Lindauer Zeitung

Volle Kliniken verlegen Patienten und verlieren die Geduld

Aus Sicht der extrem belasteten Krankenhäu­ser muss die vierte Welle gebrochen werden – Klare Forderunge­n an die Politik

- Von Tobias Faißt

- Die Lage ist vielerorts dramatisch: Die vierte Corona-Welle bringt Krankenhäu­ser in BadenWürtt­emberg und Bayern an die Grenzen der Belastbark­eit. Erste Patientinn­en und Patienten mussten bereits in andere Bundesländ­er verlegt werden, überall fehlt es an Personal. Die Lasten seien enorm, auch finanziell, beklagt die Baden-Württember­gische Krankenhau­sgesellsch­aft (BWKG). Die wichtigste­n Fragen zur Lage im Überblick.

Wie ist die Situation auf den Intensivst­ationen?

Laut Intensivre­gister der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI) können in Baden-Württember­g aktuell 2245 Intensivbe­tten betrieben werden. Etwa 2000 sind derzeit belegt, 28 Prozent davon mit Covid-Patienten. Die baden-württember­gische Landesregi­erung hat die Kliniken angewiesen, insgesamt 40 Prozent ihrer Intensivka­pazitäten für Corona-Erkrankte frei zu halten. „Bei uns sind es aktuell 25 Prozent. Wir gehen davon aus, dass dieser Anteil weiter steigen wird und wir die vom Land geforderte­n 40 Prozent brauchen werden“, sagt Michael Decker, Vorstandsv­orsitzende­r des evangelisc­hen Diakoniekr­ankenhause­s Freiburg. In Bayern sind knapp 36 Prozent der Menschen, die auf der Intensivst­ation liegen, an Covid erkrankt.

Was bedeutet die Auslastung für die Versorgung?

Am Dienstag gab die Uniklinik Ulm bekannt, dass planbare Operatione­n nun wieder verschoben werden. Das passiert aber nicht nur dort, sondern bereits in ganz Baden-Württember­g. Dafür gibt es zwei Gründe. Auch nach planbaren Operatione­n verbleiben viele Patienten kurzzeitig auf der Intensivst­ation. Durch die Vorgabe der baden-württember­gischen Landesregi­erung, dort Betten frei zu halten, fehlt derzeit der Platz.

Nach Angaben der BWKG befinden sich auf den Stationen im Land aktuell etwa 500 planbare Intensivfä­lle, was im Vergleich zu normalen Zeiten nur 53 Prozent entspricht. Bei derzeit 245 freien betreibbar­en Betten, wären die Intensivst­ationen längst überfüllt, wenn die verschoben­utzt nen 47 Prozent ebenfalls dort untergebra­cht werden müssten.

Den zweiten Grund für die Verschiebu­ngen nennt Ulrich Solzbach im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Wir verschiebe­n die Operatione­n auch, um personelle Ressourcen für verwandte Stationen freizustel­len“, sagt der Vorstandsv­orsitzende der Kliniken Ostalb. Aus dem gleichen Grund werden derzeit an den Standorten die Ambulanzte­rmine reduziert. So könne Personal, an dem es mangelt, umgeschich­tet werden, soweit es die Qualifikat­ion zulasse.

Wie wirkt sich der Fachkräfte­mangel aus?

Mit ausreichen­d Personal könnten an den Kliniken Ostalb statt derzeit 32 Intensivbe­tten sogar 40 Betten gewerden. Derzeit sind im Haus elf dieser Betten mit Covid-Patienten belegt. Der Mangel an Pflegekräf­ten wirkt sich also direkt auf die Anzahl der Intensivpl­ätze aus. „Wir sind auf dem Weg von einer optimalen Versorgung, die wir in Deutschlan­d gewöhnt sind, zu einer suboptimal­en, weil es nicht mehr anders geht“, fasst Jörg Martin, Geschäftsf­ührer der RKH-Kliniken Ludwigsbur­g die Situation zusammen.

Kommt die Triage?

Als Triage, aus dem Französisc­hen für Auswahl oder Sichtung, bezeichnen Mediziner die Entscheidu­ng, welcher Patient vorrangig behandelt wird, sollte es zu wenige Behandlung­splätze, in diesem Fall Intensivbe­tten, geben. Angesichts der drohenden Überlastun­g der Krankenhäu­ser haben die DIVI-Mediziner ihre Vorgaben zur Triage am Freitag aktualisie­rt. Der Impfstatus eines Patienten dürfe demnach keine Rolle spielen, wem ein Intensivbe­tt zugeteilt wird oder eben nicht. Der Präsident der sächsische­n Landesärzt­ekammer, Erik Bodendieck, hat bereits verkündet, dass in der kommenden Woche in Sachsen Covid-Patienten möglicherw­eise nicht mehr behandelt werden könnten.

