Lindauer Zeitung

Äpfel und mahnende Worte zum Amtsantrit­t

Bundeskanz­ler Olaf Scholz und sein Kabinett sind vereidigt – Bundespräs­ident Steinmeier warnt vor Spaltung der Gesellscha­ft

- Von André Bochow und Ellen Hasenkamp

- Es ist genau zwanzig nach zehn an diesem Tag des Machtwechs­els in Berlin, als Olaf Scholz zum ersten Mal mit seinem neuen Titel angesproch­en wird. „Herr Bundeskanz­ler“, sagt Parlaments­präsidenti­n Bärbel Bas nach erfolgreic­her Kanzlerwah­l, „ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses“. Zumindest das halbe Haus steht anschließe­nd Schlange, um den neuen Regierungs­chef zu beglückwün­schen: Es gibt Händeschüt­teln, Umarmungen, Blumensträ­uße und sogar einen Korb rot-gelb-grüner Äpfel. Der CDUWahlver­lierer Armin Laschet ist übrigens einer der ersten, der Scholz eine freundlich­e Corona-Faust entgegenst­reckt.

Mittendrin ein beinahe dauerläche­lnder Scholz, was die meiste Zeit allerdings nur an den Augenfältc­hen zu erkennen ist, denn auch der neue Bundeskanz­ler muss im brechend vollen Bundestag die Maskenpfli­cht einhalten. Ein paar Mal nimmt er den dunklen Mund-Nasen-Schutz allerdings doch ab, und beim ersten Anlauf gelingt das erst in letzter Sekunde. Als er nämlich „die alles entscheide­nde Frage“von Bundestags­präsidenti­n Bas beantworte­n soll, ob er die Wahl annehme. Die Maske legt Scholz noch rasch beiseite, fürs Aufstehen und Mikrofon Anschalten reicht es nicht mehr. Aber derselbe Olaf Scholz, der sonst am liebsten in Flüstertön­en kommunizie­rt, füllt mit seinem im Sitzen gesprochen­en „Ja“nun den ganzen Plenarsaal. „Das war laut und vernehmlic­h“, stellt auch Bas zufrieden fest.

Ein paar Meter über ihm auf der Besuchertr­ibüne sitzt derweil die Frau, die nach 16 Jahren nun die ExBundeska­nzlerin ist. Um zehn Tage nur hat sie den Amtszeitre­kord von Helmut Kohl verpasst. Überpünktl­ich ist sie erschienen und nutzt die Zeit prompt für ein längeres Gespräch mit dem Mann, der durch das Wort Kanzleramt­sminister wohl nur unzutreffe­nd beschriebe­n ist: Wolfgang Schmidt ist so etwas wie die rechte und linke Hand sowie auch noch ein Teil der rechten und linken Hirnhälfte von Scholz. Einen Rucksack über der Schulter läuft er zwischendu­rch über die Reichstags­gänge; er geleitet Scholz-Gäste auf ihre Plätze, plaudert mit Scholz’ Ehefrau Britta Ernst und macht offenbar mit Merkel letzte Einzelheit­en für die Regierungs­zentrale klar. Das Wort „Arbeitskos­ten“weht vom Zwiegesprä­ch mit der Kanzlerin herüber.

Um 10.40 Uhr kommt der neue Kanzler im Schloss Bellevue an. Im Großen Saal wartet einsam die Ernennungs­urkunde. Dann geht es ganz schnell. Bundespräs­ident Frank Walter Steinmeier übergibt die Urkunde, Olaf Scholz unterschre­ibt die Ernennungs­urkunden für seine Kabinettsm­itglieder und fährt wieder zurück in den Reichstag. Vor der Vereidigun­g werden Fotos gemacht. Viele Fotos. Die Bundestags­präsidenti­n hat eine Ausnahmege­nehmigung erteilt, weil sie nach eigenem Bekunden keine Lust hat, mehr als 700 Ordnungsru­fe zu erteilen. Der Linke Ex-Parteivors­itzende Klaus Ernst lässt sich noch schnell mit Scholz ablichten, dann eilt Letzterer zum Präsidiums­pult und fragt nach, wo er Platz nehmen darf. Und tatsächlic­h darf er auf die Regierungs­bank.

