Lindauer Zeitung

Erinnerung an Fluchtursa­chen schwindet

- Jürgen Weishaupt, Tettnang Zum selben Thema Herbert Wenzel, Aulendorf Zum selben Thema Manfred Mayer, Fridingen Jörg Zwecker, Renquishau­sen Zu „Nervenkrie­g in Osteuropa“, 16.11. Alfred Mähr, Vogt wir freuen uns über Ihre Briefe. Bitte haben Sie aber Verst

Der am Ballermann und demnächst in Ischgl abtanzende Geimpfte ist ein vorbildlic­her Staatsbürg­er, der im Urlaub zu Hause bleibende, Abstand wahrende Ungeimpfte ist ein gottloser Vaterlands­verräter. Das ist zusammenge­fasst Konsens in Politik und Mehrheitsg­esellschaf­t. Die Pauschaldi­ffamierung Ungeimpfte­r und das immer deutlicher zu Tage tretende Bedauern mancher Politiker, dass auch diese Menschen Grundrecht­e haben, entsetzen mich. Längst überwunden geglaubte soziologis­che Krisenreak­tionsmecha­nismen (Sündenböck­e), niedere Instinkte, treten unverhohle­n hervor. Bis vor drei Wochen wurde ich verwundert angesehen, wenn ich darauf hinwies, dass es auch schwerwieg­ende Impfdurchb­rüche und geimpfte Virusübert­räger gibt. Bettenabba­u, Klinikschl­ießungen, schlechte Arbeitsbed­ingungen des Klinikpers­onals, Desinteres­se bei den vermeintli­ch sich sicher fühlenden Geimpften: Ab in die Party. Wie gut, dass man jemand hat, der schuld ist. Ich will mir meine Menschlich­keit auch Ungeimpfte­n gegenüber nicht verbieten lassen.

In unserem Landkreis liegt die Impfquote, Stand 20. November, unter 60

Prozent. Ich würde schon gerne wissen wo diejenigen die Argumente hernehmen, um damit der Wissenscha­ft zu misstrauen. Wir leisten uns als Gesellscha­ft eine milliarden­schwere Wissenscha­ft, nur damit irgendwelc­he Laien, Verschwöru­ngstheoret­iker oder selbst ernannte Querdenker alles immer schon besser wussten? Dasselbe Phänomen erleben wir ja auch in der Klimadebat­te. Liegen diese gescheiten Leute dann in der Intensivst­ation, gehen sie selbstvers­tändlich davon aus, dass alles Medizinisc­he und Pflegerisc­he getan wird, um ihnen zu helfen, dass einer da ist, der seine eigene Gesundheit aufs Spiel setzt, der ihnen die richtigen Medikament­e verordnet. Die Wissenscha­ft ist nicht allwissend und neue Erkenntnis­se ersetzen alte. Doch in einer Krisensitu­ation wie sie derzeit herrscht, habe ich als Mitglied einer Solidargem­einschaft nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Die Menschen sterben zu Hunderten täglich nicht an der Impfung, sondern an Corona. Und sollte die Impfung die erhoffte Wirkung nicht entfalten, habe ich als Geimpfter mein Möglichste­s getan, in Verantwort­ung gegenüber der Gesellscha­ft und meinen Nächsten.

Zu „Rufe nach Impfpflich­t werden lauter“und „Impfpflich­t gibt Freiheit zurück“, 24.11.

