Liebkosung mit Tinte und Füller
Briefeschreiben kommt nicht aus der Mode – Die Weihnachtspostfilialen öffnen wieder – Warum es sich nicht nur für Kinder lohnt, wieder einmal selbst zu Stift und Papier zu greifen
Subjektiv sind die Menschen, im Zeitalter des Zerfalls der Erfahrung zum Briefschreiben nicht mehr aufgelegt. Einstweilen sieht es so aus, als entzöge die Technik den Briefen ihre Voraussetzung. Weil Briefe, angesichts der prompteren Möglichkeiten der Kommunikation, der Schrumpfung zeiträumlicher Distanzen, nicht mehr notwendig sind, zergeht auch ihre Substanz an sich.“
Nein, diese Zeilen stammen nicht aus einer aktuellen Streitschrift gegen die Errungenschaften von Mails oder Whatsapp, Facebook oder Twitter. Sie sind schon ein paar Jahre älter. Mitte der 1960er-Jahre notierte Theodor W. Adorno sie in einem Kommentar über den Briefschreiber Walter Benjamin. Es sind Worte aus einer Ahnenreihe von Abschieden: Dem Brief ist in seiner Geschichte sehr oft sein Ende vorausgesagt worden. Das war bereits 1840 so, mit der ersten Briefmarke zum Aufkleben. Damals glaubte der wohlhabendere Teil der Gesellschaft, billiges Porto werde das Billige in einer Kunstform fördern, die man besser den Kennern überlassen hätte. „Das Penny-Porto ist das Ende“war damals ein viel zitiertes Klischee.
Im 21. Jahrhundert diskutieren wir nun, ob es Mails, Messengerdienste und Social Media sind, die dem Briefeschreiben den Garaus machen. Diese Meinung teilt zum Beispiel Detlev Schöttker, Professor am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Mails seien nun mal günstiger und flexibler: „Mehr als die analoge SchwarzWeiß-Fotografie oder das Programmradio ist der Papierbrief deshalb seit Jahren mediale Vergangenheit, die inzwischen in wunderbaren Ausstellungen und Katalogen präsentiert wird“, gab Schöttker in einem Gastbeitrag für die Hochschulzeitschrift „Forschung und Lehre“zu Protokoll.
Ist digitale Kommunikation der Tod des Briefes? Studien der Hirnforschung zeigen, wie stark sie menschliche Persönlichkeit verändert. Beim Chatten und Posten auf Facebook beispielsweise werden
Johann Wolfgang von Goethe
andere Hirnpartien aktiviert als beim Briefeschreiben. Es sind Regionen, die mit Wohlgefühlen verbunden sind – wie beim Essen oder Sex –, die uns aber gleichzeitig hungrig nach mehr machen. Und genau so verhalten wir uns auch: Für viele ist der Blick in den MailAccount der erste am Morgen und der letzte am Abend. Es ist, als liefen wir alle paar Minuten zur Tür und schauten in den Briefkasten, ob
Ob in Engelskirchen, Himmelpforten oder Himmelstadt: Jeder Brief und jeder Wunschzettel will beantwortet werden. vielleicht der Postbote vorbeigekommen sei. Mit anderen Worten: Wir sind zu stark abgelenkt durch die Anforderungen des modernen Lebens, um uns auch nur eine Minute ruhig hinzusetzen, geschweige denn, nachzudenken und einen Brief zu schreiben.
Doch das Bedürfnis ist da. Und gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, meldet es sich in Form von krakeligen Handschriften, bunten Zeichnungen und in Papier eingehüllten Wünschen zurück: Unzählige Kinder schicken jedes Jahr ihre Wunschzettel in ein Dorf in Niedersachsen, das im Landkreis Stade liegt. Weil es heißt, dass dort das Christkind wohnt. Und zwar in 21709 Himmelpforten. Wer hierhin schreibt, hofft auf Antwort. Und wird nicht enttäuscht: Ein Team aus rund 30 Ehrenamtlichen, organisiert durch die Deutsche Post, beantwortet die Post. 32 000 Briefe kamen 2020 in Himmelpforten an – Corona und Online-Shopping zum Trotz. Auch in diesem Jahr wird die Tradition fortgesetzt, wieder werden Zehntausende Briefe erwartet. Auch wenn die Zahlen zuletzt rückläufig waren, sie sind immer noch beeindruckend. Am 26. November öffnete die Schreibstube des Christkinds wieder. Wer Antwort erhalten möchte, dessen Brief muss mindestens zehn Tage vor dem Heiligabend eingetroffen sein. Die liebenswerte Aktion, die 2021 ihr 50-jähriges Jubiläum feiert, zeigt: Briefe geraten nicht aus der Mode.
Auch im bayerischen Himmelstadt öffnet traditionell am 1. Advent die Weihnachtspostfiliale ihre himmlischen Pforten. Jedes Jahr schicken zahlreiche Kinder aus Deutschland und dem Ausland ihre Wunschzettel an die Adresse: An das Christkind, 97267 Himmelstadt. Eine weitere von insgesamt sieben Postfilialen unterhält das Christkind auch in Engelskirchen im Rheinland, wo seit den 1980erJahren die Weihnachtspost der Kinder beantwortet wird. 2020 waren es nahezu 150 000 Briefe aus über 50 Ländern, darunter zum Beispiel China, Japan, Taiwan, Chile, Brasilien und Togo.
Ein Aufwand, der sich offenbar lohnt. Denn ein persönlicher Brief ist aufgeladen mit dem, was wir Menschen am nötigsten brauchen: Zuwendung, Aufmerksamkeit und Liebe. Menschen haben diesen Schutz immer schon gesucht. Die Geburt der Briefkultur war einer der mächtigsten Schutzzauber, den wir entdecken konnten. Denn so wie keine zwei Menschen auf der Welt dieselbe Handschrift besitzen, ist vor allem der handgeschriebene Brief etwas Unverwechselbares. Er ist das „monologische Konstrukt eines Ichs“, wie der Literaturwissenschaftler
Karl Heinz Bohrer es einmal formulierte. Und immer auch eine Selbstentblößung, mit seinen durchgestrichenen Wörtern, mit der Papierwahl, mit seinem
Duft und verräterischen Zeichen. Wer kennt nicht die Tintenkleckse, die nach vergossenen Tränen entstehen. Ein solcher Brief ist etwas zutiefst Persönliches, das zwei Menschen miteinander verbindet.
Genau das fasziniert auch den britischen Autor Simon Garfield. „E-Mails“, so schreibt er, „sind ein freundlicher Schubs, aber Briefe sind eine Liebkosung.“In einem wunderbaren Buch zum Thema sinniert Garfield darüber, was wir verlieren, indem wir Briefe durch E-Mails ersetzen. Und er kommt auf so einiges: die Post, den Umschlag, einen Stift, ein langsameres Summen des Gehirns. Den Gebrauch unserer ganzen Hand und nicht nur unserer Fingerkuppen. Die tiefe und kreative Konzentration auf eine Sache, die den Menschen glücklich und zufrieden aus den Tiefen des Ichs auftauchen lässt.
„Glücklich ist, wer korrespondiert“, schrieb Goethe einst. Es ist ein Glück, das zwei sich teilen. Wenn wir einen richtigen Brief öffnen – einen, der nicht vom Finanzamt oder von den Stadtwerken kommt – erwarten wir darin etwas Besonderes zu finden, das uns allein gewidmet ist. Was wir dagegen nicht erwarten, ist: etwas Dringendes. Das nämlich haben wir schon früher über Telefon oder E-Mail erfahren.
Briefe!