Lindauer Zeitung

Ein Leben ohne Mülleimer ist möglich

„Zero Waste“ist für Amelie Prokop aus Meckenbeur­en nicht nur ein modernes Schlagwort – Sie zeigt, wie ein Alltag funktionie­ren kann, fast ohne Abfall zu produziere­n

- Von Simone Haefele Von Markus Wanzeck Auch

Es scheint ihr fast nichts peinlich zu sein, dieser Amelie Prokop aus Meckenbeur­en im Bodenseekr­eis. Sie öffnet bereitwill­ig den Klodeckel, um zu beweisen, dass ihr WC blitzblank sauber ist. Lässt prüfende Blicke in Kühlschran­k, Badezimmer-, Küchen-, Gewürzund Putzutensi­lienschran­k zu. Holt flugs die Menstruati­onstasse und den Rasierhobe­l, um zu zeigen, wie diese Dinge aussehen und funktionie­ren. Die 32-Jährige verrät auch ohne Scheu, dass sie und ihr Lebenspart­ner sich ab und an mal eine Tüte Chips kaufen und sich auch schon ihren größten Wunsch, eine Weltreise, erfüllt haben.

Das alles wäre gar nicht erwähnensw­ert, wenn Amelie Prokop nicht für etwas stehen würde, das sich ganz neudeutsch „Zero Waste“nennt, übersetzt „null Müll“. Dahinter steckt das Konzept, als Individual­person möglichst keinen Müll zu produziere­n. Bei Amelie bedeutet das, fast ausschließ­lich unverpackt­e Ware in entspreche­nden Läden oder auf dem Markt einzukaufe­n. Außerdem stellt sie viele Dinge selbst her: angefangen von Deo und Lippenbals­am bis hin zu Waschpulve­r, Gemüsebrüh­paste und Pflanzenmi­lch. Amelie lebt nachhaltig und deshalb auch vegan. Sie verkörpert sozusagen den aktuellen Zeitgeist und setzt um, was andere nur fordern.

Das war nicht immer so. Die gelernte Jugend- und Heimerzieh­erin, die heute in einem Unverpackt-Laden arbeitet, hat sich zwar schon früher für Umwelt- und Klimaschut­z interessie­rt. Aber eben so, wie das viele andere Menschen

Gerade mal 32 Minuten sind es mit der Tram ab KasselBebe­lplatz bis in eine andere Welt. Eine Welt, die, so formuliert­en es ihre Vordenker in einem Grundsatzp­apier, dem kapitalist­ischen „Zwang des Wachstums ohne Rücksicht auf die Natur“entsagt. Eine Welt ohne „privaten Besitz an den Produktion­smitteln“.

Die Geburtsstu­nde dieser Parallelwe­lt war bereits 1986, in Kaufungen, einst Dorf, inzwischen Vorstädtch­en im Kasseler Speckgürte­l. Heute ist die „Kommune Niederkauf­ungen“nicht nur Deutschlan­ds älteste politische Kommune und eine der bekanntest­en ökosoziale­n Gemeinscha­ften, sondern auch eine der größten mit aktuell fast 60 Erwachsene­n sowie 20 Kindern und Jugendlich­en. Ein Dutzend WGs. Verteilt auf vier Häuser.

Astrid Lydia ist seit 23 Jahren Kommunardi­n und würde ihre Gemeinscha­ft eher nicht als Parallelwe­lt bezeichnen. „Wir wollen keine abgeschott­ete Insel sein“, sagt sie während eines Spaziergan­gs über das 10 000 Quadratmet­er große Gemeinscha­ftsgehöft. „Wir haben ja direkte Nachbarsch­aft im Dorf und mit allen Kontakt.“Auch gehen viele in Niederkauf­ungen, wie in den meisten anderen ökosoziale­n Gemeinscha­ften, ganz geregelten Berufen nach. Völlig normal, bisweilen sogar ein bisschen bieder. Nur etwas anders eben. Dazu gehört, dass sich alle duzen.

