Alles auf null
Helsinki möchte schon bald klimaneutral sein – Zu Besuch in einer Metropole mit großem Ehrgeiz, autarken Ferienhäuschen und Restaurants ohne Mülleimer
Altbaufassaden, Fußgängerzone, kleine Shops in den Seitenstraßen, dazwischen quietscht eine Tram. Helsinki unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht groß von anderen europäischen Städten. Trotzdem hat sie ihnen etwas voraus. Denn Helsinki will schon 2035 klimaneutral sein, 15 Jahre vor vielen anderen in der EU. Wer davon jetzt schon etwas sehen will, muss ein bisschen genauer hinschauen.
Im Erdgeschoss eines Altbaus im Design District ist Carlos Henriques am Bierbrauen, denn heute ist Ruhetag im Restaurant Nolla, was auf Deutsch Null heißt und auf das Konzept verweist: Zero Waste. Dass er Bier braut, ist gut für die Umwelt, denn es ist eine Alternative zum Wein, der importiert werden muss. Auf einer Box neben den Braukesseln ein Aufkleber: Carlo’s Bread. Tatsächlich kommt das alte Brot ins Bier. Und der Treber vom Brauen später wieder ins Brot, das sie selbst backen. Kreislaufwirtschaft, die noch nicht einmal das Haus verlässt. Besser geht’s kaum. In der Ecke dröhnt eine Edelstahlkiste: der Komposter. Öffnet man den Deckel und greift hinein, rieseln die nicht mehr zu erkennenden Tischabfälle, Eierschalen und Speckschwarten durch die Finger wie feinste Erde. Das geht zurück an die Bauern, von denen das Nolla sein Gemüse kauft.
„90 Prozent der Produkte erreichen das Nolla ohne Verpackung. Oder in einer, die hin- und hergeht“, sagt Henriques, der das Restaurant mit zwei Kollegen auch deshalb gegründet hat, weil sie die Nase voll hatten von Küchen, in denen viel weggeworfen wird. Zusätzlich ist alles lokal, also automatisch auch saisonal: Da muss man als Koch schon kreativ sein, denn anders als in seiner Heimat Portugal wächst in dem nordischen Land nicht das ganze Jahr über etwas. „Im Frühling gibt es hier gar nichts. Es ist einer der Gründe, warum wir immer noch Fisch und Fleisch servieren, denn es ist lokal und verfügbar“, sagt Henriques. Ein saisonales Restaurant ist nicht für jeden was. Nur sechs Wochen im Jahr gibt es im Nolla Tomaten. Sind die Menschen in Helsinki offen für Nachhaltiges? Könnten sie es schaffen, bis 2035 klimaneutral zu werden? „Wenn es ein Land wirklich schafft, dann könnte es Finnland sein. Ich muss es glauben, denn sonst sehe ich nicht viel Hoffnung für uns.“In dieser Stadt fühle er den Drive zur Nachhaltigkeit: Welche neuen Läden öffnen, wie Menschen Entscheidungen treffen. Dass es selbstverständlich ist, nachhaltig zu sein. Sie sind sensibilisiert, findet der Einwanderer.
Vergleichsweise wenige Autos sind in der Innenstadt unterwegs. Die Busse und Straßenbahnen kommen pünktlich und bringen einen überall hin. Die App dazu funktioniert tadellos, intuitiv und minutengenau – sogar Citybikes kann man damit ausleihen. Kürzlich wurde die Zahl auf 4600 Räder und 460 Stationen erhöht. Ein Wochenpass kostet grade mal zehn Euro, und die ersten 30 Minuten sind frei. 1200 Kilometer Radwege durchziehen Helsinki, auch richtige Radautobahnen – abgesenkt und ohne mit Fußgängern oder motorisierten Fahrzeugen in Konflikt zu geraten. In den kommenden Jahren sollen 120 Kilometer daraus werden. Man kann über die Umweltfreundlichkeit von E-Scootern streiten, aber die Menschen in Helsinki nutzen sie exzessiv – im Businesslook, als Pärchen, nach der Bar. Es bringt sie jedenfalls raus aus dem Auto.
Auch Kaisa-Reeta Koskinen hat sie schon benutzt, auf dem Rückweg von einem kleinen Konzert am Stadtrand, erzählt sie. „Sie sind ziemlich praktisch. Das Problem ist, dass die Leute sie überall hinwerfen.“Die 47-Jährige ist Leiterin der Abteilung CO2-Neutralität der Stadt Helsinki und arbeitet heute, in einer Corona-Entspannungsphase, mal wieder im Rathaus, einem klassizistischen Gebäude am Marktplatz, wo auch die Fähren ablegen. Sie sitzt in der leeren Kantine. Sie findet, dass man die Rettung des Klimas nicht dem Einzelnen aufbürden darf. Der Staat, oder hier die Stadt, ist in der Pflicht: „Zurzeit machen wir das Radfahren und den öffentlichen Transport einfacher.“Und auch das Gehen. „Wenn man eine Stadt designt, sollte man es immer aus der Perspektive der Fußgänger machen.“
Aber mehr noch als der Verkehr, ist in Helsinki die Wärmeversorgung ein Klimakiller. Nicht erstaunlich im nordischen Klima. „Wir dürfen nichts mehr verbrennen“, sagt Koskinen. Und tatsächlich werden schon bald die Kohlekraftwerke abgeschaltet. Und dann? Anfang des Jahres hat Helsinki einen internationalen Wettbewerb veranstaltet, bei dem Ideen für eine klimaneutrale Wärmeversorgung gesucht wurden. Einer der vier Gewinnervorschläge der Helsinki Energy Challenge wäre gleichzeitig ein neues Sightseeingobjekt: Bei Helsinki’s Hot Heart soll vor der Küste der Stadt in zehn Zylindern heißes Meerwasser gespeichert werden, wobei aufblasbare Dächer vier davon zu dicht bewachsenen, tropischen Inseln machen könnten, dazu Hot Pools zum Reinsetzen. Also eigentlich ganz typisch finnisch: Natur, Inseln und Jedermannsrecht, nur bei anderem Klima.
