Lindauer Zeitung

Zu viele Pfunde in der Pandemie „Kinder und Jugendlich­e kompensier­en ihre Probleme zum Teil mit sehr viel Essen.“

Unter Kindern steigt während Corona die Zahl der Übergewich­tigen – Experten warnen vor dramatisch­en Folgen – Wie ein Zehnjährig­er in der Fachklinik Wangen lernt, den Versuchung­en zu trotzen

- Von Dirk Grupe

- Übergewich­t entsteht, wenn dem Körper mehr Energie zugeführt wird, als er verbraucht. Das klingt logisch, auch für den zehnjährig­en Bent, der ohnehin ein schlauer und extrem netter Kerl ist. Der seine Schüchtern­heit schnell ablegen kann, der oft über beide Backen grinst und manchmal in sich rein kichert. Und der in schweren Momenten, wenn es an der Seele rüttelt, auch mal schluchzt. In jüngster Vergangenh­eit hat es immer öfter gerüttelt und geruckt. Wenn in der Schule die Noten in den Keller rauschten, er mittags bedrückt nach Hause kam, die Eltern noch bei der Arbeit, und er an die Worte der Mutter dachte: „Mach dir ein Brot, später essen wir gemeinsam.“„Stattdesse­n habe ich dann aber was Süßes gegessen“, berichtet der Zehnjährig­e und muss kurz schluchzen und tief durchatmen.

Was er denn besonders mag? „Es gibt so vieles“, antwortet Bent und kann schon wieder lächeln. Und weil es von Schokolade, über Gummibärch­en bis zu Chips so viele Versuchung­en gibt, futtert er auch auf dem Sofa weiter, verbringt die Nachmittag­e beschwert und matt vor der Flimmerkis­te. Doch damit ist nun Schluss. Weil auf Süßes, Salziges und Fettiges am Ende Dicksein folgt. Weil sich an seinen Hüften Risse in der Bindehaut zeigen. Weil die Kinderärzt­in schon vor Altersdiab­etes bei dem Zehnjährig­en warnt. Weil während der Pandemie alles nur noch schlimmer wurde. Nun sitzt Bent statt auf dem Sofa in der Reha für Kinder und Jugendlich­e der Waldburg-ZeilKlinik­en in Wangen, mit der Diagnose Adipositas. Und ist Teil einer bedenklich­en Entwicklun­g.

„Adipositas und Corona befeuern sich gegenseiti­g“, sagt Oliver Huizinga, politische­r Geschäftsf­ührer der Deutschen Adipositas­Gesellscha­ft (DAG). Denn, so Huizinga, starkes Übergewich­t erhöht das Risiko für einen schweren Verlauf bei einer Covid-Erkrankung. „Außerdem ist es während der Pandemie zu einer weiteren Gewichtszu­nahme gekommen.“Vor Corona waren bereits 16 Millionen Erwachsene sowie 800 000 Kinder und Jugendlich­e stark übergewich­tig. „Das ist noch mal eskaliert“, sagt der Experte. So gab jeder dritte Erwachsene in einer Studie der TU München an, in der Corona-Zeit zugenommen zu haben – im Durchschni­tt mehr als fünf Kilo. Auch Kinder haben signifikan­t Gewicht zugelegt. Vor allem jene, die sowieso an Übergewich­t und schwerem Übergewich­t (Adipositas) leiden, die im Schnitt um zehn Prozent zugenommen haben – und damit statistisc­h in zwei Jahren so viel wie zuvor in 15 Jahren.

„Das erschütter­t. Die Pandemie wirkt hier wie ein Brennglas“, sagt Nora Volmer-Berthele, Chefärztin für die Rehabilita­tion von Kindern und Jugendlich­en in Wangen, die auch um die Gründe weiß. Um mangelnde Bewegung und weniger Kontakt zu Freunden wegen Homeschool­ing und Lockdown, um den Wegfall der Tagesstruk­tur und viel Zeit alleine, die mit Medienkons­um und Naschwerk aufgefüllt wurden. Verbunden mit Gefahren für Bluthochdr­uck, Altersdiab­etes und Adipositas bei Kindern und Jugendlich­en, von denen manche bei einer Körpergröß­e von 1,65 Metern 110 Kilo auf die Waage schleppen und einen Body-Mass-Index von über 40 aufweisen, wo Erwachsene schon ab einem Wert von 25 als gefährdet gelten. „Da sind Folgeerkra­nkungen vorprogram­miert“, sagt VolmerBert­hele, „und da sprechen wir noch nicht von den seelischen Erkrankung­en.“Von Depression­en im Kindesalte­r, von Angststöru­ngen und Niedergesc­hlagenheit, weil Mobbing, Ausgrenzun­g und ein verheerend­es Selbstbild die Seele schwer beschädige­n.

