Eine Villa für Wohnungslose „Es ist ein Zeichen dafür, wie schwierig die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist und was das System Hartz IV mit den Betroffenen macht.“
Die kalte Jahreszeit bringt für Obdachlose große Herausforderungen mit sich. Während der Corona-Pandemie wurde häufig gewarnt, dass die Anzahl der Menschen auf der Straße steigt. Dagegen stemmen sich Kommunen und Vereine mit allen Mitteln.
- Der rosa Anstrich des Hauses ist an einigen Stellen bereits stark ergraut. Von den Holzstreben des Haustürvordachs hängen Stromkabel herab. Im Erdgeschoss wird renoviert, der kahle Rohbau verstärkt den Eindruck, dass es drinnen kaum wärmer ist als draußen, wo der Schnee das Gras des Gartens bedeckt. In einem Zimmer steht ein Fernseher etwas verloren auf einem Schränkchen in der Ecke, in einem anderen türmen sich Möbelteile, ein Lattenrost und eine Matratze. Immerhin dringt hier die Wärme eines kleinen Holzofens durch die Kälte. Der Anblick will so gar nicht zu dem passen, wie Uli Manz das Gebäude bezeichnet: Villa, genauer Villa Buschle. Es ist das neueste Projekt des Vereins „Tuttlinger Dienstleistungen jetzt erst recht“, der Wohnungs- und Obdachlose in der Kreisstadt unterstützt. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, soll die Villa Platz für gleich mehrere Menschen bieten.
Im ersten Stock hat Wilma mit ihren Kindern bereits eine neue Heimat gefunden. Eigentlich heißt die alleinerziehende Mutter anders, doch ihr Ex-Mann soll nicht aus der Zeitung erfahren, wo sie sich gerade aufhält. Schwierige familiäre Verhältnisse sind bei Frauen und Kindern einer der Hauptgründe, wohnungslos zu werden und so auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Diese bietet Manz’ Verein mit etwa 22 Mitgliedern, in dem Wilma schon längst nicht mehr fremd ist, sondern mittlerweile sogar die zweite Vorsitzende. „Alle Menschen haben ihre Talente und die bringen sie bei uns ein. Der Ansatz ist, dass wir Probleme gemeinsam lösen“, beschreibt Manz die Arbeit des Vereins, der einst Arbeitsloseninitiative Tuttlingen hieß. „Der Name traf es dann irgendwann nicht mehr. Nach einer Pleite 2007 haben wir ihn dann geändert“, verrät er im Garten der Villa Buschle. Sozialarbeit, Unterbringungen von Wohnungslosen und deren Unterstützung gehören zu den namensgebenden Dienstleistungen, die die Mitglieder organisieren.
Die Villa Buschle wird seit Oktober 2020 auf Vordermann gebracht, um Wohnraum für Menschen mit Bedarf zu schaffen. „Wilma hatte das ambitionierte Ziel, bis Weihnachten im vergangenen Jahr hier einzuziehen. Das hat nicht ganz geklappt und jetzt wohnt sie seit ungefähr März im ersten Stock. Die Wohnung ist nicht mit dem Erdgeschoss zu vergleichen, sondern eine richtig schöne Wohnung geworden“, erzählt Manz. Aus dem geplanten Weihnachtsgeschenk sei gewissermaßen ein vorgezogenes Ostergeschenk geworden. Wenn der Vorsitzende über die Geschichte des Vereins spricht, ist Aufpassen angesagt. Blitzschnell zählt er auf, was geklappt hat, was nicht, was geplant ist, wer dagegen war, wer
Die Villa Buschle ist Uli Manz’ ganzer Stolz – auch wenn drinnen noch einiges an Arbeit ansteht, bis im Erdgeschoss Wohnungslose einziehen können. ●
Vorher, nachher: Wilmas neue Wohnung ist nach der Renovierung kaum wiederzuerkennen.
Neben der Holzhütte hat der Verein einen alten Bauwagen zum Tiny House für Wohnungslose umfunktioniert. dafür, ab und an setzt er einen Punkt. Das kommt vor, wenn er mal den Faden verloren hat. Der Rentner lebt für seinen Verein, der Wohnungslosigkeit bekämpft. „Es kann doch nicht sein, dass wir in einem der reichsten Länder Europas leben und Menschen das anstehende Weihnachtsfest dennoch auf der Straße verbringen müssen“, kritisiert er im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Wie viele Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen sind, ist schwer zu sagen. Denn darüber gibt es keine zentral erfasste Statistik, wie das baden-württembergische Sozialministerium auf Nachfrage mitteilt. Eine entsprechende Auskunft über die Anzahl wohnungsloser Menschen soll allerdings im kommenden Jahr bundesweit erstellt werden. „Um nähere Erkenntnisse über die Wohnungslosigkeit im Land zu erhalten, hat das Sozialministerium letztmalig 2015 eine Studie in Auftrag gegeben“, antwortet ein Sprecher. Das Ergebnis: Im Oktober 2014 lebten in BadenWürttemberg etwa 22 800 wohnungslose Menschen, die von Kommunen oder anderen Trägern untergebracht wurden. Dabei gilt zu beachten, dass wohnungslos nicht gleichbedeutend mit dem Begriff obdachlos ist. Obdachlosigkeit ist ein Teil der Wohnungslosigkeit, zugleich der wohl sichtbarste, weil sich Betroffene im öffentlichen
Raum aufhalten und dort häufig auch schlafen. „Wie viele Obdachlose tatsächlich auf den Straßen des Landes leben, lässt sich nur mutmaßen. Nach unserer Einschätzung müssen wir mit einer deutlich höheren Anzahl von Betroffenen ausgehen“, sagt Gabriele Kraft, Referentin für Wohnungslosenhilfe beim Diakonischen Hilfswerk Württemberg, über die erhobene Zahl der Studie.
