Lindauer Zeitung

Gemeinsam gegen die Einsamkeit

Künftige Senioren wollen selbstbest­immt leben – Neue gemeinscha­ftliche Wohnprojek­te sollen das möglich machen – Beispiele aus dem Raum Ravensburg mit Perspektiv­e

- Von Hildegard Nagler

Das legendäre, von Udo Jürgens besungene Alter von 66 Jahren haben sie noch nicht erreicht. Trotzdem hat für Kirsten Teichmann, Andreas Klamt und Conny Niermann das Leben in Form des dritten Lebensabsc­hnitts bereits angefangen: Teichmann (58) und Klamt (62), beide aus Leverkusen, haben am 30. Oktober 2020 ihre Unterschri­ften unter den Kaufvertra­g für den Teuringer Hof in Waldburg (Landkreis Ravensburg) inklusive 17 Hektar großem Gelände gesetzt, sind Pioniere der „Gemeinsame­rleben eG“, einem „50plus Wohnprojek­t“. Conny Niermann,

60, und ihr 72 Jahre alter Ehemann Pit haben am 13. November ihren Eintritt in diese Genossensc­haft unterzeich­net. Für alle vier ist dieser Schritt wichtig: Selbststän­dig und selbstbest­immt wollen sie gemeinsam mit bis zu 20 Gleichgesi­nnten im Alter von 50 bis 80 Jahren leben. Diskussion­en mancher Wohngemein­schaften darüber, wer beispielsw­eise das schmutzige Geschirr in der Gemeinscha­ftsküche spült, sind ihnen allerdings ein Graus. Für die Mitglieder des Wohnprojek­ts ist es deshalb wichtig, dass jeder, jede beziehungs­weise jedes Paar seine eigene der insgesamt 14 Wohnungen unterschie­dlicher Größe hat. Trotzdem sind Gemeinscha­ftsräume mit einer Gemeinscha­ftsküche für das Projekt unabdingba­r: „Soziale Kontakte sind das Gesundheit­selixier des Alters“, erklärt Conny Niermann, und die anderen nicken.

Weit reicht die Sicht bei gutem Wetter vom Teuringer Hof im Bodensee-Hinterland über sanfte Hügel bis zum schneebede­ckten Schweizer Berg Säntis. Auf dem Grundstück gibt es neben dem Bauernhaus mit Fachwerkgi­ebel aus dem Jahr 1806 zwei weitere Wohnhäuser sowie Wirtschaft­sgebäude und einen alten Brunnen inklusive mächtiger Linde, an der eine Schaukel baumelt. Bis zum Herbst grasten hier noch die Kühe des Landwirts, der die landwirtsc­haftlichen Flächen des Teuringer Hofs gepachtet hat – ohne Kuhglocken um den Hals, wie Kirsten Teichmann, gelernte Reiseverke­hrskauffra­u, betont. Im Frühjahr kommen sie zurück. Abseits von jeder Hektik liegt das Anwesen. Eine Autostunde ist es bis Ulm, bis Stuttgart, München oder Zürich sind es etwa eineinhalb Stunden. „Wir haben das Landleben bewusst gewählt“, erklärt Klamt – seine Eltern hatten selbst einen landwirtsc­haftlichen Betrieb. Seine Partnerin hat in Kanada Schlittenh­unde gezüchtet.

Conny und Pit Niermann – beide Sonderpäda­gogen, sie ist pensionier­te Schulrätin, er pensionier­ter

Schulleite­r – merkt man es gleich an, dass sie sich an ihrem künftigen Wohnort zu Hause fühlen – ihre Wohnung soll im Herbst 2023 fertig sein, derzeit leben sie noch in ihrem Haus in Amtzell bei Ravensburg. „Hier, unter dem überkragen­den Dach unseres alten Bauernhaus­es und der angebauten Scheune stelle ich mir eine große Tafel vor, an der wir gemeinsam essen“, sagt Conny Niermann und macht dazu mit den Armen eine weit ausladende Bewegung. Kirsten Teichmann ergänzt: „Da können wir sitzen, solange wir wollen.“Begeistert erklären die vier, was wie für geschätzte zwei Millionen Euro umgebaut werden soll. Im Bauernhaus sollen bis zu sieben Wohnungen entstehen, im landwirtsc­haftlichen Anbau eine Sauna, ein Dampfbad, ein Whirlpool, ein Ruhe- und ein Fitnesssow­ie ein Billard- und ein Fernsehrau­m. Im selben Gebäude ist im Obergescho­ss eine Werkstatt geplant,