Alles soll für alle sein, so die Idee des nordischen Wegs. Auch ein nachhaltiges Leben müsste sich demnach jeder leisten können. Groß im Trend sind daher auch Secondhandläden. Manche kombinieren ihre Verkaufsflächen gleich mit Barista-Bars. Dazu passt auch, dass Stockmann, eine Art KaDeWe, eine ganze Fläche für Kleider aus zweiter Hand eingerichtet hat. Und die Finnen haben ein riesiges gemeinsames Wohnzimmer, ihre 10 000
Quadratmeter große öffentliche Bibliothek, das Oodi. Gleich hinterm Hauptbahnhof liegt dieses wohl spektakulärste moderne Gebäude Helsinkis: Ende 2018 eröffnet, ist es bewusst lokal und energieeffizient konstruiert. Unten mit finnischem Holz verkleidet, oben verglast, um die Kraft der Sonne zu nutzen und im obersten Stock einen echten Bücherhimmel zu schaffen. Doch es warten auf anderen Etagen auch Nähmaschinen, 3-D-Printer, Musikstudios samt Instrumenten und Playstations. Die Gaming-Rooms werden inzwischen erst nachmittags geöffnet, um die Kinder nicht zum Schuleschwänzen zu animieren. An diesem Vormittag steht eine Finnin an einem der Nadeldrucker. Man sieht, wie Zeile für Zeile ihre Hochzeitseinladungen Form annehmen. Die Nutzung aller Geräte ist kostenlos, allein das Material muss man bezahlen. Und damit auch jeder weiß, was „für alle“meint, steht als Kunstwerk in vielen Worten an der Wendeltreppe, wer willkommen ist: zum Beispiel petetyille (Betrogene), lapsenmiellisille (Kindische), auringonpalvojille (Sonnenanbeter), pakolaisille (Flüchtlinge), kikattelijoille (Kichernde), saunojille (Saunagänger) und kissaihmisille (Katzenfreunde). Diese Begriffe durfte die Bevölkerung beisteuern, genauso wie ihre Ideen für den Bau an sich.
Ein großes gemeinsames Wohnzimmer, dafür kleine Häuser – wäre das nicht eine Strategie? Zehn Minuten mit dem Motorboot oder eine halbe Stunde mit den Öffentlichen, dann steht man auf einer Halbinsel vor einem Tiny House, dem vermutlich kleinsten Entwurf von Pekka Littow, einem Finnen, der außer in Helsinki auch in Paris lebt. Das Majamaja ist ein absolut autarkes Häuschen, ein Nachhaltigkeitsvorreiter. „Mit dem Wohnen können wir der Natur den größten Schaden anrichten“, sagt Littow.
„Da kann man noch so lange vegan leben.“Das Häuschen, traditionellen Bootshäusern nachempfunden, ist weder ans Strom- noch ans Wassernetz angeschlossen, steht auf gemietetem Grund. Wollte man es wegnehmen, bliebe nur ein kleines Loch zurück, für den Anker, den es wegen des starken Winds im Norden brauchte. Es greift also kaum in die Natur ein.
Littow hat den Entwurf anfangs entwickelt, weil das winzige Mökki (Ferienhaus) seiner Familie auf einer der Inseln vor Helsinki renovierungsbedürftig war, wie so viele. Solarzellen produzieren den Strom, das Wasser bildet einen geschlossenen Kreislauf, wird gefiltert und bei Bedarf mit Regenwasser vom Dach nachgefüllt. Der Toilettengang verläuft wasserfrei und wird kompostiert. Einen kleineren ökologischen Fußabdruck kann man kaum hinterlassen. Gerade zerrt ein Arbeiter nebenan einen störenden Felsen zur Seite, denn es sollen weitere Häuschen dazukommen. Littow stellt sich das wie ein kleines Dorf vor. Erst einmal für Touristen oder Stadtflüchtige, aber irgendwann auch als Hauptwohnsitze: „Die Menschen müssen auf kleinerem Raum leben lernen. 20 Quadratmeter, das reicht.“Für die Stadt Helsinki könnte es ein Weg sein, die Stadt zu erweitern, ohne der Natur zu schaden. Denn 2035, das ist ja fast schon morgen.