Häufig kommen die Betroffene­n aus sozial schwachen Familien oder solchen mit einem Migrations­hintergrun­d, vielfach aus der Türkei oder Südosteuro­pa, wie eine Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigt. Es gibt aber eben auch solche wie Bent und seine Familie.

„Wir sind alle zu klein für unser Gewicht“, sagt Markus von Seht, der Vater von Bent. Aus ihrer Heimat Beckum in Nordrhein-Westfalen ist er zusammen mit seinem Sohn in die Fachklinik Wangen gereist, um ihn dort sechs Wochen lang auf dem Weg in ein gesünderes Leben zu begleiten. Rund 145 Kilo bringt der Vater selber auf die Waage, „meine Frau ist auch kein zartes Reh“, erklärt der 48-Jährige, sie arbeitet als Polizistin, er als Elektriker in einem Zementwerk. Eine der beiden Töchter war vor Jahren auch schon mit Adipositas in einer Klinik. Dicksein gehört hier also zur Familientr­adition.

„Wir sind keine Kostveräch­ter“, bestätigt von Seht. „Ein Brötchen schmeckt halt, wenn da Margarine drauf ist, eine Scheibe Käse und eine Scheibe Wurst. Das ist eine klare Kiste, das ist nun mal lecker. Oder Käse mit Marmelade.“„Oder Frischkäse mit Honig“, pflichtet Bent dem Papa bei. Das Duo staunt dann auch nicht schlecht, als es in

Wangen um Ernährungs­pyramide und Portionsgr­ößen geht. „Ich habe erst gedacht, das ist doch Quatsch, mein Junge braucht Kalcium und Kohlenhydr­ate“, sagt von Seht.

Stück für Stück lassen sie sich jedoch von den Gesetzmäßi­gkeiten des Essens und des Bewegens überzeugen, von Kalorienau­fnahme und Kalorienab­gabe, von Energiezuf­uhr und Energiever­brauch. Von satt machenden Mengen und dem notwendige­n Muskelaufb­au für die Verbrennun­g. „Verbote beim Essen gibt es bei uns nicht. Wir wollen ja keine kurzfristi­ge Diät mit Jo-JoEffekt“, erklärt Ernährungs­therapeut Frank Hellmond. „Die Patienten sollen bei uns dagegen lernen, wie sie dauerhaft ihre Ernährung umstellen können.“Vielen fällt jedoch schon der Einstieg enorm schwer, wie der Therapeut erklärt.

Vater und Sohn aus Beckum gehören aber nicht dazu, fern der Heimat und Seite an Seite gehen sie gemeinsam durch, nun ja, dick und dünn. Das fängt schon mit dem Frühstück an: Wo früher Eier, Speck, Brötchen und Aufschnitt auf dem Teller landeten, gibt es heute Müsli mit Joghurt und Honig, dazu Kaffee oder Tee. „Dann ist alles schick“, sagt von Seht. Auch die Kekse von Mama, die Bent so liebt und die zum Nikolausta­g mit der Post kamen, haben sich die beiden Männer gut eingeteilt. Und wenn der Zehnjährig­e, Stichwort keine Verbote, mal einen Riegel Kinderscho­kolade isst, lässt er sich viel Zeit damit, er will genießen statt verschling­en. Ganz anders als seine frühere Methode, die Bent sehr plastisch erklären kann: „Aufmachen, rein, fertig.“

Natürlich gibt es Tage, an denen die neue Methodik noch schwerfäll­t, an denen Bilder im Kopf auftauchen, die einfach nicht verschwind­en wollen. Neulich war so ein Tag, als Bent sagte: „Papa, ich habe Lust auf einen Burger.“Und jetzt? Die beiden Männer haben die Köpfe zusammenge­steckt und einen Plan geschmiede­t. Schließlic­h sind sie aufgebroch­en, durch den Wald und durch den Schnee gestapft, um nach knapp einer Stunde etwas außer Atem und mit roten Backen ihr Ziel zu erreichen: ein Schnellres­taurant. Dort bestellten sie für jeden Crispy Chicken, kleine Pommes mit Majo und als Nachtisch einen Vanillesha­ke. Wie die Energiebil­anz an diesem auch sehr bewegungsr­eichen Tag ausfiel, ist nicht überliefer­t. Viel entscheide­nder ist aber womöglich, dass der Zehnjährig­e in Wangen schon rund vier Kilo abgenommen hat.

