Revolte kurz nach Mitternacht
Bayern-Hauptversammlung läuft aus dem Ruder – Bosse sind von Mitgliederkritik überfordert
- Womöglich war es wie bei einem Unfall oder einem Horrorfilm. Man will wegschauen, wegzappen, kann aber nicht, ist gefesselt. Und so verfolgte Julian Nagelsmann auf seiner ersten Jahreshauptversammlung, die er als Cheftrainer des FC Bayern erlebte, das ganze Desaster der über fünfstündigen Veranstaltung am Donnerstagabend im Audi Dome bis zum Schluss, bis zum bitteren Ende. Selbst die Tumulte nach der offiziellen Beendigung der Mitgliederversammlung um 0.15 Uhr, als es im Saal nicht wie sonst nach Freibier und Jubelarien, sondern nach Revolte roch, bekam Nagelsmann noch hautnah mit. Der 34-Jährige sprach am Freitagnachmittag von einer „leicht aggressiven Stimmung“. Diplomatisch formuliert. Als sich Nagelsmann coronakonform für ein paar Selfies zur Verfügung stellen wollte, intervenierte der Sicherheitsdienst ob der aufgeladenen Stimmung. Nagelsmann: „Der ein oder andere Ordnungsmitarbeiter wollte mich lieber früher als später rausbegleiten.“
Zum Höhepunkt der Eskalation rund um die Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem Reizthema Katar-Sponsoring kam es, als Präsident Herbert Hainer höchst unsensibel, weil genervt und erschreckend ratlos über derlei Konfrontation mit den eigenen Fans, unter Tagesordnungspunkt
zehn einem Mitglied untersagte, seine angemeldete Wortmeldung auf dem Podium vorzutragen. Der lautstarke und zunehmend aggressivere Teil der 780 anwesenden Mitglieder brüllte seinen Frust darüber hinaus, so von oben herab behandelt zu werden: „Hainer raus!“und „Vorstand raus!“schallte es von den Rängen. Oder auch: „Wir sind die Fans, die ihr nicht wollt!“und „Wir sind Bayern – und ihr nicht!“Das Mitglied, dem der Wortbeitrag von Hainer („Sie werden mir als Versammlungsleiter zugestehen, dass ich die Wortmeldungsliste schließen kann“) verwehrt wurde, stellte sich auf einen Stuhl und agierte unter dem Jubel der Fans. Sein Thema, das noch gar nicht zur Sprache gekommen war: der Rassismus-Skandal am Campus, dem Nachwuchsleistungszentrum des Vereins, und die seiner Meinung nach mangelhafte Aufklärung. Zwischenzeitlich konnte man Uli Hoeneß, den Ehrenpräsidenten, am Rednerpult sehen, er wollte wohl deeskalieren, verzichtete aber in letzter Sekunde darauf. Bezeichnend, dass Hoeneß, Bauch und Seele des Vereins ohne aktives Amt, als entsetzter Augenzeuge, vorzog, zu schweigen. Hoeneß-Nachfolger Hainer, einst als Vorstandsvorsitzender des Weltkonzerns Adidas AG gänzlich anders temperierte Veranstaltungen dieser Art gewohnt, entglitt die Situation in der aufgeladenen Atmosphäre völlig. Auch wenn nur knapp 800 der über 290 000 Mitglieder weltweit in die Halle gekommen waren – das ist Basisdemokratie. Die Bosse unterschätzten den Volkszorn und die wütende Fanszene. Hoeneß schäumte beim Verlassen der Halle: „Das war die schlimmste Veranstaltung beim FC Bayern, die ich je erlebt habe.“1979 wurde er Manager.
Schlimm, weil das Miteinander und die Diskussionskultur miserabel waren. Schlimm, weil trotz aller glanzvollen Pokale auf der Bühne der besten sportlichen Saison der Vereinsgeschichte (sechs Titel in 2019/ 20) sowie verkraftbarer finanzieller Gewinneinbrüche trotz der CoronaPandemie sich Verein und Bosse sowie die politisch aktive Fanszene unversöhnlich gegenüberstanden. Vor allem in der Frage, ob die Millionensummen, die man dank des Sponsoring-Deals mit Qatar Airways einnimmt, angesichts der Menschenrechtsverletzungen im WM-Gastgeberland von 2022 moralisch zu vertreten sind. Da halfen selbst die ruhig vorgetragenen Worte von Vorstandsboss Oliver Kahn nicht („Wir haben klare Kriterien, an denen wir solche Partnerschaften ausrichten. Grundsätzlich ist der Dialog zu führen. Da kann man sich möglicherweise auch noch verbessern“). Hainer meinte dazu: „Wir haben bei Weitem nicht entschieden, mit Katar weiterzumachen. So wie Katar noch nicht entschieden hat, mit uns weiterzumachen.“ Doch der Vertrag bis 2023 soll erfüllt werden.
Und am schlimmsten, weil die Kommunikation des Vereins dilettantisch war. Die Taktik von Vorstand und Präsidium, das Thema totzuschweigen und einen Antrag dazu nicht zur Abstimmung zu stellen – weil laut Landgericht München nicht zulässig – hat weiteres Öl in die feurige Diskussion gegossen. Um 1 Uhr nachts, als sich rund 400 Personen weigerten, die Halle zu verlassen, musste die Polizei anrücken.
Nagelsmann („Emotionen sind nicht immer der perfekte Begleiter, um Lösungen für Probleme zu finden“) war nach eigener Aussage erst um 2.36 Uhr im Bett und bereitete am Freitag das Heimspiel gegen Bielefeld (Samstag, 18.30 Uhr/Sky) vor. „Das ist für uns ein extrem wichtiges Spiel, weil wir nicht mehr diesen VierPunkte-Vorsprung haben“, sagte der Trainer eine Woche vor dem Topspiel in Dortmund: „Diese beiden Spiele sind sehr wichtig, um vielleicht einen big point landen zu können.“
Doch das Sportliche ist vorerst in den Hintergrund gerückt. Die Bosse werden sich die Köpfe darüber zerbrechen, wie die Gemengelage mit der aktiven Fanszene noch zu kitten ist. Für das Katar-Thema lässt sich das Bild mit dem Krug hernehmen, der so lange zum Brunnen geht, bis er bricht. Der Scherbenhaufen in der BayernFamilie ist längst real.