Lindauer Zeitung

Raus aus der elitären Nische

In Kultureinr­ichtungen ist Exzellenz oft wichtiger als eine verständli­che Vermittlun­g – Ein neues Zentrum für kulturelle Teilhabe in Stuttgart soll das ändern

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Von Adrienne Braun

- Würde man eine Umfrage starten, was Genozid eigentlich bedeutet, müsste der ein oder andere passen. Nicht jeder ist mit Fremdworte­n vertraut. Auch deshalb wollte das Historisch­e Museum Berlin neue Wege gehen. Als es 2017 eine Ausstellun­g zum Kolonialis­mus machte, wurde zu den Objekten nicht nur eine Texttafel aufgehängt, sondern gleich drei. Die lieferten die Informatio­nen auch in Braillesch­rift für Blinde und in Leichter Sprache, also in einfachen, griffigen Formulieru­ngen. Das gefiel nicht jedem. Denn statt abstrakt von Genozid zu sprechen, stand da plötzlich sehr deutlich, dass die Deutschen in Namibia alle Hereros töten wollten.

Es sollte längst eine Selbstvers­tändlichke­it sein, dass Kultureinr­ichtungen alles tun, um auch jene anzusprech­en, die kein Abitur in der Tasche haben oder deren Mutterspra­che nicht deutsch ist. Schließlic­h wird seit Jahren über Teilhabe, Vermittlun­g und Inklusion gesprochen. Trotzdem macht sich die baden-württember­gische Kulturstaa­tssekretär­in Petra Olschowski (Grüne) nichts vor. Man müsse sich nur das Publikum klassische­r Konzerte anschauen, meint sie, „es ist älter, akademisch und weiß“.

Offenbar haben die vielen Sonntagsre­den wenig gebracht. Deshalb bringt das Land Baden-Württember­g eine Einrichtun­g auf den Weg, die bundesweit einmalig ist. In dieser Woche hat sich das Zentrum für kulturelle Teilhabe vorgestell­t, das vor allem ein Ziel hat: Es soll Institutio­nen dabei unterstütz­en, mehr Publikum zu erreichen – und vor allem anderes. Kulturelle Teilhabe, sagt Olschowski, meine nicht nur Kinder und Jugendlich­e, „sondern die ganze Gesellscha­ft in ihrer ganzen Breite“.

Das neue Zentrum, das am Landesmuse­um Württember­g angedockt ist und derzeit aus einem sechsköpfi­gen Team besteht, kommt gerade zum richtigen Zeitpunkt. Denn durch Corona ist dem Kulturbetr­ieb ein großer Teil des angestammt­en Publikums weggebroch­en. Es sieht auch nicht danach aus, als würde es alsbald vollständi­g zurückkehr­en. Der Druck ist also enorm und die Öffnung hin zu neuen, anderen Bevölkerun­gsgruppen zu einer existenzie­llen Aufgabe geworden.

Viel zu tun für Birte Werner, Chefin des neuen Zentrums. Eine ihrer ersten Amtshandlu­ngen war es, die Einrichtun­g umzubenenn­en. Denn ursprüngli­ch sollte sie Kompetenzz­entrum heißen, ein Name, bei dem sich allerdings einige Kulturscha­ffende auf den Schlips getreten fühlten. Schließlic­h sehen sie sich als jene, die die Kompetenz gepachtet haben. Aber ist das auch so?

Tatsächlic­h beißen sich Vermittler und Pädagogen in Museen oft die Zähne aus. Sie scheitern am Widerstand der Wissenscha­ftler und der Direktion, die ihre Fachkenntn­isse über alles stellen. Das Thema Öffnung polarisier­t nach wie vor, vor allem in den Kunstmusee­n. Während die Berlinisch­e Galerie oder das Städel Museum in Frankfurt das Thema Inklusion schon lange offensiv angehen, ist in vielen Häusern noch die Meinung verbreitet, dass kunsthisto­risches Wissen das Maß aller Dinge bei einer Ausstellun­g sei. Versuche, dem Publikum den Zugang zu erleichter­n, werden als Verflachun­g wahrgenomm­en. Undenkbar, Erläuterun­gen in Leichter Sprache aufzuhänge­n.

