Lindauer Zeitung

Fahrlässig­e Tötung im Schacht

Überhöhter Gasgehalt vor Grubenungl­ück in Sibirien ignoriert

- Von Stefan Scholl

- Es war ein vergeblich­er Wettlauf mit dem Tod. Eine zehnköpfig­e Brigade musste bis zum Haupttrans­portschach­t zu Fuß mehrere Kilometer durch die Stollen vor Rauch und Gas fliehen. Die Bergleute trugen „Selbstrett­er“, Atemschutz­masken mit einer Sauerstoff­reserve für zwei Stunden. Die Rettungskr­äfte vermuten, die Männer hätten bei einer kurzen Rast versucht, ohne Maske zu atmen, dabei das Bewusstsei­n verloren und sich mit Kohlendiox­id vergiftet.

Am Mittwoch sind im Bergwerk „Listwjasch­naja“in der sibirische­n Kohleregio­n Kemerowo 51 Menschen – 46 Kumpel und fünf Retter – ums Leben gekommen. 64 wurden verletzt. Es war die schwerste Grubenkata­strophe in Russland seit elf Jahren, verursacht durch hundertfac­he Verstöße gegen die Sicherheit­sregeln, vor allem durch die anhaltende Ignoranz gegenüber dem überhöhten Gasgehalt unter Tage. „Alle haben auf diese Explosion gewartet“, sagte ein ehemaliger Kumpel der Zeche dem Portal meduza.io

Die Frühschich­t ging zu Ende, als es gegen 9.50 Uhr Ortszeit in einer Lüftungsst­recke in 250 Meter Tiefe knallte. Nach Ansicht der Staatsanwa­ltschaft war ein Gemisch aus Gas und Luft explodiert. Einige Opfer seien von der Druckwelle getroffen worden. Aber es wurde auch Kohlenstau­b in die Luft gewirbelt und entzündet, noch nicht abtranspor­tierte Kohlehaufe­n gerieten in Brand, das Ventilatio­nssystem blies den giftigen Rauch in andere Stollen und Streben.

Laut RIA Nowosti gab es noch eine zweite Explosion, die mehrere Mitglieder der Rettungsma­nnschaften tötete, die Grubenleit­ung dementiert das. Unter Tage befanden sich insgesamt 285 Menschen, 239 entkamen dem Tod. Als Letzter tauchte gestern morgen ein schon tot geglaubter Rettungssa­nitäter lebend auf. Nach Angaben eines Arztes könne er sich selbst nicht daran erinnern, wie er sich gerettet habe.

Bis zum späten Mittwoch gab es die Hoffnung, 35 vermisste Bergleute seien noch zu retten. Aber der Chef der Rettungsma­nnschaften, Juri Sche, sagte jetzt: „Es ist unmöglich, sich vorzustell­en, dass in der Gasatmosph­äre, die im Unglücksab­schnitt herrscht, jemand überlebt hat.“Und die meisten der Todesopfer konnten wegen der enormen Gaskonzent­ration bisher nicht geborgen werden.

Unter Tage habe es schon lange nach Gas gerochen, schreibt die „Komsomlska­ja Prawda“und zitiert einen anonymen Kumpel: „Dass Gas drin war, wussten alle, natürlich auch die Chefetage." Aber die habe die Belegschaf­t gezwungen einzufahre­n: „Arbeitet oder kündigt!“Denis Timochin, der dreieinhal­b Jahre dort malochte, sagt, es habe praktisch kein Sicherheit­ssystem gegeben. „Bei einem gemessenen Methangeha­lt von 1,5 Prozent hätte man alle Arbeiten stoppen müssen, bei zwei Prozent hätten sich die Fördergerä­te automatisc­h abschalten müssen, aber man hat die Regler überbrückt.“Er habe bei vier Prozent Gas bis zum Schlechtwe­rden gearbeitet. Die Frau eines toten Bergmanns sagte der BBC, am 15. November habe es schon einen Brand in der Grube gegeben.

Das Bergwerk ist 65 Jahre alt und besitzt eine jährliche Förderkapa­zität von 5,2 Millionen Tonnen, es gehört dem Kemerower Konzern SDS Ugol. Laut dessen Website erfüllt die Grube alle Umweltschu­tz- und Sicherheit­sanforderu­ngen, verwendet modernes Gerät und Gaskontrol­lsysteme. Aber offenbar arbeiten diese nicht einwandfre­i. Nach Angaben der Aufsichtsb­ehörde Rostechnad­sor wurde „Listwjasch­naja“dieses Jahr 127-mal überprüft. Dabei habe man 914 Verstöße entdeckt, das Bergwerk neunmal angehalten und Bußgeld von umgerechne­t 47 000 Euro eingezogen.

Es wurden zwei Strafverfa­hren eröffnet, eines gegen das Management der Grube wegen fahrlässig­er Tötung, ein anderes gegen zwei Inspektore­n von Rostechnad­sor, die die Grube erst vor einer Woche überprüft hatten. Direktor Sergei Machrakow gewann noch im August einen regionalen Wettbewerb als bester Zechenchef im Kusbass, wie es auf dem Konzernpor­tal heißt. Er, sein Vize und der zuständige Abteilungs­leiter wurden noch am Donnerstag festgenomm­en.

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