Ein Leben ohne Mülleimer ist möglich
„Zero Waste“ist für Amelie Prokop aus Meckenbeuren nicht nur ein modernes Schlagwort – Sie zeigt, wie ein Alltag funktionieren kann, fast ohne Abfall zu produzieren
Es scheint ihr fast nichts peinlich zu sein, dieser Amelie Prokop aus Meckenbeuren im Bodenseekreis. Sie öffnet bereitwillig den Klodeckel, um zu beweisen, dass ihr WC blitzblank sauber ist. Lässt prüfende Blicke in Kühlschrank, Badezimmer-, Küchen-, Gewürzund Putzutensilienschrank zu. Holt flugs die Menstruationstasse und den Rasierhobel, um zu zeigen, wie diese Dinge aussehen und funktionieren. Die 32-Jährige verrät auch ohne Scheu, dass sie und ihr Lebenspartner sich ab und an mal eine Tüte Chips kaufen und sich auch schon ihren größten Wunsch, eine Weltreise, erfüllt haben.
Das alles wäre gar nicht erwähnenswert, wenn Amelie Prokop nicht für etwas stehen würde, das sich ganz neudeutsch „Zero Waste“nennt, übersetzt „null Müll“. Dahinter steckt das Konzept, als Individualperson möglichst keinen Müll zu produzieren. Bei Amelie bedeutet das, fast ausschließlich unverpackte Ware in entsprechenden Läden oder auf dem Markt einzukaufen. Außerdem stellt sie viele Dinge selbst her: angefangen von Deo und Lippenbalsam bis hin zu Waschpulver, Gemüsebrühpaste und Pflanzenmilch. Amelie lebt nachhaltig und deshalb auch vegan. Sie verkörpert sozusagen den aktuellen Zeitgeist und setzt um, was andere nur fordern.
Das war nicht immer so. Die gelernte Jugend- und Heimerzieherin, die heute in einem Unverpackt-Laden arbeitet, hat sich zwar schon früher für Umwelt- und Klimaschutz interessiert. Aber eben so, wie das viele andere Menschen
Gerade mal 32 Minuten sind es mit der Tram ab KasselBebelplatz bis in eine andere Welt. Eine Welt, die, so formulierten es ihre Vordenker in einem Grundsatzpapier, dem kapitalistischen „Zwang des Wachstums ohne Rücksicht auf die Natur“entsagt. Eine Welt ohne „privaten Besitz an den Produktionsmitteln“.
Die Geburtsstunde dieser Parallelwelt war bereits 1986, in Kaufungen, einst Dorf, inzwischen Vorstädtchen im Kasseler Speckgürtel. Heute ist die „Kommune Niederkaufungen“nicht nur Deutschlands älteste politische Kommune und eine der bekanntesten ökosozialen Gemeinschaften, sondern auch eine der größten mit aktuell fast 60 Erwachsenen sowie 20 Kindern und Jugendlichen. Ein Dutzend WGs. Verteilt auf vier Häuser.
Astrid Lydia ist seit 23 Jahren Kommunardin und würde ihre Gemeinschaft eher nicht als Parallelwelt bezeichnen. „Wir wollen keine abgeschottete Insel sein“, sagt sie während eines Spaziergangs über das 10 000 Quadratmeter große Gemeinschaftsgehöft. „Wir haben ja direkte Nachbarschaft im Dorf und mit allen Kontakt.“Auch gehen viele in Niederkaufungen, wie in den meisten anderen ökosozialen Gemeinschaften, ganz geregelten Berufen nach. Völlig normal, bisweilen sogar ein bisschen bieder. Nur etwas anders eben. Dazu gehört, dass sich alle duzen.
Als Avantgarde indes würde Astrid sich vermutlich schon sehen, der Zeit, dem Zeitgeist voraus. Leben sie in der Kommune Niederkaufungen doch schon ziemlich lange ziemlich konsequent vor, was in der Mehrheitsgesellschaft erst seit auch tun. Erst eine lange Reise auf andere Kontinente hat ihr 2016 die Augen geöffnet. „Eigentlich bin ich da das erste Mal mehr oder weniger unbewusst auf die Zero-Waste-Idee gestoßen. Denn mein Freund und ich wollten mehrere Monate lang mit dem Rucksack unterwegs sein. Bedeutet: Wir mussten Platz und Gewicht sparen. So entdeckte ich feste Shampoobars, die Menstruationstasse und – ganz oldschool – die gute alte Stückseife. Nichtsahnend war ich da schon Zero Waste unterwegs.“In Asien und Afrika zeigte sie sich dann schockiert über die Müllberge, die vor allem aus weggeworfenem
Amelie Prokop
Plastik bestanden. Und sie stellte sich die Frage, ob wir Menschen in Deutschland nicht genauso viel Müll produzieren, uns dessen aber nicht bewusst sind, weil dieser Abfall getrennt und weggeschafft wird. Das Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“greift seitdem bei Amelie nicht mehr. Wieder zu Hause, begann die junge Frau zu recherchieren. Die vielen Informationen, auf die sie in Sachen Müll stieß, veränderten ihren Blick auf die Dinge, ihre Sichtweise und Einstellung zu so vielem.