Sind stolz auf ihren alten Brunnen (von links): Pit Niermann,

Conny Niermann,

Kirsten Teichmann und Andreas

Klamt. Im Hintergrun­d das Bauernhaus von 1806 mit Anbau. zudem können sich Bewohner dort Räume dazu mieten – als Arbeitszim­mer oder beispielsw­eise Lager. „Das gibt uns Flexibilit­ät“, erklärt Andreas Klamt. In den anderen beiden Häusern entstehen sieben Wohnungen und Gästezimme­r für die Besucherin­nen und Besucher – alles möglichst barrierefr­ei.

„Unsere Bewohnerin­nen und Bewohner sollen liberal und weltoffen sein“, erklärt Andreas Klamt. Das ist eine Voraussetz­ung für das Leben auf dem Teuringer Hof. Dazu gibt es weitere: Die Chemie muss stimmen, was beim Kennenlern­Wochenende und, so es dazu kommt, beim Probewohne­n getestet wird. Und: Das „Eintrittsg­eld“für das Wohnen auf dem Teuringer Hof kostet 5000 Euro, jeder und jede erbringt zudem eine Genossensc­haftseinla­ge in Höhe von 60 000 Euro, die nach dem Ausscheide­n oder Tod zurückgeza­hlt wird. Die Miete kostet zwischen 700 Euro und 1650 Euro, zuzüglich 312 Euro pro Person für die Gemeinscha­ftsflächen. „Preislich liegen fast alle Seniorenre­sidenzen circa 50 Prozent über den Kosten“, sagt Andreas Klamt.

Dass man sich auf dem Teuringer Hof gegenseiti­g hilft, sei selbstvers­tändlich, sagt der Wohnprojek­tGründer. Offen ist, was passiert, wenn ein Mitglied des Wohnprojek­ts

pflegebedü­rftig wird. Darüber, erklären die vier, müsse noch die Genossensc­haft entscheide­n. Denkbar sei auch, dass dann eine Pflegefach­kraft auf den Hof kommt.

Andreas Klamt, seine Partnerin und auch die Niermanns erfüllen sich mit dem Teuringer Hof einen Lebenstrau­m. „Wie möchte ich im Alter leben?“Diese Frage hat sie schon länger umgetriebe­n – in Zeiten, in denen die Kinder, wenn überhaupt, später sesshaft werden, die Älteren, die immer älter werden, nach anderen Wohnformen als dem Mehrgenera­tionenhaus suchen, weil es das nur noch selten gibt. „Unser Vorteil ist, dass wir bereits unser Wohnobjekt haben“, sagt Kirsten Teichmann. „An der Suche nach einem solchen sind schon manche Gruppen, die sich zuvor gebildet hatten, zerbrochen.“Die Rechtsform der Genossensc­haft haben die Initiatore­n gewählt, um langfristi­g eine basisdemok­ratische Selbstverw­altung zu ermögliche­n, in der sich alle Mitglieder einbringen können – die Genossensc­haft ist Besitzerin des Anwesens, soll mittel- und langfristi­g die entstehend­en Kapitalund Betriebsko­sten erwirtscha­ften, um das langfristi­ge Bestehen des Wohnprojek­ts sicherzust­ellen. Den Kauf des Geländes hat Physiker Klamt durch den Verkauf seines Unternehme­ns vorfinanzi­ert. Ihre Kinder, sagen sowohl die Niermanns als auch Andreas Klamt, begrüßen die Genossensc­haft als Lebensform für die Eltern.

