Ein Platz am Kabinettstisch
Nach heftigem Streit soll Ex-Grünen-Chef Cem Özdemir Agrarminister werden
- 1994 war er der erste Abgeordnete im Bundestag, dessen Eltern als sogenannte Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren. Im Jahr 2021 ist er der erste Politiker mit türkischen Wurzeln, der ein Bundesministerium übernehmen soll: Cem Özdemir, 55 Jahre alt, früherer Parteichef, Direktkandidat für den Wahlkreis Stuttgart, „anatolischer Schwabe“, wie er selbst sagt.
Wegen seiner politischen Erfahrung, aber gerade auch wegen seines Migrationshintergrunds hätte Özdemir eigentlich von Anfang an gute Chance auf einen Ministerposten der Grünen haben müssen. Doch so einfach funktioniert die Partei nicht. Der Widerspruch in den eigenen Reihen musste erst niedergerungen werden, bis am späten Donnerstagabend feststand: Cem Özdemir soll in der künftigen Ampel-Koalition Landwirtschaftsminister werden. Sein Konkurrent, Fraktionschef Anton Hofreiter, ging leer aus.
Dass Özdemir das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft übernimmt, kam etwas überraschend. Gehandelt wurde er als potenzieller Verkehrsminister, was naheliegend war. In der vergangenen Legislatur hat sich Özdemir als Vorsitzender des Verkehrsausschusses des Bundestags das entsprechende Fachwissen „draufgeschafft“, wie man in seiner Heimat Bad Urach sagen würde. Doch das Verkehrsressort ging an die Liberalen, das Ende seiner politischen Karriere schien damit schon besiegelt.
In Baden-Württemberg, und nicht nur dort, fragten sich politische Beobachter, warum die Grünen ihren früheren Vorsitzenden anscheinend auf keinen Fall im Kabinett haben wollen – obwohl er im September bundesweit der erfolgreichste Direktkandidat der Grünen war. Auch der grüne Teil der baden-württembergischen Landesregierung, allen voran Ministerpräsident Winfried Kretschmann, scheint diese Frage gestellt zu haben. Was genau am Donnerstag im Grünen-Vorstand besprochen wurde, ist nicht bekannt. Fakt ist, dass abends, rechtzeitig vor Beginn des ZDF Heute Journal, doch noch eine Kabinettsliste veröffentlicht wurde – mit Cem Özdemir als Minister.
Dass der Vater zweier Kinder besondere fachliche Fähigkeiten in seinem künftigen Aufgabenbereich hätte, lässt sich aus seinen biografischen Daten nicht herauslesen. In seinen ersten Jahren im Bundestag bis 2002 kümmerte er sich vor allem um Innenpolitik. Später, nach einer kurzen Phase als Europaabgeordneter, machte er auch als Außenpolitiker von sich reden, gerade mit Blick auf die Türkei und als Kritiker des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Nach der Wahl im September 2017 wurde er bereits als Außenminister einer Jamaika-Koalition gehandelt. Daraus wurde bekanntlich nichts. Stattdessen: Rückzug vom Parteivorsitz und Parlamentsarbeit als Ausschussvorsitzender.
In den vergangenen Jahren fand das ewige politische Talent der Grünen in jeder Talkshow mehr Gehör als in seiner eigenen Partei. Woran das lag? Sicherlich auch an ihm selbst. Denn Özdemir, der offensiv zur Realpolitik tendiert, trat nach wie vor selbstbewusster auf, als es sein Platz in der Grünen-Hierarchie eigentlich zuließ. Außerhalb der eigenen Partei wurde seine Neigung zu Klartext auch geschätzt. So verlieh ihm das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen im Jahr 2018 den Preis „Rede des Jahres“für eine an die AfD gerichtete Parlamentsrede. Seine Beliebtheitswerte bei den Grünen dürften 2019 auch unter seiner Kampfkandidatur gegen Anton Hofreiter um den Fraktionsvorsitz
Fünf Ministerien haben die Grünen für sich herausgehandelt, nun ist auch klar, wer welches Ressort bekommt. Außerhalb von Rheinland-Pfalz dürfte die künftige Familienministerin im Bund wenigen bekannt sein. Anne Spiegel ist seit 2016 Ministerin am Kabinettstisch von Malu Dreyer. In Mainz ist die 40-jährige Politikerin, die vier Kinder hat, für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz zuständig. Seit November 2019 ist sie Mitglied des Parteirats im grünen Bundesverband. Ministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz wird Steffi Lemke. Die gebürtige Dessauerin war Mitbegründerin der Grünen in der DDR und ist langjährige Bundestagsabgeordnete. Die 53-Jährige ist Zootechnikerin, sie hat ein Diplom als Agraringenieurin, und ihre Spezialgebiete waren in den vergangenen Jahren Artenschutz und Landwirtschaft.
Das Auswärtige Amt übernimmt Annalena Baerbock, das Ministerium für Wirtschaft und Klima Robert Habeck, der auch Vizekanzler wird. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth wird Staatsministerin für Kultur und Medien. (dot/clak)
gelitten haben. Damals hat er gegen ihn verloren, jetzt hat er obsiegt.
Diejenigen, für die Özdemir künftig als Minister zuständig ist, sehen seine Benennung zum Teil mit einer gewissen Skepsis. Bei einer Stimmungsabfrage des Magazins „Agrar heute“fanden es bis zum Freitagnachmittag zwei Drittel der Teilnehmer „nicht gut“, dass Özdemir Landwirtschaftsminister werden soll. Viele störten sich daran, dass er zu wenig Fachkompetenz habe. Andere sahen in dem Realo das kleinere Übel als in der diplomierten Agrarwissenschaftlerin Steffi Lemke, die am Donnerstag ebenfalls eine Zeit lang als Landwirtschaftsministerin gehandelt wurde. Sie gehört dem linken Grünen-Flügel an.