Mit ganz kleinen Schritten marschierten Amelie und ihr Partner in Richtung „Zero Waste“und versuchten, ihren Alltag zu meistern,
Kurzem, immer wieder freitags, gefordert wird: ein ressourcenbewusstes, enkeltaugliches Leben. Sie setzen auf Selbstverpflegung, Bioland-Gemüseanbau, -Milch und -Fleisch. Fahren, sooft es geht, Fahrrad oder ÖPNV. Verzichten auf Flugreisen. Die Kommunenmitglieder teilen nicht nur Autos, EBikes ohne Müll zu produzieren. Was ganz bescheiden begann, ist heute in Amelies Wohnung überall sichtbar. In der Küche und im Kühlschrank sind fast sämtliche Lebensmittel in Gläsern verpackt. Im Kleiderschrank hängen mit Ausnahme der Unterwäsche und der einen oder anderen Jeans aus fairem Handel nur Secondhand-Klamotten. Im Gästeklo stehen zwei abgedeckte Kompostkübel und im Bad selbstverständlich kompostierbare Zahnbürsten aus Holz. Selbst aufs Toilettenpapier verzichten die beiden. Der Brausekopf an der Badewanne neben dem WC wurde mit einer Podusche getauscht. Zum Abtrocknen dienen alte, in kleine Quadrate geschnittene Handtücher, die wieder gewaschen werden.
Dies alles sind nur ganz wenige Beispiele aus einem Zero-WasteHaushalt. Aus Amelie sprudelt es nur so heraus. Noch stundenlang könnte sie erzählen und vorführen, wo Müllvermeidung ganz leicht möglich ist. Dabei wirkt sie keineswegs dogmatisch und legt auch keinen missionarischen Eifer an den Tag. Im Gegenteil: „Ich freue mich natürlich, wenn mir jemand eine vegane Schokolade schenkt, obwohl sie verpackt ist. Und wir leisten uns auch mal in Folie eingepackte
Wraps. Das essen wir einfach sehr gerne. Aber wenn, dann sehr selten und sehr bewusst.“Auch beim Tierfutter, das es nur verpackt gibt, geht Amelie als Besitzerin dreier Katzen Kompromisse ein. Sie weiß, dass es eben auch Sachen gibt, die nicht ohne Verpackung auskommen. Viele medizinische Produkte wie Salben oder Tablettenblister gehören dazu.
Die sympathische Art, in der Amelie ihre Weltanschauung vertritt, wird auch in ihrem Blog „Viele
und E-Transporter miteinander. „Hier, unser Wäschekeller“, sagt Astrid beim Rundgang über den Hof. Sie öffnet die Tür. Ganze drei Waschmaschinen. „Damit kommt ein 80-Personen-Haushalt aus.“
Auch die Kleidung selbst wird geteilt, erklärt Astrid. Geteiltes Zeug gleich weniger Erwerbsdruck. So kleine Dinge“spürbar. Auf Anregung von Freunden hat sie ihn vor einem Jahr ins Leben gerufen. Darin erzählt die Meckenbeurerin nicht nur von sich und ihrem nachhaltigen Leben, sie gibt auch ganz konkrete Tipps und liefert jede Menge Rezepte und Anleitungen. „Da profitiere ich natürlich von meinem reichen Erfahrungsschatz. Denn ich probiere immer alles Mögliche aus, bis ich das Optimale herausgefunden habe.“ rechnen sie hier. Und weniger Geldverdienenmüssen gleich mehr Zeit für die wichtigen Dinge im Leben. Auch eine Art Luxus.
Nachdem die Vordenker der Niederkaufungen-Gemeinschaft 1983 ihr Grundsatzpapier verfasst hatten, machten sie sich damit auf die Suche nach Mitstreitern und einem Ort, um ihre Utopie des ökosozialen Kommunismus zu verwirklichen. Es war eine Zufallsbekanntschaft, die den Visionären den Hoferwerb in Kaufungen ermöglichte. Kurz vor Weihnachten ’86 zogen sie ein. Als die Kommunarden kamen, war das für Kaufungen ein Kulturschock. „Damals“, sagt Astrid, „war das hier noch dörflicher, konservativer. Das war schon heftig für die Dörfler, diese ganzen Hippies.“Doch in den vergangenen 35 Jahren habe man sich angenähert. Von beiden Seiten.