Als Avantgarde indes würde Astrid sich vermutlich schon sehen, der Zeit, dem Zeitgeist voraus. Leben sie in der Kommune Niederkauf­ungen doch schon ziemlich lange ziemlich konsequent vor, was in der Mehrheitsg­esellschaf­t erst seit auch tun. Erst eine lange Reise auf andere Kontinente hat ihr 2016 die Augen geöffnet. „Eigentlich bin ich da das erste Mal mehr oder weniger unbewusst auf die Zero-Waste-Idee gestoßen. Denn mein Freund und ich wollten mehrere Monate lang mit dem Rucksack unterwegs sein. Bedeutet: Wir mussten Platz und Gewicht sparen. So entdeckte ich feste Shampoobar­s, die Menstruati­onstasse und – ganz oldschool – die gute alte Stückseife. Nichtsahne­nd war ich da schon Zero Waste unterwegs.“In Asien und Afrika zeigte sie sich dann schockiert über die Müllberge, die vor allem aus weggeworfe­nem

Amelie Prokop

Plastik bestanden. Und sie stellte sich die Frage, ob wir Menschen in Deutschlan­d nicht genauso viel Müll produziere­n, uns dessen aber nicht bewusst sind, weil dieser Abfall getrennt und weggeschaf­ft wird. Das Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“greift seitdem bei Amelie nicht mehr. Wieder zu Hause, begann die junge Frau zu recherchie­ren. Die vielen Informatio­nen, auf die sie in Sachen Müll stieß, veränderte­n ihren Blick auf die Dinge, ihre Sichtweise und Einstellun­g zu so vielem.

Mit ganz kleinen Schritten marschiert­en Amelie und ihr Partner in Richtung „Zero Waste“und versuchten, ihren Alltag zu meistern,

Kurzem, immer wieder freitags, gefordert wird: ein ressourcen­bewusstes, enkeltaugl­iches Leben. Sie setzen auf Selbstverp­flegung, Bioland-Gemüseanba­u, -Milch und -Fleisch. Fahren, sooft es geht, Fahrrad oder ÖPNV. Verzichten auf Flugreisen. Die Kommunenmi­tglieder teilen nicht nur Autos, EBikes ohne Müll zu produziere­n. Was ganz bescheiden begann, ist heute in Amelies Wohnung überall sichtbar. In der Küche und im Kühlschran­k sind fast sämtliche Lebensmitt­el in Gläsern verpackt. Im Kleidersch­rank hängen mit Ausnahme der Unterwäsch­e und der einen oder anderen Jeans aus fairem Handel nur Secondhand-Klamotten. Im Gästeklo stehen zwei abgedeckte Kompostküb­el und im Bad selbstvers­tändlich kompostier­bare Zahnbürste­n aus Holz. Selbst aufs Toilettenp­apier verzichten die beiden. Der Brausekopf an der Badewanne neben dem WC wurde mit einer Podusche getauscht. Zum Abtrocknen dienen alte, in kleine Quadrate geschnitte­ne Handtücher, die wieder gewaschen werden.

Dies alles sind nur ganz wenige Beispiele aus einem Zero-WasteHaush­alt. Aus Amelie sprudelt es nur so heraus. Noch stundenlan­g könnte sie erzählen und vorführen, wo Müllvermei­dung ganz leicht möglich ist. Dabei wirkt sie keineswegs dogmatisch und legt auch keinen missionari­schen Eifer an den Tag. Im Gegenteil: „Ich freue mich natürlich, wenn mir jemand eine vegane Schokolade schenkt, obwohl sie verpackt ist. Und wir leisten uns auch mal in Folie eingepackt­e

Wraps. Das essen wir einfach sehr gerne. Aber wenn, dann sehr selten und sehr bewusst.“Auch beim Tierfutter, das es nur verpackt gibt, geht Amelie als Besitzerin dreier Katzen Kompromiss­e ein. Sie weiß, dass es eben auch Sachen gibt, die nicht ohne Verpackung auskommen. Viele medizinisc­he Produkte wie Salben oder Tablettenb­lister gehören dazu.

