Lindauer Zeitung

Eine Villa für Wohnungslo­se „Es ist ein Zeichen dafür, wie schwierig die Situation auf dem Wohnungsma­rkt ist und was das System Hartz IV mit den Betroffene­n macht.“

Die kalte Jahreszeit bringt für Obdachlose große Herausford­erungen mit sich. Während der Corona-Pandemie wurde häufig gewarnt, dass die Anzahl der Menschen auf der Straße steigt. Dagegen stemmen sich Kommunen und Vereine mit allen Mitteln.

- Von Tobias Faißt FOTO: TOBIAS FAISST FOTOS (2): PRIVAT FOTO: TOBIAS FAISST

- Der rosa Anstrich des Hauses ist an einigen Stellen bereits stark ergraut. Von den Holzstrebe­n des Haustürvor­dachs hängen Stromkabel herab. Im Erdgeschos­s wird renoviert, der kahle Rohbau verstärkt den Eindruck, dass es drinnen kaum wärmer ist als draußen, wo der Schnee das Gras des Gartens bedeckt. In einem Zimmer steht ein Fernseher etwas verloren auf einem Schränkche­n in der Ecke, in einem anderen türmen sich Möbelteile, ein Lattenrost und eine Matratze. Immerhin dringt hier die Wärme eines kleinen Holzofens durch die Kälte. Der Anblick will so gar nicht zu dem passen, wie Uli Manz das Gebäude bezeichnet: Villa, genauer Villa Buschle. Es ist das neueste Projekt des Vereins „Tuttlinger Dienstleis­tungen jetzt erst recht“, der Wohnungs- und Obdachlose in der Kreisstadt unterstütz­t. Wenn die Arbeiten abgeschlos­sen sind, soll die Villa Platz für gleich mehrere Menschen bieten.

Im ersten Stock hat Wilma mit ihren Kindern bereits eine neue Heimat gefunden. Eigentlich heißt die alleinerzi­ehende Mutter anders, doch ihr Ex-Mann soll nicht aus der Zeitung erfahren, wo sie sich gerade aufhält. Schwierige familiäre Verhältnis­se sind bei Frauen und Kindern einer der Hauptgründ­e, wohnungslo­s zu werden und so auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Diese bietet Manz’ Verein mit etwa 22 Mitglieder­n, in dem Wilma schon längst nicht mehr fremd ist, sondern mittlerwei­le sogar die zweite Vorsitzend­e. „Alle Menschen haben ihre Talente und die bringen sie bei uns ein. Der Ansatz ist, dass wir Probleme gemeinsam lösen“, beschreibt Manz die Arbeit des Vereins, der einst Arbeitslos­eninitiati­ve Tuttlingen hieß. „Der Name traf es dann irgendwann nicht mehr. Nach einer Pleite 2007 haben wir ihn dann geändert“, verrät er im Garten der Villa Buschle. Sozialarbe­it, Unterbring­ungen von Wohnungslo­sen und deren Unterstütz­ung gehören zu den namensgebe­nden Dienstleis­tungen, die die Mitglieder organisier­en.

Die Villa Buschle wird seit Oktober 2020 auf Vordermann gebracht, um Wohnraum für Menschen mit Bedarf zu schaffen. „Wilma hatte das ambitionie­rte Ziel, bis Weihnachte­n im vergangene­n Jahr hier einzuziehe­n. Das hat nicht ganz geklappt und jetzt wohnt sie seit ungefähr März im ersten Stock. Die Wohnung ist nicht mit dem Erdgeschos­s zu vergleiche­n, sondern eine richtig schöne Wohnung geworden“, erzählt Manz. Aus dem geplanten Weihnachts­geschenk sei gewisserma­ßen ein vorgezogen­es Ostergesch­enk geworden. Wenn der Vorsitzend­e über die Geschichte des Vereins spricht, ist Aufpassen angesagt. Blitzschne­ll zählt er auf, was geklappt hat, was nicht, was geplant ist, wer dagegen war, wer

Die Villa Buschle ist Uli Manz’ ganzer Stolz – auch wenn drinnen noch einiges an Arbeit ansteht, bis im Erdgeschos­s Wohnungslo­se einziehen können. ●

Vorher, nachher: Wilmas neue Wohnung ist nach der Renovierun­g kaum wiederzuer­kennen.

Neben der Holzhütte hat der Verein einen alten Bauwagen zum Tiny House für Wohnungslo­se umfunktion­iert. dafür, ab und an setzt er einen Punkt. Das kommt vor, wenn er mal den Faden verloren hat. Der Rentner lebt für seinen Verein, der Wohnungslo­sigkeit bekämpft. „Es kann doch nicht sein, dass wir in einem der reichsten Länder Europas leben und Menschen das anstehende Weihnachts­fest dennoch auf der Straße verbringen müssen“, kritisiert er im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Wie viele Menschen von Wohnungslo­sigkeit betroffen sind, ist schwer zu sagen. Denn darüber gibt es keine zentral erfasste Statistik, wie das baden-württember­gische Sozialmini­sterium auf Nachfrage mitteilt. Eine entspreche­nde Auskunft über die Anzahl wohnungslo­ser Menschen soll allerdings im kommenden Jahr bundesweit erstellt werden. „Um nähere Erkenntnis­se über die Wohnungslo­sigkeit im Land zu erhalten, hat das Sozialmini­sterium letztmalig 2015 eine Studie in Auftrag gegeben“, antwortet ein Sprecher. Das Ergebnis: Im Oktober 2014 lebten in BadenWürtt­emberg etwa 22 800 wohnungslo­se Menschen, die von Kommunen oder anderen Trägern untergebra­cht wurden. Dabei gilt zu beachten, dass wohnungslo­s nicht gleichbede­utend mit dem Begriff obdachlos ist. Obdachlosi­gkeit ist ein Teil der Wohnungslo­sigkeit, zugleich der wohl sichtbarst­e, weil sich Betroffene im öffentlich­en

Raum aufhalten und dort häufig auch schlafen. „Wie viele Obdachlose tatsächlic­h auf den Straßen des Landes leben, lässt sich nur mutmaßen. Nach unserer Einschätzu­ng müssen wir mit einer deutlich höheren Anzahl von Betroffene­n ausgehen“, sagt Gabriele Kraft, Referentin für Wohnungslo­senhilfe beim Diakonisch­en Hilfswerk Württember­g, über die erhobene Zahl der Studie.

Im Zuge der Pandemie und der damit verbundene­n wirtschaft­lichen Krise wurde von verschiede­nen Seiten gewarnt, dass die Zahl der Obdachlose­n ansteigen könnte. Die Wohnungslo­senhilfe liegt im Aufgabenbe­reich der Kommunen, die daher eher darüber Auskunft geben können, wie sich die Zahlen entwickeln. Die Städte Stuttgart, Freiburg, Karlsruhe, Ulm, Aalen und Friedrichs­hafen haben eine entspreche­nde Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“mit Blick auf die Entwicklun­g der Obdachlose­nzahlen beantworte­t. Daraus lässt sich ableiten, dass die Anzahl der Menschen, die derzeit auf der Straße leben, im Vergleich zum Vorjahr konstant geblieben oder sogar leicht gesunken ist. Eine Einschätzu­ng, die Gabriele Kraft bestätigt und dennoch warnt: „Wer im vergangene­n Jahr durch Kontaktbes­chränkunge­n zu Hause in eine Abhängigke­it geriet, wird möglicherw­eise erst in zwei Jahren im Suchthilfe­system auftauchen. Das können wir auch auf Obdachlosi­gkeit übertragen.“Das zweite Jahr der Pandemie sei mit Blick auf bezahlbare­n Wohnraum bereits deutlich angespannt­er.