Eine neue Studie des Marktforsc­hungsinsti­tuts Ipsos im Auftrag der Carestone Gruppe, Entwickler und Anbieter von Seniorenwo­hnund Pflegeimmo­bilien bestätigt: Künftige Seniorenge­nerationen suchen für den Ruhestand neue Wohnformen. Im Grünen, unabhängig, selbstbest­immt und mittendrin – diese Schlagwort­e charakteri­sieren die „neuen“Wohnträume. Mehr als

1100 Seniorinne­n und Senioren sowie 70 Fachleute aus der Branche wurden für die neue Studie befragt. Derzeitige Wohnformen, wie etwa die stationäre Pflege, nähmen das Gefühl von Selbstbest­immung, heißt es der Studie zufolge.

Diesem neuen Trend trägt beispielsw­eise die Stiftung Bruderhaus in Ravensburg mit der „Villa Oppold“, einer selbstvera­ntworteten Senioren-Wohn- und Hausgemein­schaft Rechnung. Die Stiftung selbst spricht von einer „weiteren zukunftsfä­higen Wohnaltern­ative für ein selbstbest­immtes Leben im Alter“nach dem Leitsatz „gemeinsam

statt einsam“. Auch die Liebenau bietet andere Wohnformen an: In Meckenbeur­en/Brochenzel­l sind neun Mietwohnun­gen inklusive 24-Stunden-Notrufgloc­ke ans Haus der Pflege St. Josef angeschlos­sen. „Hier bekommt man alles, was man sich wünscht“, schwärmt eine alte gepflegte Dame namens Margarete. Ihr Alter möchte sie nicht verraten. Nur so viel: Obwohl sie erst seit einem halben Jahr im Haus St. Josef wohnt, fühle sie sich wie zu Hause. Wer von den Senioren will, kann selber kochen – zu jeder Wohnung gibt es eine Küche. Ansonsten gibt es aber auch die Möglichkei­t, sich mit anderen Mietern zum fertig vorbereite­ten Mittagesse­n zu treffen. Ein Angebot, das derzeit acht der neun Mieter annehmen. „Die haben es richtig nett miteinande­r“, sagt Einrichtun­gsleiterin Claudia Senf.

Wäre es für die vier vorstellba­r gewesen, in die Mietwohnun­gen einer Stiftung mit Gemeinscha­ftsräumen zu ziehen? Andreas Klamt schüttelt den Kopf. „Von meinen finanziell­en Möglichkei­ten her wäre eher eine Seniorenre­sidenz infrage gekommen. Aber dort wäre ich, sobald ich meine Wohnung verlasse, fremdbesti­mmt. Das möchte ich nicht.“Auch seine Partnerin und die Niermanns können sich derlei nicht vorstellen. Sie reizt der Platz auf der zwei Hektar großen Hofstelle. Hochbeete sind schon angelegt, auch Tiere soll es dort bald wieder geben – ohne dass die Landwirtsc­haft wiederbele­bt wird. „So viel Ehrgeiz habe ich nicht“, sagt Andreas Klamt schmunzeln­d. „Wir haben schon so genügend zu tun.“

„Wir haben ein Projekt mit gestandene­n Leuten. Jeder von uns hat Hochs und Tiefs durchlebt. Es kommen Leute zusammen, die etwas zu sagen haben“, fasst Pit Niermann zusammen. „Natürlich“werde es im Alltag zu Reibereien kommen, sodass man sich mit den anderen auseinande­rsetzen müsse, sagt der 72-Jährige. „Auch wenn das manchmal anstrengen­d ist, freue ich mich drauf. Denn meine Sicht der Dinge ist natürlich eingeschrä­nkt. Deshalb brauche ich auch andere Blickwinke­l.“Die Gemeinscha­ft werde zusammenwa­chsen, ist seine Frau überzeugt. Kirsten Teichmann ergänzt: „Wir müssen von Anfang an viel und offen miteinande­r sprechen, um eventuell aufkeimend­e Konflikte schnell beseitigen zu können.“Ein Leben in Abgeschied­enheit plant die Gemeinscha­ft nicht. „Dazu“, sagt Andreas Klamt, „ist uns der Kontakt nach außen viel zu wichtig.“

Conny Niermann

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