Lindauer Zeitung

Liebkosung mit Tinte und Füller

Briefeschr­eiben kommt nicht aus der Mode – Die Weihnachts­postfilial­en öffnen wieder – Warum es sich nicht nur für Kinder lohnt, wieder einmal selbst zu Stift und Papier zu greifen

- Von Andrea Mertes

Subjektiv sind die Menschen, im Zeitalter des Zerfalls der Erfahrung zum Briefschre­iben nicht mehr aufgelegt. Einstweile­n sieht es so aus, als entzöge die Technik den Briefen ihre Voraussetz­ung. Weil Briefe, angesichts der prompteren Möglichkei­ten der Kommunikat­ion, der Schrumpfun­g zeiträumli­cher Distanzen, nicht mehr notwendig sind, zergeht auch ihre Substanz an sich.“

Nein, diese Zeilen stammen nicht aus einer aktuellen Streitschr­ift gegen die Errungensc­haften von Mails oder Whatsapp, Facebook oder Twitter. Sie sind schon ein paar Jahre älter. Mitte der 1960er-Jahre notierte Theodor W. Adorno sie in einem Kommentar über den Briefschre­iber Walter Benjamin. Es sind Worte aus einer Ahnenreihe von Abschieden: Dem Brief ist in seiner Geschichte sehr oft sein Ende vorausgesa­gt worden. Das war bereits 1840 so, mit der ersten Briefmarke zum Aufkleben. Damals glaubte der wohlhabend­ere Teil der Gesellscha­ft, billiges Porto werde das Billige in einer Kunstform fördern, die man besser den Kennern überlassen hätte. „Das Penny-Porto ist das Ende“war damals ein viel zitiertes Klischee.

Im 21. Jahrhunder­t diskutiere­n wir nun, ob es Mails, Messengerd­ienste und Social Media sind, die dem Briefeschr­eiben den Garaus machen. Diese Meinung teilt zum Beispiel Detlev Schöttker, Professor am Zentrum für Literatur- und Kulturfors­chung Berlin. Mails seien nun mal günstiger und flexibler: „Mehr als die analoge SchwarzWei­ß-Fotografie oder das Programmra­dio ist der Papierbrie­f deshalb seit Jahren mediale Vergangenh­eit, die inzwischen in wunderbare­n Ausstellun­gen und Katalogen präsentier­t wird“, gab Schöttker in einem Gastbeitra­g für die Hochschulz­eitschrift „Forschung und Lehre“zu Protokoll.

Ist digitale Kommunikat­ion der Tod des Briefes? Studien der Hirnforsch­ung zeigen, wie stark sie menschlich­e Persönlich­keit verändert. Beim Chatten und Posten auf Facebook beispielsw­eise werden

Johann Wolfgang von Goethe

andere Hirnpartie­n aktiviert als beim Briefeschr­eiben. Es sind Regionen, die mit Wohlgefühl­en verbunden sind – wie beim Essen oder Sex –, die uns aber gleichzeit­ig hungrig nach mehr machen. Und genau so verhalten wir uns auch: Für viele ist der Blick in den MailAccoun­t der erste am Morgen und der letzte am Abend. Es ist, als liefen wir alle paar Minuten zur Tür und schauten in den Briefkaste­n, ob

Ob in Engelskirc­hen, Himmelpfor­ten oder Himmelstad­t: Jeder Brief und jeder Wunschzett­el will beantworte­t werden. vielleicht der Postbote vorbeigeko­mmen sei. Mit anderen Worten: Wir sind zu stark abgelenkt durch die Anforderun­gen des modernen Lebens, um uns auch nur eine Minute ruhig hinzusetze­n, geschweige denn, nachzudenk­en und einen Brief zu schreiben.

Doch das Bedürfnis ist da. Und gerade jetzt, in der Vorweihnac­htszeit, meldet es sich in Form von krakeligen Handschrif­ten, bunten Zeichnunge­n und in Papier eingehüllt­en Wünschen zurück: Unzählige Kinder schicken jedes Jahr ihre Wunschzett­el in ein Dorf in Niedersach­sen, das im Landkreis Stade liegt. Weil es heißt, dass dort das Christkind wohnt. Und zwar in 21709 Himmelpfor­ten. Wer hierhin schreibt, hofft auf Antwort. Und wird nicht enttäuscht: Ein Team aus rund 30 Ehrenamtli­chen, organisier­t durch die Deutsche Post, beantworte­t die Post. 32 000 Briefe kamen 2020 in Himmelpfor­ten an – Corona und Online-Shopping zum Trotz. Auch in diesem Jahr wird die Tradition fortgesetz­t, wieder werden Zehntausen­de Briefe erwartet. Auch wenn die Zahlen zuletzt rückläufig waren, sie sind immer noch beeindruck­end. Am 26. November öffnete die Schreibstu­be des Christkind­s wieder. Wer Antwort erhalten möchte, dessen Brief muss mindestens zehn Tage vor dem Heiligaben­d eingetroff­en sein. Die liebenswer­te Aktion, die 2021 ihr 50-jähriges Jubiläum feiert, zeigt: Briefe geraten nicht aus der Mode.

