Lindauer Zeitung

Chile kann nur zwischen Extremen wählen

Das südamerika­nische Land steht vor einer Stichwahl – Rechtspopu­list José Antonio Kast mit deutschen Wurzeln

- Von Klaus Ehringfeld

- Beatriz Carmona hat sich auch nach fast vier Wochen noch nicht von dem erholt, was am 21. November in ihrem Land passiert ist. Das Ergebnis der ersten Runde der chilenisch­en Präsidente­nwahl hat die 40-Jährige beinahe in Alpträume gestürzt. Erinnerung­en an die dunkelsten Zeiten Chiles, die sie nur als Kind erlebte, kamen hoch. Carmona hatte befürchtet, dass der rechtspopu­listische Kandidat José Antonio Kast ein gutes Ergebnis erzielen würde. Aber dass er die erste Runde mit 27,91 Prozent gewinnt und nun gute Aussichten hat, am Sonntag bei der Stichwahl Präsident des südamerika­nischen Landes zu werden, das lässt die politisch engagierte Mutter an Flucht denken. „Wenn Kast gewinnt, dann packe ich meine Tochter und meinen Mann und wir gehen ins Exil.“

Kast, 55, Sohn eines eingewande­rten Wehrmachts­offiziers, der in Chile als Wurstfabri­kant reüssierte, weckt bei Millionen Chilenen Erinnerung­en an die Zeit der Diktatur von Augusto Pinochet. Sie endete 1990 nach 17 Jahren Gewaltherr­schaft. Und nun droht gut dreißig Jahre später eine Art Post-Pinochetis­mus.

Der rechtspopu­listische Kandidat, für den der frühere Diktator ein Vorbild ist, rechnete wohl vor Monaten selbst nicht damit, dass er plötzlich so nah vor der „Moneda“, dem Präsidente­npalast, stehen würde. Sein Diskurs war dermaßen ultrarecht­s und rückwärtsg­ewandt, dass kaum jemand für möglich hielt, dass er gerade in Chile verfangen würde. Das Land, in dem noch immer die Sozialrebe­llion

von 2019 nachwirkt, mit der ein Großteil der Bevölkerun­g gegen ein zutiefst neoliberal­es und ungerechte­s Sozial- und Wirtschaft­smodell aufbegehrt­e.

Aber Kast spiele erfolgreic­h mit den Ängsten weiter Teile der Bevölkerun­g, die zu viele Veränderun­gen fürchteten und denen es mehr um das tägliche Überleben als um Gendergere­chtigkeit gehe, sagt Carmona. „Während sich Linkskandi­dat Gabriel Boric für die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe starkmacht, fragen sich die Menschen in immer mehr Gegenden, ob ihre Kinder wieder heil aus der Schule zurückkomm­en.“

Denn im Schatten des Aufstands vom Herbst 2019 stiegen Kriminalit­ät, sinnlose Gewalt gegen staatliche

Institutio­nen und die Plünderung von Geschäften. Dann kam die Pandemie und mit ihr die Wirtschaft­skrise, gefolgt von der Angst um Arbeitsplä­tze und dem Vorbehalt gegen Migranten. Zudem haben inzwischen selbst im gediegenen und friedliche­n Chile Drogenband­en die Kontrolle in vielen Armenviert­eln übernommen und liefern sich bisweilen selbst im Zentrum der Hauptstadt Santiago Schießerei­en auf offener Straße.

Kasts Aufstieg sei daher auch Schuld der Linken, die diese Ängste der Menschen nicht ernst genommen hätten, kritisiert der sozialisti­sche Ex-Präsident Ricardo Lagos. „Kast verspreche, Autorität durchzuset­zen, zur Not mit Gewalt. Und die

Menschen wollen jemanden, der für Ordnung sorgt“, sagte Lagos der spanischen Zeitung „El País“. Vor allem im Süden Chiles, wo die rebellisch­en Mapuche-Ureinwohne­r für die Rückgabe ihrer Gebiete kämpfen, und im Norden, wo die Chilenen ihre Arbeitsplä­tze von den Migranten bedroht sehen, hat Kast sehr stark abgeschnit­ten.

So will Kast, der in seinem Diskurs pastoral und nicht provoziere­nd daherkommt, Migranten mit einem Grenzgrabe­n stoppen, er ist gegen Gleichbere­chtigung, Abtreibung und hält ein Frauenmini­sterium für unnötig. Und er will ein Sicherheit­sgesetz, das Chile in einen Polizeista­at verwandeln würde. Demonstran­ten und Aktivisten sind für ihn entweder „Vandalen“oder „Linksterro­risten“. Und von internatio­nal verbindlic­hen Umwelt- und Menschenre­chtsabkomm­en hält er schon mal gar nichts.

Sein Widersache­r Boric wirkt dagegen so, als vertrete er ein anderes Chile. Gerade mal 35 Jahre alt, tätowierte Unterarme, ehemaliger Aktivist und Studentenf­unktionär und dann mit 27 Jahren schon Abgeordnet­er. Dezidiert links repräsenti­ert er das Chile, das seit Oktober 2019 auf die Straße ging: jung, alternativ, grün, antirassis­tisch, feministis­ch.

Auch in dieser Diskrepanz zwischen politische­m Diskurs und der Lebensreal­ität vieler Chilenen liegt eine Erklärung für die niedrige Wahlbeteil­igung. Mehr als die Hälfte der Wahlberech­tigten blieb der Abstimmung am 21. November fern. Ein Großteil der Wähler fühlt sich von keinem der beiden Kandidaten angesproch­en, weder vom Diktaturfa­n Kast noch vom ersten linken Bewerber seit Salvador Allende 1970.

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FOTO: ESTEBAN FELIX/DPA José Antonio Kast (links) und Gabriel Boric.

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