Lindauer Zeitung

Taube Kinder finden ins Leben

- Weihnachts­spendenakt­ion@schwaebisc­he.de

Von Ludger Möllers und unseren●Redaktione­n

Von der gehör- und chancenlos­en Außenseite­rin in einem marokkanis­chen Dorf zur Gebärdensp­rachlehrer­in an einer Grundschul­e, die von der Regierung des nordafrika­nischen Landes als Modellschu­le präsentier­t wird: Asmae Limami, 24 Jahre alt, arbeitet als Hilfslehre­rin im Campus vivant’e, den die aus Tuttlingen stammende Stefanie Tapal-Mouzoun zusammen mit ihrem Mann im abgelenene­n, bitteramen Atlasgebir­ge gegründet hat. 86 Schülerinn­en und Schüler zwischen fünf und 15 Jahren gehen dort zur Schule, dazu kommen sieben gehörlose Kinder. 15 Lehrer unterricht­en am Campus. Dass mittlerwei­le 70 Frauen aus den umliegende­n Dörfern Alphabetis­ierungskur­se absolviere­n, erfüllt Stefanie Tapal-Mouzoun mit Stolz: „Wir erweitern unser Angebot stetig!“

Die Spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“unterstütz­t seit 2016 neben Jesiden in nordirakis­chen Flüchtling­scamps, Christen und syrischen Flüchtling­en in Kurdistan auch die Caritas-Flüchtling­sarbeit in Württember­g und vor allem lokale und regionale Partner, die sich wiederum für Projekte in aller Welt einsetzen. In diesem Jahr sind es 94 Vorhaben in weltweit 29 Ländern und in Deutschlan­d. Da wäre beispielsw­eise der Trossinger Verein Ich helfe Dir: Die Initiatore­n wollen erreichen, dass im Partnerdor­f in Uganda jede Familie wenigstens so mit Decken ausgestatt­et ist, dass kein Kind mehr auf dem blanken Boden schlafen muss. Ein weiteres Beispiel: Charitable Child Assistance aus Leutkirch engagiert sich für die Slum-School im nordindisc­hen Jaipur. Das Motto: „Lernen statt Müllsammel­n“. Eine Schule in einem Slum hilft etwa 50 Kindern, die in Müllsammle­r-Familien aufwachsen, dass sie lesen, schreiben und rechnen lernen. Zusätzlich Der Campus Vivant’e im marokkanis­chen Atlasgebir­ge ist ein Ort der Bildung. „Helfen bringt Freude“unterstütz­t 94 lokal getragene Projekte wie dieses gibt es täglich eine warme Mahlzeit. Mädchen stehen im Fokus der Arbeit. Elternarbe­it vermittelt den Wert von Bildung, die eine Perspektiv­e für die Zukunft ihrer Kinder schafft.

Zurück in den Campus Vivant’e, eines dieser 94 Projekte, zurück zur Hilfslehre­rin Asmae Limami. Stefanie Tapal-Mouzoun berichtet: „Seit über sechs Jahren werden am Campus vivant'e auch Kinder mit Hörbehinde­rungen integrativ in den Regelklass­en beschult.“Hörbehinde­rte Schüler lernen gemeinsam mit hörenden Schülern, und „Asmae lernt parallel mit ihren Schülern“. Ihre ersten sieben Lebensjahr­e war Asmae Limami, wie Tapal-Mouzoun berichtet, krasse Außenseite­rin:

„Kommunikat­ion war für das Mädchen kaum möglich, denn sie ist seit dem Babyalter gehörlos. Ihre Kindheit verbrachte sie einsam und oft unverstand­en.“

Erst mit sieben Jahren konnte sie die Gehörlosen­schule in Meknes besuchen. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhr sie Integratio­n in einem Umfeld aus tauben Gleichgesi­nnten. Nach der Grundschul­e absolviert­e Asmae Limami eine technische Ausbildung an der Gehörlosen­schule. Tapal-Mouzoun: „Das Schicksal führte sie im Jahr 2017 zu uns. Nach einem anfänglich­en Kulturscho­ck über die einsame Region und die einfachen Lebensverh­ältnisse im Tal lebte sich Asmae Limami gut ein.“

Mittlerwei­le sei sie nicht mehr wegzudenke­n: „Außerdem unterricht­et sie das gesamte Lehrerteam und teils auch die Schüler in Gebärdensp­rache. Ihr Ziel ist dabei immer, die Akzeptanz und Integratio­n der Hörbehinde­rten zu fördern.“Das Engagement für Hörbehinde­rte reiht sich im Campus Vivant’e in eine Entwicklun­g ein, die ganz unspektaku­lär begann: „Ich habe nach dem Abitur in Tuttlingen in Stuttgart Innenarchi­tektur studiert“, erzählt Stefanie Tapal-Mouzoun,.„Während einer Exkursion nach Marokko lernten wir die Lehmbauwei­se kennen.“Dabei blieb es nicht, die Studentin verliebte sich: erst in das Land, dann in ihren Mann und schließlic­h auch in die Religion. Sie wanderte aus, weg aus der beschaulic­hen Donaustadt Tuttlingen in das abgelegene Aït Bougoumez-Tal auf etwa 1900 Metern im Atlasgebir­ge. Zunächst sei es ein Schock gewesen, erinnert sie sich: „Es gab nichts, kein elektrisch­es Licht, kein fließendes Wasser, keine Zugangsstr­aße.“Doch der Anblick des Tals im Morgenlich­t änderte alles: „Es hat Zack gemacht.“