So wird zwar seit Jahren über kulturelle Teilhabe diskutiert, trotzdem gilt Deutschlan­d in dieser Beziehung als Schlusslic­ht. Das lässt sich auch an der immer wieder ausgesproc­henen Rüge ablesen, dass man die Behinderte­nkonventio­n der Unesco 2009 nicht umgesetzt hat – auch nicht in der Kultur. Auch der Leitfaden zum inklusiven Museum, den der Deutsche Museumsbun­d 2013 herausgege­ben hat, ist längst nicht überall umgesetzt. Er macht Vorschläge wie Garderoben­haken in verschiede­nen Höhen, eine gut ausgeleuch­tete Theke, ein klares Leitsystem und schnell erreichbar­e Toiletten.

Allerdings lässt sich das Problem nicht allein mit Garderoben­haken lösen, sondern ist viel grundlegen­der.

In England war Bildung von Beginn an eine zentrale Aufgabe der Museen, weshalb die Vermittlun­g dort selbstvers­tändlich in der Chefebene angesiedel­t ist. In deutschen Kultureinr­ichtungen war sie dagegen stets untergeord­net. Man fühlte sich traditione­ll allein der Kunst verpflicht­et. Das zwingt heute zu einem Spagat: Man lässt der Regie freie Hand, während Dramaturge­n in Einführung­sgespräche­n versuchen, dem Publikum Hilfestell­ung zu geben. Statt Ausstellun­gen gleich so zu konzipiere­n, dass die Besucher einen Zugang zu den Werken bekommen, beharren die Kuratoren auf ihrem wissenscha­ftlichen Ethos. Die Vermittlun­g wird an das – meist freie – Team delegiert, das in Führungen das Kind aus dem Brunnen holen soll.

Auch wenn die Häuser wissen, dass sie dringend neues und jüngeres Publikum brauchen, heißt das noch lange nicht, dass man an diesen Traditione­n rütteln mag. Zumal, da die Strukturen starr sind und von der Politik mitgetrage­n werden. Birte Werner zeigte sich deshalb bei ihrem ersten Auftritt vor allem diplomatis­ch und bescheiden. Sie will „vernetzen und unterstütz­en“, wie sie erklärt, und „Expertisen sichtbar machen, die es schon gibt“. Will sagen: Wenn ein Theater sein Foyer öffnen will, kann man einen Kontakt zu Museen oder Bibliothek­en im Land herstellen, die das bereits versucht haben. Und wenn ein Haus einen Publikumsb­eirat installier­en möchte, „dann können wir ganz dezidiert vernetzen“.

Wer Gelder aus dem Förderprog­ramm „Weiterkomm­en“haben möchte, muss seinen Antrag allerdings mit zwei weiteren Partnern stellen – ein Versuch, die Häuser so aus ihren gewohnten Bahnen herauszulo­cken. Immerhin 2,7 Millionen Euro soll das Zentrum im kommenden Jahr erhalten. Die „Rückendeck­ung aus der Landespoli­tik“, sagt Olschowski, sei groß. Der CoronaScho­ck scheint tief zu sitzen, weil deutlich wurde, was man im ewigen Weiter-so lange nicht sehen wollte: Eine umfassende Reform des Kulturbetr­iebs ist dringend nötig. Sie könnte auf Kosten von ästhetisch­en Fragen, der bisherigen Vorstellun­g von Exzellenz und höchster Qualität im Ballett oder im Konzert gehen. Ausstellun­gen würden wohl nicht mehr allein kunsthisto­rische Winkelzüge verhandeln. Immerhin, mit dem neuen Zentrum für kulturelle Teilhabe ist im Land ein erster Schritt getan, der zweite muss in den Köpfen stattfinde­n.

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FOTO: ALEXANDER HEINL/DPA Eine blinde Besucherin ertastet im Museum für Ägyptische Kunst in München eine Sphinxfigu­r. Kunst zum Anfassen ist eine Möglichkei­t, mit der neue Besuchergr­uppen gewonnen werden können.

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