Auch Astrid Lydias Lebenslauf hatte zunächst eine stramm konservative Richtung eingeschlagen: Rechtsanwaltsgehilfin. Ging nicht lang gut. „Ich hab im Büro gesessen, die Arbeit war staubtrocken, total langweilig. Ich dachte: Das kann ich jetzt nicht mein Leben lang so machen. Da bin ich ja lebendig begraben.“Also: Reset. Sozialpädagogikstudium, politisches Engagement in linken Hochschulgruppen, Suche nach einer ökosozialen Gemeinschaft. Niederkaufungen passte, für beide Seiten: „Die Kita der Kommune hatte Interesse, dass ich da mitarbeite.“Was Astrid damals auf ihrem Konto hatte, ging in den Besitz der Kommune über. Ihr Auto wurde Teil des gemeinschaftlichen Fuhrparks. „Und ich hab ein paar Bücher in unsere Bibliothek gestellt.“Auch der Nettoverdienst aller Kommunardinnen und Kommunarden fließt in die Gemeinschaftskasse. Wer Geld braucht, nimmt es
Außerdem hält Amelie mittlerweile Vorträge und gibt Workshops zu dem Thema, das ihr so am Herzen liegt.
Man mag kaum glauben, dass sich diese junge, engagierte Frau, die so viel Positives ausstrahlt, manchmal auch richtig ärgern kann. Tut sie aber. Nämlich über die jährlichen Müllgebühren, die sie regelmäßig bezahlen muss. Und über die zwei Mülltonnen, die bei ihr in der Garage sich, die Kasse steht allen offen. Größere Beträge werden im Plenum diskutiert. Privateigentum hat in Niederkaufungen einen geringen Stellenwert, das schätzt Astrid sehr. Wobei es ja nicht so ist, als würde sie nichts besitzen. Mehrere Häuser, ein Biobauernhof, drei Waschmaschinen: Alles ihrs. ihrs.
Auf einer Wiese hinterm Haupthaus der Kommune, neben dem Hühnerstall, haben sie einen Holzpfahl
mit Wegweisern behängt, die in alle Himmelsrichtungen zeigen. Lossehof, Oberkaufungen, 3 km. Oder: Gastwerke, Escherode, 10 km. „Gemeinschaften, die sich hier außenrum gegründet haben“, erklärt Astrid. Nicht nur, dass in Niederkaufungen eine ökosoziale Utopie Wurzeln schlagen konnte; sie hat über die Jahre auch Ableger im Geiste bekommen. Seitdem die Kommune 1999 erstmals zum „Los geht’s!“-Treffen für Gemeinschaftsinteressierte lud, an dem Hunderte
stehen müssen, obwohl sie und ihr Lebenspartner nachweislich nur etwa eine Tüte Müll im halben Jahr produzieren.
Amelie Prokops Blog findet sich unter www.viele-kleine-dinge.de Workshops und Vorträge, beides auch für kleinere private Kreise, können unter kontakt@vielekleine-dinge.de angefragt werden. teilnahmen, ist in der Region Kassel ein kleines Cluster aus sechs Kommunen herangewachsen. Eine jede praktiziert, auf ihre Weise, gemeinsame Ökonomie, Entscheidungen fallen im Konsens.
Die sechs haben sich zum „Interkomm“-Netzwerk zusammengeschlossen, treffen sich regelmäßig, teilen sich einen Kartoffelacker. Und sie bieten Seminare an, um ihrer
Idee zu weiterem Wachstum zu verhelfen – mehr Kommunarden, mehr Kommunen! Gleich am ersten dieser Seminare, 2014, nahm Regine Beyß teil, die zu jener Zeit ihr Journalistikstudium abgeschlossen hatte. Am letzten Seminartag besuchten die Seminarteilnehmer die Villa Locomuna, eine Stadtkommune in Kassel mit 3000-QuadratmeterGrundstück auf einer Anhöhe, direkt an einem Park. Famoser Fernblick, bis hinauf zur Herkulesstatue auf der Wilhelmshöhe. „Irgendwie“, sagt Regine, die heute in der Fünfer-WG ganz oben wohnt, „hat mich das voll angefixt.“Am 1. Januar 2015 stieg sie fest ein. In der Villa Locomuna funktioniert das per Genossenschaftsbeitritt.
Solaranlage, Blockheizkraftwerk, energetische Sanierung, vegetarisches Gemeinschaftsessen: Das geht auch in einer Stadtkommune. Und wie in Niederkaufungen sorgt die gemeinsame Nutzung von Räumen, Werkzeugen, Geräten für einen kleinen ökologischen wie auch finanziellen Fußabdruck. Der LocomunaAutofuhrpark besteht aus genau einem Pkw – für 15 Erwachsene und drei Kinder. „Das Zusammenleben in einer Gruppe führt dazu, dass einfach anders konsumiert wird“, sagt Regine. Wenn ihre Uhr kaputtgehe, dann kaufe sie keine neue. „Dann geb’ ich sie dem Ralf. Der kann so gut wie alles reparieren.“