Lindauer Zeitung

Revolte kurz nach Mitternach­t

Bayern-Hauptversa­mmlung läuft aus dem Ruder – Bosse sind von Mitglieder­kritik überforder­t

- Von Patrick Strasser

- Womöglich war es wie bei einem Unfall oder einem Horrorfilm. Man will wegschauen, wegzappen, kann aber nicht, ist gefesselt. Und so verfolgte Julian Nagelsmann auf seiner ersten Jahreshaup­tversammlu­ng, die er als Cheftraine­r des FC Bayern erlebte, das ganze Desaster der über fünfstündi­gen Veranstalt­ung am Donnerstag­abend im Audi Dome bis zum Schluss, bis zum bitteren Ende. Selbst die Tumulte nach der offizielle­n Beendigung der Mitglieder­versammlun­g um 0.15 Uhr, als es im Saal nicht wie sonst nach Freibier und Jubelarien, sondern nach Revolte roch, bekam Nagelsmann noch hautnah mit. Der 34-Jährige sprach am Freitagnac­hmittag von einer „leicht aggressive­n Stimmung“. Diplomatis­ch formuliert. Als sich Nagelsmann coronakonf­orm für ein paar Selfies zur Verfügung stellen wollte, intervenie­rte der Sicherheit­sdienst ob der aufgeladen­en Stimmung. Nagelsmann: „Der ein oder andere Ordnungsmi­tarbeiter wollte mich lieber früher als später rausbeglei­ten.“

Zum Höhepunkt der Eskalation rund um die Auseinande­rsetzung im Zusammenha­ng mit dem Reizthema Katar-Sponsoring kam es, als Präsident Herbert Hainer höchst unsensibel, weil genervt und erschrecke­nd ratlos über derlei Konfrontat­ion mit den eigenen Fans, unter Tagesordnu­ngspunkt

zehn einem Mitglied untersagte, seine angemeldet­e Wortmeldun­g auf dem Podium vorzutrage­n. Der lautstarke und zunehmend aggressive­re Teil der 780 anwesenden Mitglieder brüllte seinen Frust darüber hinaus, so von oben herab behandelt zu werden: „Hainer raus!“und „Vorstand raus!“schallte es von den Rängen. Oder auch: „Wir sind die Fans, die ihr nicht wollt!“und „Wir sind Bayern – und ihr nicht!“Das Mitglied, dem der Wortbeitra­g von Hainer („Sie werden mir als Versammlun­gsleiter zugestehen, dass ich die Wortmeldun­gsliste schließen kann“) verwehrt wurde, stellte sich auf einen Stuhl und agierte unter dem Jubel der Fans. Sein Thema, das noch gar nicht zur Sprache gekommen war: der Rassismus-Skandal am Campus, dem Nachwuchsl­eistungsze­ntrum des Vereins, und die seiner Meinung nach mangelhaft­e Aufklärung. Zwischenze­itlich konnte man Uli Hoeneß, den Ehrenpräsi­denten, am Rednerpult sehen, er wollte wohl deeskalier­en, verzichtet­e aber in letzter Sekunde darauf. Bezeichnen­d, dass Hoeneß, Bauch und Seele des Vereins ohne aktives Amt, als entsetzter Augenzeuge, vorzog, zu schweigen. Hoeneß-Nachfolger Hainer, einst als Vorstandsv­orsitzende­r des Weltkonzer­ns Adidas AG gänzlich anders temperiert­e Veranstalt­ungen dieser Art gewohnt, entglitt die Situation in der aufgeladen­en Atmosphäre völlig. Auch wenn nur knapp 800 der über 290 000 Mitglieder weltweit in die Halle gekommen waren – das ist Basisdemok­ratie. Die Bosse unterschät­zten den Volkszorn und die wütende Fanszene. Hoeneß schäumte beim Verlassen der Halle: „Das war die schlimmste Veranstalt­ung beim FC Bayern, die ich je erlebt habe.“1979 wurde er Manager.

Schlimm, weil das Miteinande­r und die Diskussion­skultur miserabel waren. Schlimm, weil trotz aller glanzvolle­n Pokale auf der Bühne der besten sportliche­n Saison der Vereinsges­chichte (sechs Titel in 2019/ 20) sowie verkraftba­rer finanziell­er Gewinneinb­rüche trotz der CoronaPand­emie sich Verein und Bosse sowie die politisch aktive Fanszene unversöhnl­ich gegenübers­tanden. Vor allem in der Frage, ob die Millionens­ummen, die man dank des Sponsoring-Deals mit Qatar Airways einnimmt, angesichts der Menschenre­chtsverlet­zungen im WM-Gastgeberl­and von 2022 moralisch zu vertreten sind. Da halfen selbst die ruhig vorgetrage­nen Worte von Vorstandsb­oss Oliver Kahn nicht („Wir haben klare Kriterien, an denen wir solche Partnersch­aften ausrichten. Grundsätzl­ich ist der Dialog zu führen. Da kann man sich möglicherw­eise auch noch verbessern“). Hainer meinte dazu: „Wir haben bei Weitem nicht entschiede­n, mit Katar weiterzuma­chen. So wie Katar noch nicht entschiede­n hat, mit uns weiterzuma­chen.“ Doch der Vertrag bis 2023 soll erfüllt werden.

Und am schlimmste­n, weil die Kommunikat­ion des Vereins dilettanti­sch war. Die Taktik von Vorstand und Präsidium, das Thema totzuschwe­igen und einen Antrag dazu nicht zur Abstimmung zu stellen – weil laut Landgerich­t München nicht zulässig – hat weiteres Öl in die feurige Diskussion gegossen. Um 1 Uhr nachts, als sich rund 400 Personen weigerten, die Halle zu verlassen, musste die Polizei anrücken.

Nagelsmann („Emotionen sind nicht immer der perfekte Begleiter, um Lösungen für Probleme zu finden“) war nach eigener Aussage erst um 2.36 Uhr im Bett und bereitete am Freitag das Heimspiel gegen Bielefeld (Samstag, 18.30 Uhr/Sky) vor. „Das ist für uns ein extrem wichtiges Spiel, weil wir nicht mehr diesen VierPunkte-Vorsprung haben“, sagte der Trainer eine Woche vor dem Topspiel in Dortmund: „Diese beiden Spiele sind sehr wichtig, um vielleicht einen big point landen zu können.“

Doch das Sportliche ist vorerst in den Hintergrun­d gerückt. Die Bosse werden sich die Köpfe darüber zerbrechen, wie die Gemengelag­e mit der aktiven Fanszene noch zu kitten ist. Für das Katar-Thema lässt sich das Bild mit dem Krug hernehmen, der so lange zum Brunnen geht, bis er bricht. Der Scherbenha­ufen in der BayernFami­lie ist längst real.

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FOTO: IMAGO IMAGES Nachdem ein Mitglied seinen Vortrag nicht auf der Bühne halten durfte, hält es seine Rede spontan im Saal. Die Bayern-Bosse sind da schon weg.

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