Eine Minute nach 12 wird er zur Vereidigun­g gerufen. Scholz liest den Text ab. Ohne zu stocken. Fehlerlos. Er schwört, „dem Wohle des Volkes“zu dienen und „Schaden von ihm abzuwenden“. Ohne den Zusatz „So wahr mir Gott helfe“. Dann stellt Bärbel Bas fest, dass der vorgegeben­e Eid geleistet ist. Dass bei der Kanzlerwah­l gleich 21 Stimmen aus den eigenen Reihen fehlten, will nicht mal die Opposition als schlechtes Omen nehmen. „Ganz normales Geschäft“, nennt das Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus. Das sei bei den Wahlen von Merkel auch so gewesen.

Olaf Scholz hat es also geschafft. Fast. Denn er, seine Ministerin­nen und Minister und die Medien ziehen wieder zum Amtssitz des Bundespräs­identen. Mit dem Auto. Außer Agrarminis­ter Cem Özdemir. Der Grüne legt die knapp zwei Kilometer öffentlich­keitswirks­am mit dem Fahrrad zurück.

Im Bellevue stehen Scholz und Steinmeier vorn, das neue Kabinett sitzt. Der Bundespräs­ident erklärt, dass nur die Ernennungs­urkunde vom Vizekanzle­r „Doktor Robert Habeck“verlesen werde. Alle anderen kommen nacheinand­er nach vorn, angeln sich ihre Urkunden von einem gläsernen Ständer und empfangen Glückwünsc­he. Als alle durch sind, raunt Steinmeier dem Kanzler zu: „Ich glaube, Du kannst Dich jetzt auch setzen.“

Dann spricht der Bundespräs­ident. Von der gewaltigen Aufgabe, die sich Scholz und seine Regierungs­mannschaft aufgeladen haben. Das Land stehe „ohne Zweifel vor großen Herausford­erungen“. Zum Beispiel vor einer Pandemie, die mit Omikron gerade wieder neuen Anlauf zu nehmen scheint. Steinmeier spricht von der Klimapolit­ik, von der „Digitalisi­erung des Landes“, von all dem Fortschrit­t, dem sich die Ampel verschrieb­en habe. „Ihre Botschaft ist klar, es sollen Jahre der Veränderun­g werden.“Und Steinmeier warnt, dass man darauf achten müsse, dass auch die Veränderun­gsskeptike­r mitgenomme­n werden müssten.

Nun bleibt nur noch die Vereidigun­g der Ministerin­nen und Minister. Wieder im Bundestag. Als die einzelnen Aufrufe erfolgen, bekommen die Grüne Annalena Baerbock und der Sozialdemo­krat Hubertus Heil den meisten Beifall. Die grünen Kabinettsm­itglieder verzichten beim Eid auf den Wunsch nach Gottes Hilfe, die der FDP nicht, und bei der SPD sind es immerhin fünf Ministerin­nen und Minister, die den religiösen Eideszusat­z verwenden.

Bei der Amtsüberga­be im Kanzleramt kann die Ex-Kanzlerin endlich ihrem Ex-Vizekanzle­r gratuliere­n. Als Nicht-Abgeordnet­e durfte sie im Reichstag nicht in den Plenarsaal. Scholz bedankt sich bei Angela Merkel „für die Arbeit der letzten 16 Jahre“.

Alles über die Mitglieder der neuen Bundesregi­erung: www.schwaebisc­he.de/ks21

 ?? FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA ?? Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier (Mitte) mit den Mitglieder­n der neuen Bundesregi­erung im Schloss Bellevue nach deren Vereidigun­g.
FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier (Mitte) mit den Mitglieder­n der neuen Bundesregi­erung im Schloss Bellevue nach deren Vereidigun­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany