Wunden, die nie heilen
2016 raste ein Islamist in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz – Viele Opfer und Angehörige fühlen sich alleingelassen
- Im ersten Moment hätte man denken können, Sascha und Hartmut Hüsges hätten unglaubliches Glück gehabt. Am 19. Dezember 2016 will das Paar eine Freundin an ihrem Glühweinstand auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche besuchen. Da sie nicht da ist, gehen die beiden in die „Weihnachtsmarkt-Terrassen“, eine beliebte Partybude gleich schräg gegenüber. „Wir hatten gerade unseren ersten Glühwein in der Hand, da hörte ich dieses Gepolter und sah, wie der Lkw über den Markt fuhr und genau die Bude überrollte, in der wir kurze Zeit vorher noch gestanden hatten“, berichtet Hartmut Hüsges.
Während er sich in einer Art Schockstarre befindet, will sein Mann Sascha helfen: „Ich muss da raus. Ich muss sehen, was mit den Menschen ist.“Hartmut Hüsges will ihn noch aufhalten. „Mir war sofort klar, das ist ein Anschlag. Ich dachte noch, vielleicht explodiert der Lkw noch oder es steigen Leute aus, die schießen“, erinnert sich der heute 65-Jährige. Er verliert seinen Mann aus den Augen. Nach ein paar Minuten kommt Sascha Hüsges zurück. Er hat eine blutende Wunde am Kopf und ist benommen. „Später brach er in meinen Armen zusammen.“
Sascha Hüsges, 44 Jahre alt, ist einer der Ersten, die in der Schlossparkklinik in Berlin-Charlottenburg aufgenommen werden. Die Bergung der anderen Opfer dauert teilweise Stunden. Es ist der größte islamistische Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik.
Sascha Hüsges wird notoperiert und in ein künstliches Koma versetzt. Bis heute ist nicht gänzlich geklärt, wie es zu seiner schweren Kopfverletzung kam. Es wird vermutet, dass den Restaurantfachmann ein herabstürzender Balken traf, als er versuchte, den Menschen zu helfen, die teils unter den niedergewalzten Weihnachtsmarktbuden lagen. Während die Behörden in manchen Fällen Tage brauchen, um die Opfer zu identifizieren, sitzt Hartmut Hüsges im Krankenhaus und hofft, der Alptraum könnte ein Ende nehmen.
Doch der Mann, den er seit 24 Jahren liebt, ist nun in einem reglosen Körper gefangen. Ein Schwerstpflegefall, ans Bett gefesselt. Bei vollem Bewusstsein, aber ohne die Möglichkeit zu sprechen. „Wir haben dann über die Augen kommuniziert. Einmal blinzeln hieß ja, zweimal nein.“
Die Theater- und Opernbesuche, die Reisen sind von nun an nur noch Erinnerungen. Was jetzt im Leben von Hartmut Hüsges zählt, ist, es zu schaffen, dass Sascha nach vielen Monaten nicht mehr mit der Magensonde ernährt werden muss. Der Ehemann püriert den Schweinebraten mit den Kartoffeln zu einem Brei.
Hartmut Hüsges erzählt das alles ruhig und gefasst. Vielleicht hat er auch einen Schutzwall um sich aufgebaut. Irgendwann habe er den Rat eines katholischen Geistlichen angenommen, das Schicksal zu akzeptieren und sich nur kleine, realistische Ziele zu setzen. Doch die Fortschritte sind auch nach Jahren minimal. Irgendwann kann Sascha Hüsges mit seiner linken Hand die TV-Fernbedienung so berühren, dass er selbstständig den Sender wechseln kann. „Der Best Case war nun, dass er irgendwann einen elektrischen Rollstuhl selbst mit einer Hand steuern kann.“
Doch so weit kommt es nicht. Im Oktober dieses Jahres ist Sascha Hüsges an einer Meningitis gestorben. Seit dem Anschlag konnte sein Körper die Gehirnflüssigkeit nicht mehr absorbieren. Über eine implantierte Leitung musste sie in den Bauch abgeleitet werden. Keime führten zur tödlichen Hirnhautentzündung.
Damit ist Sascha Hüsges das 13. Todesopfer vom Breitscheidplatz. Rund 100 wurden verletzt, als der islamistische Attentäter den Schwertransporter in die Menschenmasse auf dem Berliner Weihnachtsmarkt steuerte. „Viele leiden heute noch sehr unter den Spätfolgen, die uns wohl ein Leben lang begleiten werden“, sagt Astrid Passin, Sprecherin der Hinterbliebenen und Betroffenen vom 19. Dezember 2016.