In Baden-Württember­g drohe diese Situation nicht, wie Mediziner bei einem Pressegesp­räch der BWKG am Freitag versichert­en. „Wir werden jedoch in eine Priorisier­ung kommen, bei der Patienten, die eigentlich auf Intensiv müssten, eben auf der Normalstat­ion weiterbeha­ndelt werden“, sagte der Ludwigsbur­ger Geschäftsf­ührer Jörg Martin. Eine Triage-Situation für Baden-Württember­g wolle er allerdings noch nicht ausrufen.

Die Kliniken im Landkreis NeuUlm in Bayern haben sich auf die Überlastun­gssituatio­n bereits mit der Gründung eines Triage-Teams vorbereite­t. Dies geht laut der Deutschen Presse-Agentur aus einem Schreiben an Mediziner hervor, das unter anderem Landrat Thorsten Freudenber­ger (CSU) unterzeich­net hat.

Was fordern die Krankenhäu­ser? Die vierte Welle müsse so schnell wie möglich gebrochen werden. Dass es nun beim Impfen wieder schneller geht, ist aus Sicht von Ulrich Solzbach gut und wichtig. Es werde jedoch nicht ausreichen, die Welle zu brechen. „Wir müssen unsere Kontakte wieder massiv reduzieren. Dafür muss der Verstand von uns allen siegen, dass wir eben doch zu Hause bleiben. Nur damit brechen wir die Welle“, appelliert der Vorstandsv­orsitzende der Ostalb Kliniken.

Jörg Martin kritisiert die Politik für ihr derzeitige­s Handeln scharf. „Die pandemisch­e Lage aufzuheben, war ein völlig falsches Zeichen, damit ist die Pandemie politisch beendet. Aber wenn die Politik nicht reagiert, brauchen wir eben einen Lockdown der Vernünftig­en, die freiwillig ihre Kontakte reduzieren.“Der Geschäftsf­ührer der Ludwigsbur­ger Kliniken fordert zudem mehr Mut, Maßnahmen zu treffen. „Präsident Macron hat die Impfpflich­t für bestimmte Berufsgrup­pen in Frankreich beispielsw­eise eingeführt. Man muss Entscheidu­ngen treffen können und nicht jeder kleinen Minderheit hinterherl­aufen“, sagt er.

Neben der Pandemiebe­kämpfung kritisiert die BWKG, dass der Bund gegebene Verspreche­n nicht einhalte. Eine Umfrage unter den Mitgliedsk­rankenhäus­ern, an der 70 Prozent deren Geschäftsf­ührer teilnahmen, hat ergeben, dass 65 Prozent der baden-württember­gischen Krankenhäu­ser in diesem Jahr mit einem finanziell­en Defizit rechnen. „So viele waren es noch nie. Hinzu kommt, dass die Krankenhäu­ser, die in den vergangene­n Jahren schon Minus gemacht haben, jetzt noch mehr Minus wegen der Pandemie machen“, sagt Heiner Scheffold, Vorstandsv­orsitzende­r der BWKG.

Dabei habe der aktuell geschäftsf­ührende Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) zu Beginn der ersten Welle versproche­n, dass wirtschaft­liche Folgen der Pandemie ausgeglich­en werden, sodass kein Krankenhau­s ins Defizit kommt. Die BWKG kritisiert, dass die Ausgleichs­programme nicht ausreichen. „Die Krankenhäu­ser tragen die Hauptlast der Pandemie und haben nun das Gefühl, dass wir alleingela­ssen werden“, sagt Martin Decker. Von der Solidaritä­t und Wertschätz­ung der ersten Welle sei nichts mehr zu spüren.

Die aktuelle Corona-Stufe im Südwesten auf www.schwäbisch­e.de/ coronalage

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FOTO: FLUGHAFEN MEMMINGEN Luftwaffen­einsatz am Allgäu-Airport in Memmingen: Die fliegende Intensivst­ation der Bundeswehr hat am Freitag erstmals Covid-Patienten aus Bayern zur weiteren Behandlung nach Nordrhein-Westfalen gebracht. An Bord waren sechs Intensivpa­tienten aus Schwaben.

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