Nachtruhe besser nicht aufschieben
Wer regelmäßig später als geplant ins Bett geht, neigt zu Schlafprokrastination – Abendliche Rituale und ein paar Tricks helfen
Die Steuererklärung, die Darmkrebs-Vorsorge, das Fensterputzen – vieles lässt sich mit dem Satz „Später irgendwann, aber nicht jetzt!“aufschieben. Dazu gehört bei manchen leider auch der Schlaf, allerdings mit unerwünschten Folgen.
Mittlerweile gibt es mit „Revenge Bedtime Procrastination“sogar einen Begriff für das Phänomen des Schlafaufschubs: „Damit meinen wir das wiederholte viel zu späte InsBett-Gehen, obwohl die Gelegenheit dafür gegeben ist und wir wissen, dass wir am nächsten Tag todmüde sein werden“, erklärt die Psychologin und Buchautorin Anna Höcker („Heute fange ich wirklich an!“). Doch warum neigen so viele Menschen zu diesem Verhalten und nehmen in Kauf, nur dank extra starkem Kaffee einigermaßen durch den nächsten Tag zu kommen?
Wer zum ersten Mal den Begriff „Revenge Bedtime Procrastination“hört, stolpert womöglich über den Wortteil „Revenge“, was aus dem Englischen übersetzt auch „Rache“bedeuten kann. Anna Höcker erklärt, was dahintersteckt: „Durch diesen Wortzusatz wird implizit unterstellt, dass es sich um ein Verhalten handelt, das dazu dienen soll, sich Freizeit,
Freude und Sinn in den Abendstunden wieder zu holen.“Quasi ein kleines „Ätsch!“an den Alltag, in dem viele Menschen mit vielen Verpflichtungen und hohen Erwartungen konfrontiert sind. Der Haken dabei: Die abends gewonnene ExtraZeit verbringen viele nicht mit einem guten Buch, einem kreativen Hobby oder in der Badewanne, sondern meist vor Bildschirmen.
Höcker überrascht das nicht: „Bei Social-Media-Konsum, Netflix und Co. handelt es sich um Tätigkeiten, die wenig anstrengend sind und kurzfristig für Belohnung sorgen.“Und sie laden zum Hängenbleiben ein, nach dem Motto: Ach, eine Serienfolge oder ein Video auf Instagram – das geht doch noch!
Die Pandemie habe dieses Verhalten verstärkt, sagt Alfred Wiater, der sich als Schlafmediziner und Autor („Ticken Sie richtig?“) mit dem Thema beschäftigt. Durch Homeoffice, Kinderbetreuung, Haushalt und Pandemie-Sorgen seien die Möglichkeiten für Freizeit und Erholung geschrumpft. „Da liegt es nahe, wenn abends endlich Ruhe eingekehrt ist, sich endlich einmal abzulenken“, sagt Wiater. Übrigens: Wer generell gerne Dinge aufschiebt, ist auch eher von einer Schlafprokrastination betroffen. Für die Gesundheit kann das auf Dauer unerwünschte Folgen haben. Denn Schlafaufschieberitis münde rasch in einem Schlafmangel, mit dem nicht zu spaßen sei, sagt Wiater. Dass zu wenig Schlaf der Konzentrations- und Leistungsfähigkeit einen ordentlichen Knick verpasst, wissen die meisten aus eigener
Erfahrung. „Auch das Risiko für Fehler und Unfälle steigt durch ein Schlafdefizit“, erinnert der Schlafmediziner. Schlechte Stimmung sei ebenfalls damit verbunden. Dazu kommt: Das Immunsystem, das Herz-Kreislauf-System und der
Stoffwechsel brauchen ausreichend Schlaf, um gut und gesund arbeiten zu können. Die wahre Selbstfürsorge ist somit nicht noch ein niedliches Tiervideo im Internet, sondern eine ausreichend lange Nachtruhe.
Aber wie kommt man von der Aufschieberei wieder los? Die gute Nachricht: Prokrastination – ganz allgemein – ist ein Verhalten, das verlernt werden kann. „Nur ein kleiner Teil der Menschen, die prokrastinieren, bedarf der professionellen Behandlung“, sagt Wiater. Wer einen hohen Leidensdruck spürt und den Alltag kaum bewältigen kann, kann über eine Psychotherapie nachdenken. Alle anderen können schon mit kleineren Veränderungen selbst etwas bewirken.
Als ersten Schritt rät Anna Höcker, sich zu fragen, welche Funktion die Schlafprokrastination für einen selbst hat. Geht es darum, sich fehlende Zeit für sich selbst zurückzuholen? „Dann sollte man mehr Freude, Leichtigkeit, Freiraum und Sinnstiftendes in den Tag holen, um nicht das Gefühl zu haben, dies von der Nacht stehlen zu müssen.“Wer die Nachtruhe hingegen vor sich herschiebt, weil mit dem Moment des Licht-Ausknipsens Grübeleien einsetzen, kann sich vornehmen, die Probleme dahinter aufzuarbeiten. Möglich ist aber auch, dass der eigene Körper vor Mitternacht mit Schlaf nicht viel anfangen kann. „Vielleicht lässt sich dann der Alltag so gestalten, dass er besser zum Biorhythmus passt, etwa durch ein Gleitzeitmodell auf der Arbeit“, rät Höcker.
Wer der Schlafaufschieberitis auf den Grund gegangen ist, kann kleine Tricks nutzen, um sie sich abzugewöhnen. Die wichtigste Maßnahme sei, sich den Wecker zu stellen, sagt Alfred Wiater. Aber nicht etwa am Morgen, um rechtzeitig aufzustehen. Sondern am Abend. Das Klingeln erinnert daran, rechtzeitig ins Bett zu gehen. Um nicht in Versuchung zu geraten, am Smartphone zu versacken, kann man außerdem für sich die Regel schaffen, dass technische Geräte in den 30 Minuten vor dem Schlafgehen tabu sind.
Damit die eigenen Vorhaben nicht verwässern, helfen klar formulierte Wenn-dann-Sätze. Ein Beispiel: Wenn diese Sendung vorbei ist oder wenn der Wecker klingelt, dann mache ich mich bettfertig. Anna Höcker hält das für effektiv: „Die psychologische Forschung zeigt, dass das eine wirkungsvolle Methode ist, um Verhaltensänderungen durchzuhalten und stabile Gewohnheiten zu bilden.“Hilfreich ist es in jedem Fall, ein neues Abendritual zu etablieren, wie etwa eine Entspannungsübun oder eine Tasse Tee.