Im Zuge der Pandemie und der damit verbundenen wirtschaftlichen Krise wurde von verschiedenen Seiten gewarnt, dass die Zahl der Obdachlosen ansteigen könnte. Die Wohnungslosenhilfe liegt im Aufgabenbereich der Kommunen, die daher eher darüber Auskunft geben können, wie sich die Zahlen entwickeln. Die Städte Stuttgart, Freiburg, Karlsruhe, Ulm, Aalen und Friedrichshafen haben eine entsprechende Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit Blick auf die Entwicklung der Obdachlosenzahlen beantwortet. Daraus lässt sich ableiten, dass die Anzahl der Menschen, die derzeit auf der Straße leben, im Vergleich zum Vorjahr konstant geblieben oder sogar leicht gesunken ist. Eine Einschätzung, die Gabriele Kraft bestätigt und dennoch warnt: „Wer im vergangenen Jahr durch Kontaktbeschränkungen zu Hause in eine Abhängigkeit geriet, wird möglicherweise erst in zwei Jahren im Suchthilfesystem auftauchen. Das können wir auch auf Obdachlosigkeit übertragen.“Das zweite Jahr der Pandemie sei mit Blick auf bezahlbaren Wohnraum bereits deutlich angespannter.
Während sich die Zahl der Obdachlosen auf der Straße im Vergleich zu den Vorjahren nicht signifikant geändert hat, zeigen die Rückmeldungen der Kommunen, dass die Anzahl der Menschen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe auch schon vor der Pandemie stetig angestiegen sind. Einen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Krise sieht Kraft daher noch nicht.
„Es ist in erster Linie ein Zeichen dafür, wie problematisch die Situation auf dem Wohnungsmarkt aussieht und was das System Hartz IV mit den Betroffenen macht. Es bringt sie in Wohnungsnotlagen“, sagt die Referentin. Uli Manz, politisch bei der Partei Die Linke aktiv, fordert ebenfalls eine Anpassung des Hartz-IV-Systems und blickt nach Berlin. „Die Ampel-Koalition hat ja angekündigt, dass es besser werden soll. Mal schauen, was am Ende dabei rauskommt.“
Wenn die Villa Buschle komplett ausgebaut ist, soll sie neben Wilmas Familie zwei bis drei anderen Wohnungslosen Platz bieten. Seit 22 Jahren vermietet der Verein zudem eine kleine Holzhütte in Tuttlingen an Arbeitslose. Die Miete an den Verein übernimmt der Staat über das Wohnungsgeld. „Mit der Hütte hat alles angefangen und alles, was dann kam, bezeichne ich immer gerne als eine Geschichte von Wundern“, sagt Manz und nimmt einen Schluck des Pfefferminztees aus seiner Tasse. Silvie hat ihn zubereitet. Nachdem Wilma vor fünf Jahren hier ausgezogen ist, hat sie dort ein neues zu Hause gefunden. „In einem Brief an mich hat sie gefragt, ob sie in unsere Holzhütte einziehen darf. Da hat sie natürlich einen Schreibfehler gemacht. Palast hätte sie schreiben müssen“, scherzt Manz. „Ich geb dir gleich Palast“, raunt Silvie dem Rentner zu, der von den Vereinsmitgliedern liebevoll Opa genannt wird.
Bevor sie in die 23 Quadratmeter große Holzhütte gezogen ist, hat Silvie nebenan in einer Wohnungslosenunterbringung der Stadt Tuttlingen gewohnt. Nun habe sie mehr Komfort, auch weil sie sich erst seit Kurzem Toilette und Dusche wieder mit jemandem teilen muss. Denn Manz hatte im Sommer 2020 eine neue Idee. Neben der Hütte steht seitdem ein Bauwagen, der mit zwölf Quadratmetern Wohnraum für eine weitere Person bietet. „Diese Tiny Houses sind aktuell voll im Kommen und da habe ich diesen Bauwagen gefunden. Da dachte ich mir, das könnte eine gute Ergänzung für unser Angebot sein“, sagt Manz über die Idee. Er könne sich gut vorstellen, weitere Bauwagen anzuschaffen, um noch mehr Menschen Platz zu bieten. „Das geht nur in Kombination und die Leute müssen sich auch untereinander verstehen. Und das ist hier der Fall.“
Im Garten der Villa Buschle wäre jedenfalls noch Platz für den ein oder anderen Bauwagen, überlegt Manz laut. Der Fokus liegt derzeit aber auf der Fertigstellung des Erdgeschosses. Manz hat sich erst vor ein paar Wochen erneut zum Vorsitzenden des Vereins wählen lassen. „Ich habe aber schon gesagt, dass ich danach Schluss mache“, sagt er.
Ganz aufhören wird Manz jedoch nie. Wer ihn kennengelernt hat, merkt, dass er es wohl auch gar nicht kann. Doch der Verein sei in guten Händen. Unter anderem in denen von Silvie und Wilma, die sich mit ihren Kindern mittlerweile im ersten Stock gut eingerichtet hat. Ein kleiner Christbaum zeigt an, was im vergangenen Jahr noch nicht geklappt hat: das erste Weihnachtsfest im neuen Heim.
Gabriele Kraft, Referentin für Wohnungslosenhilfe