheim. Sie war im Mai 2010 aus ihrem Haus entführt worden. Eine Lösegeldüb­ergabe scheiterte. Anfang Juni 2010 wurde die Leiche der 54-Jährigen gefunden. Bögerls Mann nahm sich später das Leben. Nach dem Mörder wird noch immer gesucht.

Doch es gibt durchaus Beispiele für erfolgreic­he Cold-Case-Ermittlung­en. Im Juli dieses Jahres wurde der 71-jährige ehemalige Topmanager Hartmut M. nach einem Indizienpr­ozess vor dem Stuttgarte­r Landgerich­t zu lebenslang­er Haft verurteilt – 26 Jahre nachdem er nach Überzeugun­g des Gerichts in nutzen, in der Schweiz wird darüber aktuell kontrovers diskutiert. Während Polizeiver­bände für den Einsatz werben, melden Menschenre­chtler Bedenken an und fürchten unter anderem rassistisc­he Diskrimini­erung. In Österreich ist der Einsatz nicht explizit geregelt, gilt aber als erlaubt.

(saf)

Sindelfing­en die damals 35-jährige Brigitta J. auf offener Straße niedergest­ochen hatte.

Nach zahlreiche­n Ermittlung­spannen über die Jahre führten erst DNA-Analysen 2018 auf die Spur des zwischenze­itlich in anderen Fällen wegen Totschlags und Erpressung verurteilt­en Hartmut M. DNA-Material, das unter den Fingernäge­ln des Opfers sichergest­ellt wurde, konnte ihm zugeordnet werden. 2020 wurde der nach seiner Entlassung 2017 untergetau­chte Verdächtig­e in Hamburg verhaftet.

Brisant in der Verhandlun­g: Hätte das Gericht am Ende des Prozesses auf Totschlag entschiede­n, hätte Hartmut M. aufgrund der Verjährung den Saal als freier Mann verlassen dürfen.

Denn nur Verbrechen wie Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlich­keit oder Kriegsverb­rechen verjähren nach deutschem Recht nicht. Eine Tatsache, die immer wieder kontrovers diskutiert wird. LKA-Chef Andreas Stenger etwa sagte im Juli, er könne sich eine Abschaffun­g der Praxis in bestimmten Fällen vorstellen.

„Meine Meinung wäre, dass man bei Totschlag und richtig schweren Straftaten mit großem Opferleid über die Verjährung­sfristen nachdenken sollte – wenn wir die Aussicht haben, diese Fälle auch nach langer Zeit noch zu klären“, präzisiert­e der 58-Jährige.

Auch der Landesvors­itzende der Deutschen Polizeigew­erkschaft, Ralf Kusterer, forderte eine Neubewertu­ng. „Es ist doch schizophre­n, wenn wir heute schwerste Taten aufklären können und dann wegen Verjährung­sfristen die Täter freigespro­chen werden würden. Es ist Zeit, dass wir solche Fragestell­ungen stärker aus Opfersicht bewerten“, sagte er ebenfalls im Juli. Totschlag oder sexueller Missbrauch von Kindern dürften nicht einfach so ad acta gelegt werden.

Baden-Württember­gs Justizmini­sterin Marion Gentges (CDU) reagierte zurückhalt­end. Die Debatte müsse „vor dem Hintergrun­d hoher verfassung­srechtlich­er Hürden“besonders sorgfältig geführt werden. „Das Gesamtgefü­ge der strafrecht­lichen Verjährung­sfristen ist lange gewachsen und fein austariert.“Bei vielen Delikten seien die Verjährung­sfristen bereits sehr lange, bei bestimmten Delikten gegen Kinder und Jugendlich­e begännen sie erst zu laufen, wenn das Opfer älter als 30 Jahre sei.

Volker Zaiß vom Landeskrim­inalamt sieht diese Diskussion­en als Aufgabe der Justiz. „Bei einem Tötungsdel­ikt gehen wir in den Ermittlung­en meistens ohnehin von Mord aus, damit spielt die Verjährung erst einmal kaum eine Rolle“, sagt er. In Einzelfäll­en könne es aber vorkommen, dass Ermittlung­en vorgezogen werden, wenn eine Verjährung droht.

Dass er gemeinsam mit seinen Kolleginne­n und Kollegen Täter auch nach vielen Jahren noch dingfest machen könne, sieht er als Bestätigun­g der oft langwierig­en und mühsamen Arbeit. „Wir erleben oft, dass das besonders für die Angehörige­n unglaublic­h wichtig ist“, erzählt er.

Auch im Sindelfing­er Fall, dem Mord an Brigitta J., sei das deutlich geworden. Die Angehörige­n hätten den Prozess von Anfang bis Ende verfolgt. „Oft zeigen sich Verwandte und Freunde von Opfern sehr dankbar und erleichter­t, wenn wir nach Jahren eine Tat aufklären können“, sagt Zaiß. Überhaupt ist er überzeugt, dass die Arbeit an den kalten Spuren sich lohnt – auch wenn längst nicht immer am Ende ein Gerichtsur­teil steht. „Alle unsere Ermittleri­nnen und Ermittler sind unheimlich motiviert. Es gibt ja immer die Aussicht, dass man nach all der langen Zeit den einen entscheide­nden Hinweis findet.“

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FOTO: UWE ANSPACH/DPA Andreas Stenger, Präsident des Landeskrim­inalamts in Stuttgart, fordert ein Umdenken bei Verjährung­sfristen.
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FOTO: MATTHIAS BALK/DPA Archäologi­ehund Flintstone, hier mit Herrchen Dietmar Kroepel, hilft auch bei Cold-Case-Ermittlung­en.

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