Sie selbst hat bei dem Anschlag ihren Vater verloren. Nun kümmert sich die 48-Jährige ehrenamtlich um andere Angehörige und Opfer. „Nur ungefähr ein Drittel der Betroffenen konnte einigermaßen stabil in den Alltag zurückkehren“, schätzt Passin. Andere mussten frühzeitig in Rente gehen, hätten sich in die Isolation begeben, da sie nicht mehr ohne Ängste am öffentlichen Leben teilhaben könnten. „Bei manchen hat sich das chronische Trauma so manifestiert, dass es auf den Körper ausstrahlt. Sie bekommen in gewissen Situationen Seh- und Hörprobleme – oder ihre Gliedmaßen fangen an zu zittern.“
Das bestätigt der Traumatherapeut Norbert Kröger. Der ehemalige Bundeswehrpsychologe, der unter anderem Kriegs- und Kriminalitätsopfer behandelt, hatte Betroffene des Weihnachtsmarkt-Anschlags in seiner Praxis. „Die Leute leiden unter Alpträumen und Flashbacks, dabei sehen sie zum Beispiel immer wieder den Lkw auf sich zurasen.“Die rein seelischen Traumata bei körperlich unversehrt gebliebenen Ersthelfern könne man relativ gut behandeln, erklärt er. „Doch bei Menschen, die nach dem Anschlag im Rollstuhl sitzen oder täglich durch Schmerzen an das Geschehen erinnert werden, wird das sehr schwierig.“Dazu gebe es viel zu wenig Fachleute.
Aber auch bei der Finanzierung von Anschlusstherapien hapere es immer noch, kritisiert Astrid Passin. Um die Flut an Anträgen und Formularen zu bewältigen, bräuchte es eigentlich einen Stab von Anwälten. Den jahrelangen Kampf um Anerkennung
der posttraumatischen Belastungsstörungen, der ewige Schriftverkehr mit Krankenkassen, Rentenversicherung und Unfallkasse sei für Menschen, die psychisch und physisch belastet sind, kaum zu bewältigen. Deshalb fordert die Angehörigenund Opfer-Gruppe schon lange kostenlosen Rechts- und Sozialbeistand für Terroropfer.
Wie langsam und unbefriedigend die Mühlen der Bürokratie mahlen, hat auch Hartmut Hüsges erfahren. Trotzdem möchte er sich nicht beklagen. Er habe auch viel Hilfe erfahren „Vielleicht, weil ich selbst Beamter bin, kann ich mit der Bürokratie besser umgehen.“Hüsges arbeitete in leitender Funktion im Bundesfinanzministerium. Nach dem Unfall hat er ein Haus bei Köln in der Nähe seiner Familie gekauft und umbauen lassen. Die Unfallkasse bezahlte die 24-Stunden-Betreuung für seinen Mann. Trotzdem habe er Geld in „enormen Größenordnungen“in die Hand nehmen müssen.
Dabei geriet er selbst an seine Grenzen. Im Juli 2021 ließ er sich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. „Ich dachte immer nur, was kann ich tun, um Sascha ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen?“Von dem immer wieder kritisierten Staatsversagen will Hüsges nicht sprechen. „Ich hatte mit den alltäglichen Problemen genug zu tun. Der Wunsch nach Aufarbeitung ist da bei mir irgendwie zurückgetreten.“
Astrid Passin und andere Hinterbliebene sehen das anders. Sie sind enttäuscht von den Ergebnissen der Untersuchungsausschüsse, die Fehler der Ermittlungsbehörden aufdecken sollten. Dabei hätten Zeugen wichtiger Behörden immer wieder mit „Maulkörben“und „angezogener Handbremse“ausgesagt, berichtet Passin. So seien unter anderem Fragen zu engsten Kontaktpersonen des Attentäters und seine Einbindung in islamistische Netzwerke nicht beantwortet worden. Bis heute sei die vermutete Komplizenschaft, die Frage nach dem Auftraggeber sowie die mysteriöse Flucht des Terroristen nach Italien nicht hinreichend geklärt. „Das wäre aber für uns von enormer Bedeutung, um mit dem Geschehen abzuschließen“, sagt Passin. Wichtig ist ihr auch, dass in der Berichterstattung nicht immer wieder der Täter im Vordergrund steht, sondern die Opfer. „Wenn man das Bild des Terroristen oder den Lkw in den Medien sieht, ist das jedes Mal wie ein neuer Schlag ins Gesicht.“