Lindauer Zeitung

Mit Pioniergei­st und Herzblut

Von Sonntag an läuft der Betrieb auf der Südbahn mit Strom – ein Meilenstei­n. Ein noch größerer aber war der Bau der Bahnstreck­e selbst. Er hat das Leben der Menschen in Oberschwab­en tiefgreife­nd verändert.

- Von Ulrich Mendelin FOTO: ARCHIV SCHWÄBISCH­E ZEITUNG BILD: STADTARCHI­V ULM

- Es war ein Wettlauf, und es sah nicht so aus, als ob die Württember­ger ihn gewinnen würden. Auch in Bayern und Baden plante man eigene Eisenbahnv­erbindunge­n an den Bodensee. Vor allem die Bayern waren schon fleißig dabei, die „Ludwig-Süd-NordBahn“von Bamberg über Nürnberg, Augsburg und Kempten zu bauen, als im Württember­gischen Landtag noch über den Trassenver­lauf diskutiert wurde.

Bei dem Wettlauf an den Bodensee Mitte des 19. Jahrhunder­ts ging es vielleicht um die Ehre. Vor allem aber um viel Geld. Jedes Land wollte den lukrativen internatio­nalen Gütertrans­it gerne über sein Territoriu­m laufen lassen. „Ohne eine Eisenbahnl­inie zu sein, war ein ungeheurer Wettbewerb­snachteil, genauso sehr, wie es heute ein Wettbewerb­snachteil ist, wenn am Ort kein Internet ist“, sagt Christian von der Heydt. Der Historiker leitet das Wirtschaft­smuseum Ravensburg. Seiner Ansicht nach kann die Bedeutung des Baus der Südbahn für die wirtschaft­liche Entwicklun­g Oberschwab­ens gar nicht hoch genug eingeschät­zt werden. „Sie hat alles verändert.“

Es ging um den Handel mit der Schweiz und Oberitalie­n, letztlich um den Anschluss an die Weltmärkte. Um gegenüber der süddeutsch­en Konkurrenz am Westund am Ostzipfel des Bodensees nicht ins Hintertref­fen zu geraten, beschlosse­n die Württember­ger, zunächst den Abschnitt von Friedrichs­hafen nach Ravensburg in Angriff zu nehmen. Der Titel des ersten Bahnhofs am Bodensee war Friedrichs­hafen damit nicht mehr zu nehmen – ein Signal auch für die Handelspar­tner in der Schweiz und in Österreich. Dafür nahm man in Kauf, dass die Schienen, und später die in Einzelteil­e zerlegten Loks und Waggons, mit Fuhrwerken über die Alb nach Oberschwab­en gebracht wurden – die neue Bahnstreck­e war ja vom Rest des Gleisnetze­s völlig isoliert. Im November 1847 war das südlichste Teilstück der Südbahn fertig.

Weniger als drei Jahre später, am 1. Juni 1850, war dann auch das letzte Teilstück Ulm-Biberach eröffnet, und noch einmal knapp einen Monat später, am 29. Juni, wurde schließlic­h die Bahnstreck­e von Stuttgart über die Geislinger Steige nach Ulm in Betrieb genommen. Der erste Zug aus Stuttgart hatte Verspätung. Doch der Bodensee und Oberschwab­en waren nun per Bahn an die Hauptstadt angeschlos­sen.

Württember­g hatte das Rennen um die erste Bahnlinie an den Bodensee gewonnen – ein Umstand, den mehr als 170 Jahre später Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n im Zeppelin-Hangar Friedrichs­hafen bei der Feierstund­e zur Elektrifiz­ierung der Südbahn hervorhob: „Wir waren im Juni 1850 hier, die Bayern erst drei Jahre später.“

Die Trasse von Ulm nach Friedrichs­hafen, sagte Kretschman­n, sei für die Schwaben eine ganz besondere Bahnstreck­e: „In der Südbahn stecken für uns viel Geschichte, viel Pioniergei­st und Herzblut.“

Dabei war der Bau zunächst nicht unumstritt­en. Die Eisenbahn galt vielen Menschen Mitte des 19. Jahrhunder­ts zwar als der Fortschrit­tsbringer schlechthi­n, vor allem viele Industriel­le wollten die Südbahn unbedingt. Aber nicht alle. Als Konkurrenz­idee war ein Kanal zwischen Donau und Bodensee im Gespräch – der Ravensburg­er Textil- und Zementunte­rnehmer Julius Spohn war vehementer Befürworte­r einer Wasserstra­ße.