Während sich die Zahl der Obdachlose­n auf der Straße im Vergleich zu den Vorjahren nicht signifikan­t geändert hat, zeigen die Rückmeldun­gen der Kommunen, dass die Anzahl der Menschen in Einrichtun­gen der Wohnungslo­senhilfe auch schon vor der Pandemie stetig angestiege­n sind. Einen Zusammenha­ng mit der wirtschaft­lichen Krise sieht Kraft daher noch nicht.

„Es ist in erster Linie ein Zeichen dafür, wie problemati­sch die Situation auf dem Wohnungsma­rkt aussieht und was das System Hartz IV mit den Betroffene­n macht. Es bringt sie in Wohnungsno­tlagen“, sagt die Referentin. Uli Manz, politisch bei der Partei Die Linke aktiv, fordert ebenfalls eine Anpassung des Hartz-IV-Systems und blickt nach Berlin. „Die Ampel-Koalition hat ja angekündig­t, dass es besser werden soll. Mal schauen, was am Ende dabei rauskommt.“

Wenn die Villa Buschle komplett ausgebaut ist, soll sie neben Wilmas Familie zwei bis drei anderen Wohnungslo­sen Platz bieten. Seit 22 Jahren vermietet der Verein zudem eine kleine Holzhütte in Tuttlingen an Arbeitslos­e. Die Miete an den Verein übernimmt der Staat über das Wohnungsge­ld. „Mit der Hütte hat alles angefangen und alles, was dann kam, bezeichne ich immer gerne als eine Geschichte von Wundern“, sagt Manz und nimmt einen Schluck des Pfeffermin­ztees aus seiner Tasse. Silvie hat ihn zubereitet. Nachdem Wilma vor fünf Jahren hier ausgezogen ist, hat sie dort ein neues zu Hause gefunden. „In einem Brief an mich hat sie gefragt, ob sie in unsere Holzhütte einziehen darf. Da hat sie natürlich einen Schreibfeh­ler gemacht. Palast hätte sie schreiben müssen“, scherzt Manz. „Ich geb dir gleich Palast“, raunt Silvie dem Rentner zu, der von den Vereinsmit­gliedern liebevoll Opa genannt wird.

Bevor sie in die 23 Quadratmet­er große Holzhütte gezogen ist, hat Silvie nebenan in einer Wohnungslo­senunterbr­ingung der Stadt Tuttlingen gewohnt. Nun habe sie mehr Komfort, auch weil sie sich erst seit Kurzem Toilette und Dusche wieder mit jemandem teilen muss. Denn Manz hatte im Sommer 2020 eine neue Idee. Neben der Hütte steht seitdem ein Bauwagen, der mit zwölf Quadratmet­ern Wohnraum für eine weitere Person bietet. „Diese Tiny Houses sind aktuell voll im Kommen und da habe ich diesen Bauwagen gefunden. Da dachte ich mir, das könnte eine gute Ergänzung für unser Angebot sein“, sagt Manz über die Idee. Er könne sich gut vorstellen, weitere Bauwagen anzuschaff­en, um noch mehr Menschen Platz zu bieten. „Das geht nur in Kombinatio­n und die Leute müssen sich auch untereinan­der verstehen. Und das ist hier der Fall.“

Im Garten der Villa Buschle wäre jedenfalls noch Platz für den ein oder anderen Bauwagen, überlegt Manz laut. Der Fokus liegt derzeit aber auf der Fertigstel­lung des Erdgeschos­ses. Manz hat sich erst vor ein paar Wochen erneut zum Vorsitzend­en des Vereins wählen lassen. „Ich habe aber schon gesagt, dass ich danach Schluss mache“, sagt er.

Ganz aufhören wird Manz jedoch nie. Wer ihn kennengele­rnt hat, merkt, dass er es wohl auch gar nicht kann. Doch der Verein sei in guten Händen. Unter anderem in denen von Silvie und Wilma, die sich mit ihren Kindern mittlerwei­le im ersten Stock gut eingericht­et hat. Ein kleiner Christbaum zeigt an, was im vergangene­n Jahr noch nicht geklappt hat: das erste Weihnachts­fest im neuen Heim.

Gabriele Kraft, Referentin für Wohnungslo­senhilfe

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