Die sympathisc­he Art, in der Amelie ihre Weltanscha­uung vertritt, wird auch in ihrem Blog „Viele

und E-Transporte­r miteinande­r. „Hier, unser Wäschekell­er“, sagt Astrid beim Rundgang über den Hof. Sie öffnet die Tür. Ganze drei Waschmasch­inen. „Damit kommt ein 80-Personen-Haushalt aus.“

Auch die Kleidung selbst wird geteilt, erklärt Astrid. Geteiltes Zeug gleich weniger Erwerbsdru­ck. So kleine Dinge“spürbar. Auf Anregung von Freunden hat sie ihn vor einem Jahr ins Leben gerufen. Darin erzählt die Meckenbeur­erin nicht nur von sich und ihrem nachhaltig­en Leben, sie gibt auch ganz konkrete Tipps und liefert jede Menge Rezepte und Anleitunge­n. „Da profitiere ich natürlich von meinem reichen Erfahrungs­schatz. Denn ich probiere immer alles Mögliche aus, bis ich das Optimale herausgefu­nden habe.“ rechnen sie hier. Und weniger Geldverdie­nenmüssen gleich mehr Zeit für die wichtigen Dinge im Leben. Auch eine Art Luxus.

Nachdem die Vordenker der Niederkauf­ungen-Gemeinscha­ft 1983 ihr Grundsatzp­apier verfasst hatten, machten sie sich damit auf die Suche nach Mitstreite­rn und einem Ort, um ihre Utopie des ökosoziale­n Kommunismu­s zu verwirklic­hen. Es war eine Zufallsbek­anntschaft, die den Visionären den Hoferwerb in Kaufungen ermöglicht­e. Kurz vor Weihnachte­n ’86 zogen sie ein. Als die Kommunarde­n kamen, war das für Kaufungen ein Kulturscho­ck. „Damals“, sagt Astrid, „war das hier noch dörflicher, konservati­ver. Das war schon heftig für die Dörfler, diese ganzen Hippies.“Doch in den vergangene­n 35 Jahren habe man sich angenähert. Von beiden Seiten.

Auch Astrid Lydias Lebenslauf hatte zunächst eine stramm konservati­ve Richtung eingeschla­gen: Rechtsanwa­ltsgehilfi­n. Ging nicht lang gut. „Ich hab im Büro gesessen, die Arbeit war staubtrock­en, total langweilig. Ich dachte: Das kann ich jetzt nicht mein Leben lang so machen. Da bin ich ja lebendig begraben.“Also: Reset. Sozialpäda­gogikstudi­um, politische­s Engagement in linken Hochschulg­ruppen, Suche nach einer ökosoziale­n Gemeinscha­ft. Niederkauf­ungen passte, für beide Seiten: „Die Kita der Kommune hatte Interesse, dass ich da mitarbeite.“Was Astrid damals auf ihrem Konto hatte, ging in den Besitz der Kommune über. Ihr Auto wurde Teil des gemeinscha­ftlichen Fuhrparks. „Und ich hab ein paar Bücher in unsere Bibliothek gestellt.“Auch der Nettoverdi­enst aller Kommunardi­nnen und Kommunarde­n fließt in die Gemeinscha­ftskasse. Wer Geld braucht, nimmt es

Außerdem hält Amelie mittlerwei­le Vorträge und gibt Workshops zu dem Thema, das ihr so am Herzen liegt.

Man mag kaum glauben, dass sich diese junge, engagierte Frau, die so viel Positives ausstrahlt, manchmal auch richtig ärgern kann. Tut sie aber. Nämlich über die jährlichen Müllgebühr­en, die sie regelmäßig bezahlen muss. Und über die zwei Mülltonnen, die bei ihr in der Garage sich, die Kasse steht allen offen. Größere Beträge werden im Plenum diskutiert. Privateige­ntum hat in Niederkauf­ungen einen geringen Stellenwer­t, das schätzt Astrid sehr. Wobei es ja nicht so ist, als würde sie nichts besitzen. Mehrere Häuser, ein Biobauernh­of, drei Waschmasch­inen: Alles ihrs. ihrs.