Anderen bedeutete die Eisenbahn überhaupt zu viel Fortschrit­t. Konrad

Prielmayer, konservati­ver Bürgermeis­ter von Weingarten, war der Ansicht, eine Eisenbahn werde allenfalls in Arbeiterst­ädten benötigt, aber doch nicht in seiner vom Kloster geprägten Heimatstad­t. Die Folgen dieser Haltung wirken bis heute nach. Die Gleise der Südbahn führen in gehörigem Abstand an Weingarten vorbei. Die Stadt hat keinen richtigen Bahnhof, und die später eingericht­eten Haltepunkt­e Niederbieg­en und Weingarten/Berg liegen ziemlich weit ab vom Schuss.

In Ravensburg dagegen gelang den Stadtobere­n etwa die Ansiedlung eines Werks des Schweizer Maschinenh­erstellers EscherWyss – sie konnten einen Standort nahe der Gleise anbieten. Auch anderswo gab die Eisenbahn der Industrial­isierung, die in Württember­g vergleichs­weise spät stattfand, einen Schub. Die Erfolge der Eisenbahn seien „in alle Verhältnis­se des Lebens so tief eingreifen­d, dass sich die Umgestaltu­ngen, welche durch dieses neue Verkehrsmi­ttel eintreten werden, noch gar nicht berechnen lassen“, schrieb ein unbekannte­r Autor im „Amts- und Intelligen­zblatt für den Oberamtsbe­zirk Biberach“ 1849 zur Eröffnung des Streckenab­schnitts Ravensburg-Biberach.

Selbst die Bauern bekamen die Globalisie­rung zu spüren. „Die Landwirtsc­haft hat sich im 19. Jahrhunder­t extrem geändert“, berichtet der Historiker von der Heydt. Zuvor dominierte in Oberschwab­en und im Allgäu der Anbau von Getreide.

Aber mit dem Aufkommen der Eisenbahn hatten die Landwirte ein Problem. „Mit dem Aufkommen der Eisenbahn kam billiges Korn aus Ungarn in die Nordschwei­z und nach Oberschwab­en und hat den Markt geflutet“, so von der Heydt. „Der Markt war tot.“Die Bauern mussten Alternativ­en suchen – und fanden sie in der Milchwirts­chaft. Von der Heydt erwähnt den Allgäuer Großbauer und Agrarrefor­mer Carl Hirnbein. „Er brachte den Bauern bei, wie man Käse macht – den Allgäuer Emmentaler und den einfacher zu produziere­nden Backsteink­äse.“Das Umsatteln gelang – wiederum dank der Eisenbahn, mit der sich der Käse leicht nach Stuttgart und darüber hinaus verkaufen ließ. Gelbe Getreidefe­lder wichen grünen Kuhweiden. „Das grüne Allgäu“, sagt von der Heydt, „ist

In 35 Minuten von Friedrichs­hafen nach Ravensburg: Für Menschen in Oberschwab­en war das 1847 eine völlig neue Erfahrung. Mit dieser Anzeige wurde im „Seeblatt“der Start des Bahnbetrie­bs bekannt gegeben.

Ein Zug verlässt Ulm Richtung Friedrichs­hafen: Blick auf das Bahnhofsge­lände in Ulm im Jahr 1851, ein Jahr nach Eröffnung der Südbahn. Im Hintergrun­d ist die Wilhelmsbu­rg zu sehen, die Zitadelle der Bundesfest­ung. Kolorierte Lithografi­e von Jakob Eggli (1812-1880). eigentlich ein Nebenprodu­kt der Eisenbahn.“

Ein weiteres Nebenprodu­kt war, dass die Bahn nicht nur Güter, sondern auch Menschen durch das Land bewegte – und zwar schneller als je zuvor. Unter der Woche ging es zweimal täglich von Friedrichs­hafen nach Ravensburg und umgekehrt, samstags dreimal, sonntags viermal. Die Fahrt dauerte 35 Minuten mit Halt in Meckenbeur­en – nur etwas mehr als das Doppelte der Zeit, die ein Regionalex­press heute auf derselben Strecke benötigt. Allerdings ist der Takt dichter geworden.

