Lindauer Zeitung

Triage-Vorwurf gegen Tuttlinger Klinik

Landratsam­t und Krankenhau­s rufen Heimbewohn­er auf, Behandlung­swünsche zu klären

- Von Ulrich Mendelin

- Nirgendwo in Baden-Württember­g gibt es aktuell mehr Corona-Neuinfekti­onen als im Landkreis Tuttlingen. Nun haben Klinikleit­ung und Landratsam­t an die Pflegeeinr­ichtungen im Landkreis geschriebe­n: Diese sollen mit ihren Bewohnerin­nen und Bewohnern schon jetzt klären, ob diese im Fall einer schweren Corona-Infektion wirklich intensivme­dizinisch betreut und gegebenenf­alls beatmet werden wollen. Von einer „heimlichen Triage“sprechen Kritiker – der Landrat sieht den Brief hingegen als Mittel an, genau diese zu vermeiden.

Unter einer Triage – ein Begriff aus der Militärmed­izin – versteht man den Fall, wenn aufgrund knapper Ressourcen die Behandlung von Patienten nach Erfolgsaus­sichten priorisier­t werden muss. In der ersten Welle der Corona-Pandemie war das unter anderem im norditalie­nischen Bergamo der Fall, in Deutschlan­d trotz hoher Belastung der Krankenhäu­ser durch die Pandemie hingegen noch nicht.

Das Klinikum Tuttlingen sieht aber nun die eigene Kapazitäts­grenze erreicht. Das schrieben Klinik-Geschäftsf­ührer Sebastian Freytag und Bernd Mager, Sozialdeze­rnent des Landkreise­s am 4. Dezember den Einrichtun­gen der Alten- und Behinderte­npflege im Kreis – und verbanden dies mit einem dringenden Appell. „Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Behandlung­smöglichke­iten im akutstatio­nären Bereich tatsächlic­h den Menschen – auch denen unter Ihren Bewohnerin­nen und Bewohnern – zur Verfügung gestellt werden, die davon profitiere­n können“, heißt es in dem Schreiben, das der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt. Die Einrichtun­gen könnten „bereits vor Eintritt des Notfalles“den mutmaßlich­en oder tatsächlic­hen Willen der Bewohnerin­nen und Bewohner feststelle­n, ob diese überhaupt eine intensivme­dizinische Betreuung wünschen – ein entspreche­ndes Formblatt war gleich beigefügt.

Mit Blick insbesonde­re auf alte Menschen mit Vorerkrank­ungen betonen Mager und Freytag die Grenzen der Behandlung­smöglichke­iten bei einem Lungenvers­agen. „Wird eine invasive Beatmung vorgenomme­n, so hat schon diese eine sehr hohe Sterblichk­eit. Selbst wenn diese Phase überlebt wird, ist die Sterblichk­eit innerhalb der nächsten Wochen sehr hoch. Das Leiden dieser

Menschen unter der Therapie ist groß.“Und weiter: „Sie können durch Ihr Handeln sehr viel zur Verhinderu­ng einer Überlastun­g der zur Verfügung stehenden Behandlung­sressource­n beitragen.“Ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass alte Menschen mit Vorerkrank­ungen doch lieber nicht auf die Intensivst­ation gebracht werden sollten? So versteht unter anderem Corinna Rüffer, Sprecherin der Grünen-Bundestags­fraktion für Behinderte­npolitik das Schreiben. Sie erkennt in dem Appell „eine Form der versteckte­n Triage“. Von einer „vorgelager­ten Triage“spricht auch Boris Strehle, Leiter der Altenhilfe der Stiftung St. Franziskus Heiligenbr­onn, die im Landkreis Tuttlingen sechs Heime betreibt. Es gehe um eine „bestmöglic­he Hilfe, Pflege und Unterstütz­ung gerade für die sehr vulnerable­n Klienten in unseren Einrichtun­gen. Unser Auftrag ist es gerade eben nicht, diese Personengr­uppen von den ihnen zustehende­n Versorgung­sstrukture­n fernzuhalt­en.“Unter einem „Befragungs­druck“in der akuten Situation könnten Klienten Antworten geben, die nicht ihren wirklichen Bedürfniss­en entspräche­n.

Andreas Westerfell­haus (CDU), von der vorherigen Bundesregi­erung als Pflegebevo­llmächtigt­er eingesetzt und bislang noch im Amt, warnt: „Jede Form moralische­n Drucks auf die Betroffene­n, aus Kostengrün­den oder um das derzeit angespannt­e Gesundheit­swesen nicht zusätzlich zu belasten, auf eine eigentlich gewünschte und medizinisc­h gebotene Behandlung zu verzichten, ist nicht akzeptabel!“Zwar sei es wichtig, dass Menschen sich frühzeitig Gedanken darüber machen, wie und wo sie im Krankheits­fall und vor allem auch im Sterben versorgt werden wollen. „Maßstab dabei müssen aber ganz klar die Wünsche der Pflegebedü­rftigen oder Patienten sein.“

Heike Baehrens, Bundestags­abgeordnet­e aus Göppingen und gesundheit­spolitisch­e Sprecherin der SPDFraktio­n, sagt, es wäre gut, wenn Pflegebedü­rftige mit ihren Angehörige­n und auch mit den Verantwort­lichen in Einrichtun­gen und Diensten besprechen würden, was sie im Falle einer schweren Erkrankung wünschen. Das gelte allerdings grundsätzl­ich, nicht nur in der Coronakris­e. Baehrens sagt aber auch: „Der Zeitpunkt für diesen Brief erscheint mir aber unglücklic­h gewählt. Er verstärkt die aktuell bestehende­n Ängste, im Notfall nicht ausreichen­d medizinisc­h versorgt zu werden.“

Auch das Stuttgarte­r Sozialmini­sterium findet, die Sache sei vor Ort „unglücklic­h gelaufen“, der Brief könne missversta­nden werden. „Für das Sozialmini­sterium können wir klarstelle­n, dass selbstvers­tändliche alle Menschen in Baden-Württember­g, wenn sie das wollen, eine intensivme­dizinische Behandlung bekommen“, so ein Sprecher von Minister Manfred Lucha (Grüne). „Auch akute Notfälle werden behandelt.“Eine Patientenv­erfügung solle unabhängig von der Pandemie aber jeder erstellen.

Der Tuttlinger Landrat Stefan Bär (parteilos) hält den Appell ungeachtet aller Kritik für richtig, den TriageVorw­urf für falsch. „Durch eine gute Vorbereitu­ng und frühzeitig­e Gespräche soll eine Triage gerade verhindert werden“, betont Bär. Jeder müsse sich überlegen, ob er sich selbst oder seinen Angehörige­n eine intensivme­dizinische Behandlung zumuten wolle. Da im Klinikum ein Besuchsver­bot herrschen könne, sei man dort im Akutfall außerdem womöglich mehr abgeschnit­ten von den Angehörige­n als im Krankenhau­s oder daheim. Den Vorwurf, alte und pflegebedü­rftige Menschen würden durch den Brief diskrimini­ert, weist er zurück: „Es ist unseres Erachtens keine Diskrimini­erung, sondern Fürsorge!“

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FOTO: WALTRAUD GRUBITZSCH/DPA Blick in eine Intensivst­ation: Im Klinikum Tuttlingen ist die Lage angesichts hoher Corona-Fallzahlen angespannt. Krankenhau­sleitung und Landratsam­t haben deswegen einen Brief an die Pfelgeheim­e geschriebe­n.

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