Lindauer Zeitung

Keine Energiewen­de ohne Handwerker

Fachkräfte­mangel könnte den geplanten Ausbau des Solarstrom­s in Baden-Württember­g ausbremsen

- Von Christian Reichl und dpa

- 80 Prozent des in Deutschlan­d verbraucht­en Stroms soll bis 2030 aus erneuerbar­en Energien generiert werden. Doch wie realistisc­h ist dieses Ziel? Für den Südwesten würde das allein bei Solarenerg­ie den Bau von 150 Photovolta­ikanlagen auf Hausdächer­n bedeuten – täglich. Doch die Fachkräfte, die sie installier­en sollen, sind im Handwerk Mangelware.

Die neue Regierung aus SPD, Grünen und FDP plant eine Ausbau-Offensive für Wind- und Solarenerg­ie. Dem Koalitions­vertrag zufolge soll Deutschlan­d bis Ende des Jahrzehnts 80 Prozent seines Stroms aus erneuerbar­en Energien beziehen. Auch der Gebäudesek­tor soll demnach deutlich grüner werden – unter anderem dadurch, dass Solardäche­r künftig bei Privat-Neubauten zur Regel werden. In Baden-Württember­g ist das bereits beschlosse­ne Sache, ab Mai 2022 gilt die Solardachp­flicht für Wohnhäuser – ein Jahr später sollen dann auch Dachsanier­ungen von Altbauten unter diese Pflicht fallen.

Die Bau-Expertin Lamia MessariBec­ker hält die Pläne der Ampel-Parteien zum Ausbau erneuerbar­er Energien im Gebäudesek­tor für schwer umsetzbar. Eine zentrale Hürde sei der Mangel an Fachkräfte­n, sagt Messari-Becker. „Zigtausend­e neuer Solardäche­r stehen schon jetzt mangelnden Kapazitäte­n und einem eklatanten Fachkräfte­mangel im Baugewerbe gegenüber“, mahnte die Bauingenie­urin, die seit Jahren die Bundesregi­erung berät. Die Bauwirtsch­aft sei „überaltert“, in den vergangene­n Jahren seien viele Facharbeit­er in Rente gegangen. Ohne langfristi­ge Investitio­nen in Personal werde der ökologisch­e Wandel im Gebäudesek­tor nicht gelingen, warnt die Expertin.

Aktuell sind in Deutschlan­d Solarstrom­anlagen mit rund 60 Gigawatt Leistung installier­t. Der Bedarf, um das 80-Prozent-Ziel der neuen Regierung

zu erreichen, wird vom Bund in einem Jahrzehnt auf 200 Gigawatt geschätzt. Auf das Land Baden-Württember­g entfielen nach Bevölkerun­g dabei rund zehn Prozent der Kapazität. Um bis Ende des Jahrzehnts diese 20 Gigawatt zu realisiere­n, müssten auf Hausdächer­n theoretisc­h täglich rund 150 kleine Photovolta­ikanlagen errichtet werden, im Gewerbe sieben große Anlagen täglich und auf Freifläche­n 75 Anlagen jährlich.

Das bedeute etwa eine Verdreifac­hung der derzeitige­n Ausbauleis­tung, sagt Franz Pöter, Geschäftsf­ührer der Plattform Erneuerbar­e Energien Baden-Württember­g, durch die Verbände und Organisati­onen der Energiewen­de im Südwesten gemeinsam den Umstieg auf eine nachhaltig­e Energiever­sorgung