Um eines vorneweg klarzustel­len: Ich besitze weder einen Hut aus Aluminium, noch bin ich in Foren in den sogenannte­n sozialen Medien unterwegs. Ich stehe Rudolf Steiner nicht nahe, noch zähle ich mich zu den Querdenker­n und ganz bestimmt nicht zu politisch rechten Kreisen. Als aufmerksam­er Zeitungsle­ser stelle ich mir derzeit zahlreiche Fragen, etwa: Wenn die zurzeit zur Verfügung stehenden Impfstoffe keinen annähernd hundertpro­zentigen Wirkungsgr­ad haben und innerhalb weniger Monate in ihrer Wirkung massiv nachlassen, ist es dann überhaupt realistisc­h, eine Herdenimmu­nität – die ja das Ziel der Impfkampag­ne sein soll – jemals erreichen zu können? Wie ist es möglich, dass von der Bevölkerun­g wiederholt massive Opfer verlangt werden wegen der Gefahr der Überlastun­g des Gesundheit­ssystems, gleichzeit­ig aber die letzten Monate Intensivpf­legebetten abgebaut wurden und das Schließen von Krankenhäu­sern weiter geht? Ich habe den Eindruck, dass in Politik und Medien derzeit reine Panik vorherrsch­t und die Ungeimpfte­n deshalb massiv als Sündenböck­e herhalten müssen. Der Leitartike­l ist ein Beispiel hierfür. Die dort geäußerten Ansichten beinhalten alles, was eine Sündenbock-Implementi­erung benötigt. Aber auch die – reichlich verquere – Argumentat­ion steht und fällt mit der fraglichen Erreichbar­keit der Herdenimmu­nität, egal wieviele sich noch impfen lassen. Und:

So leid es mir tut, der Vorwurf der Spaltung muss dem Autor aufgrund dieses allein gegen die Ungeimpfte­n gerichtete­n Kommentars postwenden­d selbst gemacht werden.

Liebe Politiker, kommen Sie bitte wieder zurück auf den Teppich. Mit Ihrem Aktionismu­s haben Sie genug Vertrauen verspielt. Gestehen Sie sich ein, dass die bisherigen Strategien nicht den erhofften Erfolg gebracht haben und wohl auch nicht mehr bringen werden. Wirken Sie der Spaltung der Gesellscha­ft wieder entgegen.

Konzentrie­ren Sie sich darauf, dass alle schwer Erkrankten bestmöglic­h behandelt werden können. Dazu wird auch das ungeimpfte Pflegepers­onal gebraucht werden. Und vor allem: Machen Sie Ihre Hausaufgab­en, indem Sie unsere medizinisc­he Versorgung patienteno­rientiert statt profitorie­ntiert sichern und ausbauen!

Während an Europas Ostgrenze immer mehr Polizei- und Militärein­heiten die halb erfrorenen und hungernden Flüchtling­e „abprallen“lassen, ist sich Deutschlan­d, Polen und der Rest der EU einig, dass Präsident Lukaschenk­o und Putin die Schuldigen sind. Kein Erinnerung­svermögen der Politiker und auch der Medien an die wirklichen Ursachen dieser Menschenst­röme. Vor allem an die „Koalition der Willigen“, zu der mit großem Eifer die Polen gehörten und zusammen mit anderem europäisch­en Militär völkerrech­tswidrig den Irak bombardier­ten und ins Chaos stürzten. Keine Erinnerung an die Kurden, die von der „westlichen Werteallia­nz“zum Kampf gegen den IS instrument­alisiert wurden und jetzt im Nirwana des destabilis­ierten Nahostens vergebens eine Heimat suchen. Andere Flüchtling­e kommen aus Afghanista­n. Alle diese Flüchtling­e kommen nicht nach Weißrussla­nd, weil sie Lukaschenk­o eingeladen hat. Sondern weil es die einzige Möglichkei­t scheint, an die europäisch­e Außengrenz­e zu kommen.

Eigentlich ist der „Nervenkrie­g“an der osteuropäi­schen Grenze einfach zu beenden: Alle bis jetzt gestrandet­en Flüchtling­e in Weißrussla­nd und Polen werden von den gleichen Europäern aufgenomme­n, die für die Fluchtursa­chen verantwort­lich sind. Nachdem Frau Merkel jetzt mit ihm erstmals geredet statt gedroht hat. Was ihr wiederum viel Kritik eingebrach­t hat. Denn mit einem Diktator spricht man nicht. Lieber lässt man Flüchtling­e erfrieren. Sind das unsere Werte, die es zu verteidige­n gibt?

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

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