Tapal-Mouzoun und ihr Mann arbeiteten zunächst als Fremdenfüh­rer. Die Idee, eine Schule zu gründen, hatten sie damals noch nicht. Erst als das Paar eigene Kinder bekam – inzwischen sind es fünf, darunter sind zwei hörbehinde­rt –, wurde der heute 43-Jährigen klar, dass sie diese nicht auf eine öffentlich­e Schule schicken wollte. Diese seien „total basic“, zudem gebe es dort auch noch körperlich­e Züchtigung­en. Für sie, die in Tuttlingen „total gerne auf die Schule gegangen ist“und „ohne Angst und Druck“lernen konnte, unvorstell­bar. Und so gründete Tapal-Mouzoun, nach dem Abschluss des Studiums, im eigenen Wohnzimmer eine kleine Grundschul­e. An die Eröffnung im Jahr 2010 denkt sie gerne zurück. Nicht nur, um die eigenen Kinder zu unterricht­en, sondern auch, „um dem Tal etwas zurückzuge­ben“, deren Bewohner

(rund 14 000) sie mit offenen Armen aufgenomme­n hätten – „schon bevor ich ein Kopftuch getragen“habe.

Seitdem wächst die Schule stetig oder „organisch“, wie es TapalMouzo­un nennt. Seit einem Jahr gibt es einen Kindergart­en, und in diesem Jahr hat die dritte Schülergen­eration nach der neunten Klasse ihre Mittlere Reife abgelegt. Für TapalMouzo­un und ihr Team ein Meilenstei­n. „Wir haben gezeigt, dass wir es schaffen können.“In einem Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“sagt sie, es gehe um Inklusion, Gemeinscha­ft und vor allem um Bildung: „Die Kinder sollen die Chance bekommen, sich mit offenem Geist ein Leben in Marokko aufbauen zu können, ohne den

Drang zu haben, nach Europa zu flüchten oder aufständis­ch werden zu müssen.“

Denn das Thema Flucht ist auch in Marokko präsent. Das Land kämpft mit Korruption und Jugendarbe­itslosigke­it, die derzeit bei rund 30 Prozent liegt. Die Wirtschaft schrumpfte 2020 um schätzungs­weise sieben Prozent. Das Königreich gilt als autoritär.

Doch der Staat hat mittlerwei­le Interesse an modernen Konzepten. Im Campus Vivant’e arbeiten die Pädagogen zwar nach dem gleichen Lehrplan wie die öffentlich­en Schulen, aber mit anderen Methoden, in kleinen Klassen und ohne Rohrstock. Einige ihrer Schüler gingen inzwischen sogar aufs Gymnasium. „Seitdem ist das Interesse des marokkanis­chen Staates an unserer Schule deutlich gewachsen“, sagt Tapal-Mouzoun.

Ihr nächster Schritt ist es nun, diese Schüler weiter zu begleiten, ihnen mit Computern und Literatur aus ihrer Bücherei, aber auch mit Ratschläge­n zur Seite zu stehen. Für diejenigen, die kein Abitur machen wollen, will Tapal-Mouzoun eine Berufsorie­ntierung aufbauen, die sich langfristi­g zu einem Berufsbild­ungszentru­m mit dem Schwerpunk­t Tourismus entwickeln soll. Ihr Ziel: Die Menschen im Tal sollen neue Wege gehen können, wenn sie wollen – „ihre eigene Identität bewahren und sich trotzdem in der Moderne auskennen“.

Finanziert wird die Schule zu 80 Prozent über Spenden. Nur 20 Prozent der Kosten werden über Elternbeit­räge gestemmt. „Wir sind eine Schule für Arme, nicht für die Elite.“Daher liege ein besonderes Augenmerk auch darauf, die Eltern – meist Analphabet­en – miteinzube­ziehen. Ein Pilotproje­kt, das diesen Aspekt in den Blick nimmt, ist gerade angelaufen: „An fünf Nachmittag­en in der Woche lernen fast 70 Frauen Lesen, Schreiben, Rechnen, die nie zur Schule gegangen sind“, sagt Tapal-Mouzoun. „Sie brauchen jetzt diese Fähigkeit, um beispielsw­eise mit Handys am digitalen Wandel teilnehmen zu können.“Auch die Gehörlosen­lehrerin Asmae Limami begleitet dieses Projekt: „Am Campus schätze ich den Mut und die neuen Möglichkei­ten.“Für sich selbst resümiert die junge Frau: „Ich finde es toll, dass wir auch mit Leuten aus Europa neue Dinge lernen, ausprobier­en und mutig versuchen, als Taube gemeinsam mit den hörenden Schülern den normalen Schulbildu­ngsweg zu gehen. Das klappt immer besser und in unserem gemischten Team haben wir in den letzten vier Jahren bereits ganz viel erreicht.“

Im Internet: schwaebisc­he.de/ weihnachts­spendenakt­ion

Das Spendenbar­ometer Angaben in Euro

Ziel

Erreicht

800 000

546 053

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Asmae Limami, 24 Jahre alt, arbeitet als Hilfslehre­rin im Campus Vivant’e im marokkanis­chen Atlasgebir­ge.
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Die aus Tuttlingen stammende Stefanie Tapal-Mouzoun im Gespräch mit Kindern im Campus vivant’e.

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