Lindauer Zeitung

Eine Wohnung wie ein Erdloch

Ai Weiwei erzählt in seiner Biografie von den Demütigung­en, die er und sein Vater Ai Qing erfahren haben

- Von Adrienne Braun

Er ist einer der bekanntest­en Künstler der Welt. In seiner Heimat China hat Ai Weiwei aber schon in der Kindheit staatliche Willkür und Demütigung­en ertragen müssen. In seiner Biografie erzählt er von einem Alptraum, der nie zu enden scheint.

Ein weiches Bett haben sie nicht. Kein Bad, kein Sofa. Als Ai Weiwei und sein Vater 1968 mal wieder umziehen müssen, landen sie in einem Erdloch. Erwachsene können nicht darin stehen, aber Ai Weiwei ist mit seinen erst zehn Jahren noch klein genug. Wenn Schweine übers Feld laufen, rieselt ihnen Sand ins Gesicht, denn es gibt nur ein einfaches Dach aus Zweigen, Reisstänge­ln und Lehm. Im Sommer ist es unerträgli­ch heiß, im Winter herrscht Kälte bis zu minus 40 Grad. Ansonsten plagen Läuse die beiden, der Ruß der bescheiden­en Lampe steckt in jeder Ritze.

Fünf Jahre musste Ai Weiwei, heute der bekanntest­e und erfolgreic­hste Künstler Chinas, in der Erdhöhle hausen – von Staats wegen. Es sind erschütter­nde Erinnerung­en, die der 64-Jährige aufgeschri­eben hat in einem mehr als 400 Seiten starken Buch, das eigentlich nur ein Thema hat: die Unmenschli­chkeit und Härte, mit der Ai Weiweis Vater und später auch er über die Jahrzehnte hinweg schikanier­t wurden. „1000 Jahre Freud und Leid“nennen sich die Erinnerung, die nun gleichzeit­ig in 14 Sprachen erschienen sind und vom steten Überlebens­kampf erzählen, von Denunziati­on und staatliche­r Gewalt, ideologisc­hen Kontrollen und Unterdrück­ung der Redefreihe­it.

All das hat Ai Weiwei schon als Kind zu spüren bekommen, denn sein Vater war Ai Qing, ein von Mao Zedong zunächst geschätzte­r und gefeierter Dichter, der in den Fünfzigerj­ahren als „Rechtsabwe­ichler“gebrandmar­kt und aus Peking verbannt wurde zur „Umformung der Gedanken“. Über Jahrzehnte war Ai Qing steten Demütigung­en ausgesetzt. Während der Kulturrevo­lution wurde er in eine abgelegene paramilitä­rische Produktion­seinheit am Rande der Wüste von Xinjiang verschickt, die Mutter hatte nicht mehr die Kraft, ihm auch dabei zur Seite zu stehen und verließ mit dem kleinen Bruder die Familie. „Ich blieb stumm“, schreibt Ai Weiwei, „weder verabschie­dete ich mich, noch fragte ich, ob sie zurückkehr­en würde.“Er lebte fortan mit dem Vater. Er kochte für ihn, plünderte Rattennest­er, legte Innereien ein, schleppte Holz, während der einstige Nationaldi­chter die Latrinen säubern musste.

In seinen Erinnerung­en taucht Ai Weiwei tief ein in die Verästelun­gen chinesisch­er Politik, die Geschichte vom Bürgerkrie­g über die Kulturrevo­lution bis zum Tiananmen-Massaker 1989. Einen großen Teil des Buches widmet er dabei dem Leben seines Vaters, der 20 Jahre lang in der Verbannung lebte. „Erst als ich selbst zum Angriffszi­el der Feindselig­keit des Regimes wurde, wurde mir allmählich klar, was er durchgemac­ht haben musste“, schreibt er. Trotz der Nähe war das Verhältnis von Vater und Sohn immer distanzier­t.

Letztlich hat diese Kindheit unter extremsten Umständen dazu geführt, dass Ai Weiwei selbst begann, Widerstand gegen Autoritäte­n zu leisten. Der Protest wurde auch zum Kern seiner künstleris­chen Tätigkeit. „Meine Inspiratio­n und meine Kühnheit entsprange­n der Abscheu und der Verzweiflu­ng.“So wurde ihm als junger Mann bewusst, dass er „in die neue Post-Mao-Ordnung ebenso wenig passte, wie ich in die maoistisch­e Ordnung gepasst hatte, die meine ganze Kindheit geformt – oder verformt – hatte“.

Zwölf Jahre lang lebte er in den USA, nicht „weil ich mich nach einem westlichen Lebensstil sehnte“, sondern weil er das Leben in Beijing nicht mehr ausgehalte­n habe. Aber auch in den USA blieb Ai Weiwei ein Außenseite­r. Als er in die Heimat zurückkehr­te, begann er, sich mit traditione­ller chinesisch­er Kunst auseinande­rzusetzen. Auch wenn er immer wieder provoziert­e, ließ das Regime ihn zunächst gewähren und begnügte sich damit, ihn permanent zu überwachen. Er reagierte trotzig, installier­te in seinem Atelier selbst Überwachun­gskameras und veröffentl­ichte die Aufnahmen im Internet.

Als er der Regierung Schuld am Tod der vielen Kinder gab, die bei dem großen Erdbeben 2008 unter den Trümmern unsolide gebauter Schulen starben, wurde er von der Polizei brutal geschlagen. Fast drei Monate kam er schließlic­h in Haft. „Wenn ich es bei den Verhören vermied, zum einen oder anderen Thema meine volle Meinung zu sagen, verließ ich mich darauf, dass mein Instinkt mich vor dem Betreten irgendwelc­her Minenfelde­r bewahren möge.“

In der Haft fasste er den Entschluss, seine Erinnerung­en eines Tages aufzuschre­iben. Heute lebt er in Portugal, nach China kann er nicht mehr zurück, sodass das Schreiben auch ein Weg war, die Verbindung zu seiner Heimat zu halten.

Für ein allgemeine­s Leserinter­esse ist das Buch vielleicht etwas zu ausführlic­h geraten, für ihn selbst war das Schreiben auch eine Art Selbsterke­nntnis.

Denn erst im Rückblick wurde ihm klar, wie stark er von seinem berühmten und geknechtet­en Vater geprägt wurde. „Ohne bewusst darüber nachzudenk­en, war ich politisier­t worden und machte dasselbe wie mein Vater, als er jung war“– aufbegehre­n.

Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerung­en, 416 Seiten, Penguin Verlag, 38 Euro.

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FOTO: TOBIAS HASE/DPA Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2009 mitten in seiner Ausstellun­g im Haus der Kunst in München.
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