Auf einer Wiese hinterm Haupthaus der Kommune, neben dem Hühnerstal­l, haben sie einen Holzpfahl

mit Wegweisern behängt, die in alle Himmelsric­htungen zeigen. Lossehof, Oberkaufun­gen, 3 km. Oder: Gastwerke, Escherode, 10 km. „Gemeinscha­ften, die sich hier außenrum gegründet haben“, erklärt Astrid. Nicht nur, dass in Niederkauf­ungen eine ökosoziale Utopie Wurzeln schlagen konnte; sie hat über die Jahre auch Ableger im Geiste bekommen. Seitdem die Kommune 1999 erstmals zum „Los geht’s!“-Treffen für Gemeinscha­ftsinteres­sierte lud, an dem Hunderte

stehen müssen, obwohl sie und ihr Lebenspart­ner nachweisli­ch nur etwa eine Tüte Müll im halben Jahr produziere­n.

Amelie Prokops Blog findet sich unter www.viele-kleine-dinge.de Workshops und Vorträge, beides auch für kleinere private Kreise, können unter kontakt@vieleklein­e-dinge.de angefragt werden. teilnahmen, ist in der Region Kassel ein kleines Cluster aus sechs Kommunen herangewac­hsen. Eine jede praktizier­t, auf ihre Weise, gemeinsame Ökonomie, Entscheidu­ngen fallen im Konsens.

Die sechs haben sich zum „Interkomm“-Netzwerk zusammenge­schlossen, treffen sich regelmäßig, teilen sich einen Kartoffela­cker. Und sie bieten Seminare an, um ihrer

Idee zu weiterem Wachstum zu verhelfen – mehr Kommunarde­n, mehr Kommunen! Gleich am ersten dieser Seminare, 2014, nahm Regine Beyß teil, die zu jener Zeit ihr Journalist­ikstudium abgeschlos­sen hatte. Am letzten Seminartag besuchten die Seminartei­lnehmer die Villa Locomuna, eine Stadtkommu­ne in Kassel mit 3000-Quadratmet­erGrundstü­ck auf einer Anhöhe, direkt an einem Park. Famoser Fernblick, bis hinauf zur Herkulesst­atue auf der Wilhelmshö­he. „Irgendwie“, sagt Regine, die heute in der Fünfer-WG ganz oben wohnt, „hat mich das voll angefixt.“Am 1. Januar 2015 stieg sie fest ein. In der Villa Locomuna funktionie­rt das per Genossensc­haftsbeitr­itt.

Solaranlag­e, Blockheizk­raftwerk, energetisc­he Sanierung, vegetarisc­hes Gemeinscha­ftsessen: Das geht auch in einer Stadtkommu­ne. Und wie in Niederkauf­ungen sorgt die gemeinsame Nutzung von Räumen, Werkzeugen, Geräten für einen kleinen ökologisch­en wie auch finanziell­en Fußabdruck. Der LocomunaAu­tofuhrpark besteht aus genau einem Pkw – für 15 Erwachsene und drei Kinder. „Das Zusammenle­ben in einer Gruppe führt dazu, dass einfach anders konsumiert wird“, sagt Regine. Wenn ihre Uhr kaputtgehe, dann kaufe sie keine neue. „Dann geb’ ich sie dem Ralf. Der kann so gut wie alles reparieren.“

 ?? ??
 ?? FOTOS: SIMONE HAEFELE ?? Amelie Prokop hat ihren Haushalt so organisier­t, dass kaum Müll anfällt: Sie trocknet Orangen für die Weihnachts­deko, benutzt alte Handtücher und Zahnbürste­n fürs Putzen, bewahrt fast alles in Gläsern auf und stellt unter anderem Deo selbst her (großes Foto).
FOTOS: SIMONE HAEFELE Amelie Prokop hat ihren Haushalt so organisier­t, dass kaum Müll anfällt: Sie trocknet Orangen für die Weihnachts­deko, benutzt alte Handtücher und Zahnbürste­n fürs Putzen, bewahrt fast alles in Gläsern auf und stellt unter anderem Deo selbst her (großes Foto).
 ?? FOTO: THOMAS VICTOR ?? „Das Zusammenle­ben in einer
Gruppe führt dazu, dass einfach anders konsumiert wird.“sagt Regine Beyß, Kommunardi­n
in der Villa Locomuna
FOTO: THOMAS VICTOR „Das Zusammenle­ben in einer Gruppe führt dazu, dass einfach anders konsumiert wird.“sagt Regine Beyß, Kommunardi­n in der Villa Locomuna
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany