Im „Haus des Lächelns“können Kinder lernen, lachen, leben
Für behinderte junge Jesiden entsteht im Nordirak ein Modellprojekt. Es bedeutet auch für Eltern Entlastung.
Anwar ist zwölf Jahre alt und sehbehindert. Hezno hat seinen 13. Geburtstag gefeiert, er leidet an einer spastischen Lähmung. Die ebenfalls zwölfjährige Rimas kann nicht gut hören. Mit ihren 14 Jahren hat Sozwin Schwierigkeiten beim Laufen. Und der siebenjährige Rgzan ist Autist: fünf von 21 Kindern mit verschiedenen Behinderungen, die seit einigen Wochen im „Haus des Lächelns“in der nordirakischen Kleinstadt Sheikhan lachen, spielen, lernen und auf- wie annehmende Gemeinschaft erfahren. Die Familien der Kinder leben in den großen Camps in der Nähe der Stadt, in denen seit über sieben Jahren vor allem jesidische Flüchtlinge untergebracht sind: „Für Kinder mit Handicaps aber konnten wir bisher überhaupt keine Hilfe leisten“, sagt Shero Smo, der das Camp Mam Rashan leitet, „das ,Haus des Lächelns’ ist die allererste Tageseinrichtung für diese Kinder, die bisher vergessen waren und am Rand der Gesellschaft leben mussten.“
Das Haus am Stadtrand von Sheikhan verfügt über Klassen-, Spiel- und Ruheräume, einen großen Speisesaal und eine Küche. Die Einrichtung: hell, freundlich, sauber. Die Grundausstattung im „Haus des Lächelns“ist aus Spendengeldern der Aktion „Helfen bringt Freude“finanziert worden, für Spielzeug, Schulmaterial, die Betreuerinnen, Verpflegung und die laufenden Kosten sind Spenden nötig. „Hier erleben die Kinder den kompletten Kontrast zum Camp mit der dortigen Enge, dem Staub, der Kälte, wo sie im Zelt oder im Container leben“, sagt Thomas Shairzid von der Caritas-Flüchtlingshilfe Essen, der langjährigen Partnerorganisation von „Helfen bringt Freude“. Shairzid, der selbst aus Kurdistan stammt und das Projekt initiiert hat, ergänzt: „Wir wollen diesen Kindern eine echte Chance geben. Wir wollen, dass sie lächeln können.“Gleichzeitig entstehen neue Perspektiven: Drei Jesidinnen, die selbst jahrelang in Geiselhaft der Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS) waren und erst kürzlich befreit wurden, arbeiten mit den Kindern. Partner in diesem Projekt ist die kurdische Hilfsorganisation Barzani Charity Foundation, die unter anderem in den Camps humanitäre Hilfe leistet.
An diesem Vormittag im „Haus des Lächelns“haben die Kinder ein buntes Programm: „Die Kinder können sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren, daher wechseln wir recht schnell zwischen Lern- und Spielphasen.“Eine der drei Jesidinnen, Khalia Haji, erzählt, während sie mit Anwar und Hezno aus Bauklötzen einen Turm baut, dass ihren Schützlingen fast jede Erfahrung in der Gemeinschaft mit anderen Kindern fehlt. „Die Schulen in den Camps haben unsere Kinder nicht aufnehmen können, da sie sich nicht in der Lage sehen, so schwer behinderte Schüler zu unterrichten“, berichtet Campleiter Shero Smo und weist darauf hin, dass der Inklusionsgedanke westlich geprägter Pädagogik unter den prekären Bedingungen der Flüchtlingsarbeit derzeit nicht umzusetzen sei. Im „Haus des Lächelns“soll es anders sein: „Hier machen die Kinder die Erfahrung, dass es schön ist, mit anderen Kindern zu spielen, hier werden sie nicht ausgegrenzt.“Noch während Smo spricht, lässt Khalia Haji Musik laufen: Eine kleine Tanzeinlage lockert den Tag auf. Sozwin und Rgzan genießen die Melodien. Und lächeln.
Die palästinensische Ärztin Jumana Odeh, die 2008 für ihre Bemühungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Kinder mit dem „World of Children Health Award“ausgezeichnet wurde, erklärt den Umgang mit Handicaps im Nahen Osten: „Behinderungen werden in unseren arabischen Gesellschaften nur mit äußerstem Misstrauen wahrgenommen und als etwas vollkommen Negatives betrachtet.“Die Konsequenz: Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen leiden in den meisten arabischen Staaten unter massiver Ausgrenzung und Missachtung seitens der staatlichen Versorgung und der öffentlichen Wahrnehmung. Odeh wirft einen Blick auf die junge Generation: „Kinder mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen werden oft mitleidig oder abwertend behandelt, auch und ganz besonders von ihren Eltern, denen die Behinderung vielfach als eine Art göttliche Strafe gilt. Sie beginnen dann, nach dem Grund für diese Bestrafung zu forschen.“
Hinzu kommt die Belastung durch die Pandemie. In Krisenregionen
sei mit schwerwiegenden langfristigen psychosozialen Problemen zu rechnen, sagt Jan Ilhan Kizilhan, Traumatologe und Leiter des Instituts für transkulturelle Gesundheitsforschung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Bereits jetzt habe sich die Situation vielerorts verschlechtert, wie unter anderem eine Untersuchung in den Flüchtlingscamps in der nordirakischen Provinz Dohuk zeige. Dort hätten Quarantänemaßnahmen und Isolation dazu geführt, dass Kinder verstärkt psychologische Symptome entwickeln. Seit Beginn der Pandemie gebe es bei psychologischen Erkrankungen einen deutlichen Anstieg um 20
Prozent. Insgesamt würden mehr als die Hälfte der Menschen unter posttraumatischen Belastungsstörungen wie Flashbacks, Angststörungen oder Depressionen leiden.
Vor diesem Hintergrund betont auch Thomas Shairzid von der Caritas-Flüchtlingshilfe Essen: „Die psychische Entlastung der Eltern und der ganzen Familie ist ein wichtiger Aspekt des Projektes, da bisher entweder der Vater, die Mutter oder Geschwister zu Hause bleiben mussten.“Dass jetzt die Schulbusse, ebenfalls aus Spendengeldern der Aktion „Helfen bringt Freude“finanziert, morgens erst die höheren Schulen in der Region ansteuern und dann Kinder mit Handicaps wie auch Betreuerinnen zum „Haus des Lächelns“bringen, bezeichnet Shairzid als „Win-win-Situation“. Abends bringen die Busse die Kinder wieder in die Camps.
Im „Haus des Lächelns“stellt Khalia Haji derweil die Musik ab, nun geht es im Klassenraum weiter. Das kurdische Alphabet steht auf dem Programm. Rimas, das Mädchen mit der Hörbehinderung, hat offensichtlich Freude daran, lernen zu können. Und lächelt.
Während die Kinder lernen, bereitet in der Küche Asisa Sabr das Mittagessen vor. Heute gibt es Kartoffeln und Gemüse. Für die 26jährige Jesidin bedeutet die Arbeit im „Haus des Lächelns“viel. Nach dem Überfall des IS auf ihre Heimatregion im Shingal-Gebirge im Jahr 2014 wurde die damals 19Jährige verschleppt: „Fünfmal wurde ich in Syrien weiterverkauft.“Unter Tränen spricht sie davon, missbraucht und vergewaltigt worden zu sein. Drei Kinder, ein Mädchen und zwei Buben, deren Väter IS-Terroristen sind, musste sie bei ihrer eigenen Befreiung in Syrien zurücklassen. „Ich würde gerne Kontakt zu ihnen haben, aber die Familien, in denen meine Kinder aufwachsen, verbieten das“, sagt Asisa Sabr. Sie kann nicht lächeln.
In den kommenden Monaten ist im „Haus des Lächelns“viel zu tun. Die Jesidinnen werden, auch mit Unterstützung der Barzani Charity Foundation, das pädagogische Programm erarbeiten. Dann wird es um die Gartengestaltung gehen, Spielzeug und Schulmaterial werden benötigt. Und die Frage steht im Raum, ob weitere Kinder aufgenommen werden können: Das Obergeschoss steht noch leer, könnte aber weiteren Platz bieten. „Dafür brauchen wir eure Spenden“, bitten Khalia Haji und Asisa Sabr, „das wäre ein tolles Weihnachtsgeschenk – und wir könnten alle lächeln.“