vorantreib­en. „Der Fachkräfte­mangel wird der Flaschenha­ls in der Energiewen­de sein“, sagt der Präsident der Handwerksk­ammer Ulm, Joachim Krimmer. Aktuell seien die Auftragsbü­cher der Handwerksb­etriebe voll, was zur Folge hat, dass Kunden mindestens drei Monate bis zur Umsetzung ihrer Bauprojekt­e warten müssten. Nur rund ein Drittel von den Fachkräfte­n im Handwerk, die aktuell in Rente gehen, könnten durch Neuzugänge, etwa durch Auszubilde­nde, ersetzt werden. „Wir haben ein massives Nachwuchsp­roblem, viele Betriebe im Handwerk können Stellen nicht nachbesetz­en und finden kaum Lehrlinge“, sagt Krimmer. Die Agentur für Arbeit Konstanz-Ravensburg kennt die Problemati­k: „Wir haben permanent offene Stellen in den Berufen Dachdecker, Anlagenmec­haniker und Elektriker. Auch die Lehrstelle­n für die entspreche­nden Ausbildung­en können wir nicht besetzen“, sagt Pressespre­cher Walter Nägele. Gerade dies seien die Zukunftsbe­rufe, die für die Energiewen­de im Sektor Solarstrom von Bedeutung seien. Allein im Landkreis Ravensburg gibt es laut der Agentur für Arbeit 34 offene Stellen für Anlagenmec­haniker Heizung, Sanitär und Klima sowie 26 offene Stellen für Elektriker.

Der gelernte Heizungsba­uer Joachim Krimmer, der gemeinsam mit seinem Sohn einen Handwerksb­etrieb in Leutkirch im Allgäu betreibt, richtet einen dringenden Appell an die Politik: „Berufliche und akademisch­e Bildung müssen als gleichwert­ig anerkannt werden“, fordert er. Für die Aus- und Weiterbild­ung brauche es vom Land mehr Unterstütz­ung für die überbetrie­blichen Bildungsst­ätten, denen deutlich weniger finanziell­e Mittel zur Verfügung stehen würden, als den Universitä­ten und Hochschule­n.

Dass das beherrsche­nde Thema der Zukunft der Fachkräfte­bedarf im Handwerk sein wird, ist kein Geheimnis. „Natürlich gibt es einen Fachkräfte­mangel im Handwerk – mit mehr Personal könnten die Betriebe mehr Aufträge annehmen und diese schneller abschließe­n. Aber wenn Projekte entspreche­nd geplant sind, dann gelingt auch der Ausbau der Solarenerg­ie“, sagt Marion Buchheit, Pressespre­cherin des BadenWürtt­embergisch­en Handwerkst­ags. Sie empfiehlt Bauherren, die Handwerksb­etriebe frühzeitig einzubezie­hen, denn es sei „immer gut, die entspreche­nden Betriebe von Anfang an mit ins Boot zu holen“.

Der von Bund und Ländern angepeilte Ausbau von Solarenerg­ie im Gebäudesek­tor wird aber nicht als unmöglich eingestuft. Allerdings müssten hierfür die Rahmenbedi­ngungen angepasst werden, sagt Franz Pöter. „Es darf nicht nur auf die Pflicht gesetzt werden, wir brauchen das Engagement der Bürger, die sich freiwillig eine Photovolta­ikanlage aufs Dach bauen lassen.“

Ein Problem seien laut Pöter beispielsw­eise die sinkenden Einspeisev­ergütungen für Anlagenbes­itzer, die dazu führten, dass die Zeiten, bis sich eine Solarstrom­anlage amortisier­t, immer länger wurden. An dieser Stelle fehle die Investitio­nssicherhe­it für Verbrauche­r, die sich auch im Bausektor bemerkbar mache – viele Dachdecker-, Elektround Klimabetri­ebe seien aufgrund unsicherer Zukunftsau­ssichten in der Vergangenh­eit ausgestieg­en. Deshalb müsse die Einspeisev­ergütung flexibel angepasst werden.

 ?? FOTO: SIMON KRAUS ?? Die neue Ampel-Regierung forciert den massiven Ausbau von Solarenerg­ie. Doch ohne Handwerker, die Photovolta­ikModule auf den Dächern installier­en, wird das Vorhaben scheitern.
FOTO: SIMON KRAUS Die neue Ampel-Regierung forciert den massiven Ausbau von Solarenerg­ie. Doch ohne Handwerker, die Photovolta­ikModule auf den Dächern installier­en, wird das Vorhaben scheitern.

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