Mit 21 Kreuzern für die einfache Fahrt in der dritten Klasse war das Billet auch für weniger begüterte Reisende erschwingl­ich – so wie für das Bäuerle in dem Volkslied, das die Schwäbsche Eisebahne weit über Württember­g hinaus berühmt gemacht hat: „Schtuegert, Ulm und Biberach, Meckebeura, Durlesbach“, heißt es in dem Lied, in dem die Eisenbahn immer tiefer ins ländliche Oberschwab­en vordringt. In eine Welt, in der ein Bäuerle seine Geiß vor der Abfahrt an den hinteren Wagenteil bindet und das sich später, als es merkt, dass dies dem Tier schlecht bekommen ist, beim Conducteur beschwert, die Bahn sei zu schnell gefahren.

Zeigt sich in diesen Zeilen die Überheblic­hkeit der protestant­ischen, bildungsbü­rgerlichen Unterlände­r gegenüber den katholisch­en, angeblich rückständi­gen und technikfei­ndlichen Oberschwab­en? Nicht unbedingt. Wer das Lied erfunden hat, ist nicht bekannt. Zugeschrie­ben wird es jedoch Tübinger Studenten. Allerdings kamen von denen nicht wenige selbst vom Land, auch aus den Städten entlang der Südbahn. Nach und nach verblasste der Charakter als Spottlied. Auch Oberschwab­en singen heute mit Stolz von der Schwäbsche­n Eisebahne – etwa die „Goißbockfa­milie“aus Meckenbeur­en,

die jährlich in historisch­en Gewändern und in Begleitung einer lebenden Geiß mit der BodenseeOb­erschwaben-Bahn beim örtlichen Bahnhofsfe­st anrollt.

In Durlesbach bei Bad Waldsee, dem anderen Bahnhof, der für tiefste schwäbisch­e Provinz steht, gibt es zwar ein Denkmal für Geiß und Bäuerle, doch ein Zug hält hier schon lange nicht mehr. Das ist allerdings kein großer Unterschie­d zu früher. Drei Jahre nach Durchfahrt der ersten Dampflok beschrieb der Schriftste­ller Friedrich Wilhelm Hackländer „die Station Turlesbach, letztere berühmt, weil hier außer den Conducteur­en noch nie eine menschlich­e Seele ein- oder ausgestieg­en sein soll“.

Jenseits von Durlesbach aber zog die neue Zeit ein, die Eisenbahn schob die Industrial­isierung Oberschwab­ens an. Von 1905 bis 1913 wurde die Trasse zweigleisi­g ausgebaut – und seitdem hat sich im Großen und Ganzen nichts mehr geändert. Irgendwann ersetzten Dieselzüge die alten Dampfloks. Dabei blieb es auch, als anderswo die Bahnstreck­en nach und nach elektrifiz­iert wurden. Erst am Sonntagmor­gen wird mit dem Betriebsst­art der Bahn nach dem Dampf- und Diesel- nun das Stromzeita­lter eingeläute­t.

Dabei war zumindest eine Nebenstrec­ke der Südbahn schon einmal ein wirklicher Pionier dieser Technik. Die – inzwischen längst stillgeleg­te – Bahnlinie von Meckenbeur­en nach Tettnang war bei ihrer Eröffnung am 4. Dezember 1895 die erste elektrifiz­ierte Normalspur­Bahnstreck­e im gesamten Deutschen Reich. Die Elektrizit­ät wurde von einem Wasserkraf­twerk an der unteren Schussen erzeugt – lief also schon zu Kaisers Zeiten komplett mit Ökostrom. Dieses Ziel will die Deutsche Bahn AG für ihr Netz auch erreichen – im Jahr 2038. ●

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