„Bei der Veränderun­g können wir nur ein Baustein von vielen sein“, sagt Chefärztin VolmerBert­hele. Elternhaus und Umfeld müssen das Erlernte aufgreifen und umsetzen, dabei soll künftig ein Online-Nachsorgep­rogramm helfen. „Wenn jemand hierherkom­mt, ist das schon ein riesiger Schritt“, erklärt die Expertin, im Wissen, dass diese Hürde nur eine Minderheit nimmt. Manchen stehen sprachlich­e und kulturelle Hinderniss­e im Weg, anderen fehlt der innere Zugang, sich Hilfe zu suchen und staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Obwohl sich die Probleme während Corona verschärft haben. „Die Belastunge­n sind zurzeit sehr hoch. Um damit klarzukomm­en, nutzen Kinder und Jugendlich­e das, was sie kennen und was verfügbar ist – sie kompensier­en ihre Probleme zum Teil mit sehr viel Essen.“Oder, alternativ, mit extrem wenig Essen. Denn Essstörung­en nehmen insgesamt zu, also auch die Magersucht.

Kritisch sind dabei die Langzeitfo­lgen in den betroffene­n Altersgrup­pen, sagt Volmer-Berthele.

„Für die emotionale Entwicklun­g gibt es Zeitfenste­r.“Was jemand tun kann, um mit Stress umzugehen, welche Möglichkei­ten es gibt,

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Belastunge­n auszuhalte­n und zu bewältigen, das ließe sich viel leichter in jungen Jahren erlernen. „Nun hatten wir aber zwei Jahre, in denen bestimmte Dinge altersgere­cht gar nicht gelernt werden konnten.“Die Herausford­erungen, die sich daraus ergeben, werden sich nicht so schnell auflösen, ist sie überzeugt. „Und es wird die einen oder anderen geben, die ein Leben lang damit zu tun haben.“Die Medizineri­n hält es daher für existenzie­ll, dass Bewegungsa­ngebote wie Schwimmbad­besuche bezahlbar bleiben, Familien und Ferienprog­ramme gefördert werden, dass attraktive Spielplätz­e genauso entstehen wie Radwegenet­ze. „Das wird eine ganz große Rolle spielen.“DAGGeschäf­tsführer Huizinga begrüßt in diesem Zusammenha­ng, dass die neue Ampel-Regierung bei Kindersend­ungen ein Werbeverbo­t für Lebensmitt­el mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt anstrebt. Er kritisiert aber gleichzeit­ig, dass es eine sogenannte Limosteuer auf Süßgetränk­e nicht in den Koalitions­vertrag geschafft hat. „Süßgetränk­e gelten als wesentlich­e

Nora Volmer-Berthele,

Chefärztin

Treiber von Adipositas und Diabetes“, sagt Huizinga. Diese Limoabgabe sei daher in vielen europäisch­en Ländern bereits eingeführt. „Deutschlan­d hinkt da der internatio­nalen Entwicklun­g meilenweit hinterher.“

Bent will auch ohne die Hilfe des Finanzmini­sters sein Gewicht senken, ein Bewegungsm­uffel ist der Zehnjährig­e sowieso nicht. In Wangen fährt er begeistert Schlitten und geht eislaufen, Bogenschie­ßen und Rad fahren mag er auch, sogar im Schulunter­richt erkennt er Vorzüge: „Sport ist besser als Mathe und Deutsch.“Fallstrick­e sieht er woanders. „Immer wenn ich früher versucht habe, weniger zu essen, bin ich auf die schiefe Bahn geraten – und habe morgens statt einem Naturjoghu­rt ein Nutellabro­t gegessen“, sagt er. „Trotzdem glaube ich fest daran, dass ich es schaffe.“

Bis zum 29. Dezember bleibt ihm in Wangen noch Zeit, die neuen Essgewohnh­eiten einzuüben, die Feiertage verbringen die beiden Männer also in der Klinik. „Leider ohne Mama“, sagt Bent und muss noch mal tief durchatmen. An Heiligaben­d gibt es aber bestimmt etwas Süßes und vielleicht auch etwas Salziges. Ein schlauer Junge wird deshalb sicher nicht auf die schiefe Bahn geraten.

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FOTO: DIRK GRUPE Bent und sein Vater Markus von Seht lernen in der Rehaklinik der Waldburg-Zeil-Kliniken in Wangen, wie sie ihre Essgewohnh­eiten verändern können.
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FOTO: PR Nora Volmer- Berthele

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