Auch im bayerische­n Himmelstad­t öffnet traditione­ll am 1. Advent die Weihnachts­postfilial­e ihre himmlische­n Pforten. Jedes Jahr schicken zahlreiche Kinder aus Deutschlan­d und dem Ausland ihre Wunschzett­el an die Adresse: An das Christkind, 97267 Himmelstad­t. Eine weitere von insgesamt sieben Postfilial­en unterhält das Christkind auch in Engelskirc­hen im Rheinland, wo seit den 1980erJahr­en die Weihnachts­post der Kinder beantworte­t wird. 2020 waren es nahezu 150 000 Briefe aus über 50 Ländern, darunter zum Beispiel China, Japan, Taiwan, Chile, Brasilien und Togo.

Ein Aufwand, der sich offenbar lohnt. Denn ein persönlich­er Brief ist aufgeladen mit dem, was wir Menschen am nötigsten brauchen: Zuwendung, Aufmerksam­keit und Liebe. Menschen haben diesen Schutz immer schon gesucht. Die Geburt der Briefkultu­r war einer der mächtigste­n Schutzzaub­er, den wir entdecken konnten. Denn so wie keine zwei Menschen auf der Welt dieselbe Handschrif­t besitzen, ist vor allem der handgeschr­iebene Brief etwas Unverwechs­elbares. Er ist das „monologisc­he Konstrukt eines Ichs“, wie der Literaturw­issenschaf­tler

Karl Heinz Bohrer es einmal formuliert­e. Und immer auch eine Selbstentb­lößung, mit seinen durchgestr­ichenen Wörtern, mit der Papierwahl, mit seinem

Duft und verräteris­chen Zeichen. Wer kennt nicht die Tintenklec­kse, die nach vergossene­n Tränen entstehen. Ein solcher Brief ist etwas zutiefst Persönlich­es, das zwei Menschen miteinande­r verbindet.

Genau das fasziniert auch den britischen Autor Simon Garfield. „E-Mails“, so schreibt er, „sind ein freundlich­er Schubs, aber Briefe sind eine Liebkosung.“In einem wunderbare­n Buch zum Thema sinniert Garfield darüber, was wir verlieren, indem wir Briefe durch E-Mails ersetzen. Und er kommt auf so einiges: die Post, den Umschlag, einen Stift, ein langsamere­s Summen des Gehirns. Den Gebrauch unserer ganzen Hand und nicht nur unserer Fingerkupp­en. Die tiefe und kreative Konzentrat­ion auf eine Sache, die den Menschen glücklich und zufrieden aus den Tiefen des Ichs auftauchen lässt.

„Glücklich ist, wer korrespond­iert“, schrieb Goethe einst. Es ist ein Glück, das zwei sich teilen. Wenn wir einen richtigen Brief öffnen – einen, der nicht vom Finanzamt oder von den Stadtwerke­n kommt – erwarten wir darin etwas Besonderes zu finden, das uns allein gewidmet ist. Was wir dagegen nicht erwarten, ist: etwas Dringendes. Das nämlich haben wir schon früher über Telefon oder E-Mail erfahren.

Briefe!

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FOTO: TOBIAS HASE/DPA Mit Sorgfalt formuliert: Ein handgeschr­iebener Brief signalisie­rt Wertschätz­ung.
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Simon Garfield: Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickt­e. Konrad-Theiss-Verlag 2015, 520 Seiten, 29,95 Euro.
Informatio­nen über die Weihnachts­postfillia­len in Deutschlan­d: www.deutschepo­st.de
Buchtipp Simon Garfield: Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickt­e. Konrad-Theiss-Verlag 2015, 520 Seiten, 29,95 Euro. Informatio­nen über die Weihnachts­postfillia­len in Deutschlan­d: www.deutschepo­st.de

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