Eine Wohnung wie ein Erdloch
Ai Weiwei erzählt in seiner Biografie von den Demütigungen, die er und sein Vater Ai Qing erfahren haben
Er ist einer der bekanntesten Künstler der Welt. In seiner Heimat China hat Ai Weiwei aber schon in der Kindheit staatliche Willkür und Demütigungen ertragen müssen. In seiner Biografie erzählt er von einem Alptraum, der nie zu enden scheint.
Ein weiches Bett haben sie nicht. Kein Bad, kein Sofa. Als Ai Weiwei und sein Vater 1968 mal wieder umziehen müssen, landen sie in einem Erdloch. Erwachsene können nicht darin stehen, aber Ai Weiwei ist mit seinen erst zehn Jahren noch klein genug. Wenn Schweine übers Feld laufen, rieselt ihnen Sand ins Gesicht, denn es gibt nur ein einfaches Dach aus Zweigen, Reisstängeln und Lehm. Im Sommer ist es unerträglich heiß, im Winter herrscht Kälte bis zu minus 40 Grad. Ansonsten plagen Läuse die beiden, der Ruß der bescheidenen Lampe steckt in jeder Ritze.
Fünf Jahre musste Ai Weiwei, heute der bekannteste und erfolgreichste Künstler Chinas, in der Erdhöhle hausen – von Staats wegen. Es sind erschütternde Erinnerungen, die der 64-Jährige aufgeschrieben hat in einem mehr als 400 Seiten starken Buch, das eigentlich nur ein Thema hat: die Unmenschlichkeit und Härte, mit der Ai Weiweis Vater und später auch er über die Jahrzehnte hinweg schikaniert wurden. „1000 Jahre Freud und Leid“nennen sich die Erinnerung, die nun gleichzeitig in 14 Sprachen erschienen sind und vom steten Überlebenskampf erzählen, von Denunziation und staatlicher Gewalt, ideologischen Kontrollen und Unterdrückung der Redefreiheit.
All das hat Ai Weiwei schon als Kind zu spüren bekommen, denn sein Vater war Ai Qing, ein von Mao Zedong zunächst geschätzter und gefeierter Dichter, der in den Fünfzigerjahren als „Rechtsabweichler“gebrandmarkt und aus Peking verbannt wurde zur „Umformung der Gedanken“. Über Jahrzehnte war Ai Qing steten Demütigungen ausgesetzt. Während der Kulturrevolution wurde er in eine abgelegene paramilitärische Produktionseinheit am Rande der Wüste von Xinjiang verschickt, die Mutter hatte nicht mehr die Kraft, ihm auch dabei zur Seite zu stehen und verließ mit dem kleinen Bruder die Familie. „Ich blieb stumm“, schreibt Ai Weiwei, „weder verabschiedete ich mich, noch fragte ich, ob sie zurückkehren würde.“Er lebte fortan mit dem Vater. Er kochte für ihn, plünderte Rattennester, legte Innereien ein, schleppte Holz, während der einstige Nationaldichter die Latrinen säubern musste.
In seinen Erinnerungen taucht Ai Weiwei tief ein in die Verästelungen chinesischer Politik, die Geschichte vom Bürgerkrieg über die Kulturrevolution bis zum Tiananmen-Massaker 1989. Einen großen Teil des Buches widmet er dabei dem Leben seines Vaters, der 20 Jahre lang in der Verbannung lebte. „Erst als ich selbst zum Angriffsziel der Feindseligkeit des Regimes wurde, wurde mir allmählich klar, was er durchgemacht haben musste“, schreibt er. Trotz der Nähe war das Verhältnis von Vater und Sohn immer distanziert.
Letztlich hat diese Kindheit unter extremsten Umständen dazu geführt, dass Ai Weiwei selbst begann, Widerstand gegen Autoritäten zu leisten. Der Protest wurde auch zum Kern seiner künstlerischen Tätigkeit. „Meine Inspiration und meine Kühnheit entsprangen der Abscheu und der Verzweiflung.“So wurde ihm als junger Mann bewusst, dass er „in die neue Post-Mao-Ordnung ebenso wenig passte, wie ich in die maoistische Ordnung gepasst hatte, die meine ganze Kindheit geformt – oder verformt – hatte“.
Zwölf Jahre lang lebte er in den USA, nicht „weil ich mich nach einem westlichen Lebensstil sehnte“, sondern weil er das Leben in Beijing nicht mehr ausgehalten habe. Aber auch in den USA blieb Ai Weiwei ein Außenseiter. Als er in die Heimat zurückkehrte, begann er, sich mit traditioneller chinesischer Kunst auseinanderzusetzen. Auch wenn er immer wieder provozierte, ließ das Regime ihn zunächst gewähren und begnügte sich damit, ihn permanent zu überwachen. Er reagierte trotzig, installierte in seinem Atelier selbst Überwachungskameras und veröffentlichte die Aufnahmen im Internet.
Als er der Regierung Schuld am Tod der vielen Kinder gab, die bei dem großen Erdbeben 2008 unter den Trümmern unsolide gebauter Schulen starben, wurde er von der Polizei brutal geschlagen. Fast drei Monate kam er schließlich in Haft. „Wenn ich es bei den Verhören vermied, zum einen oder anderen Thema meine volle Meinung zu sagen, verließ ich mich darauf, dass mein Instinkt mich vor dem Betreten irgendwelcher Minenfelder bewahren möge.“
In der Haft fasste er den Entschluss, seine Erinnerungen eines Tages aufzuschreiben. Heute lebt er in Portugal, nach China kann er nicht mehr zurück, sodass das Schreiben auch ein Weg war, die Verbindung zu seiner Heimat zu halten.
Für ein allgemeines Leserinteresse ist das Buch vielleicht etwas zu ausführlich geraten, für ihn selbst war das Schreiben auch eine Art Selbsterkenntnis.
Denn erst im Rückblick wurde ihm klar, wie stark er von seinem berühmten und geknechteten Vater geprägt wurde. „Ohne bewusst darüber nachzudenken, war ich politisiert worden und machte dasselbe wie mein Vater, als er jung war“– aufbegehren.
Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen, 416 Seiten, Penguin Verlag, 38 Euro.