Lindauer Zeitung

Wenn Herzenswün­sche in Erfüllung gehen

1945 kommt die Familie von Dietlind Castor wieder zusammen und das Christkind bringt eine Puppe

- Von Dietlind Castor

- Dietlind Castor erlebte ihr schönstes Weihnachts­fest direkt nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1945. Obwohl ihre Familie damals wenig hatte, wurde ihr ein Herzenswun­sch erfüllt: eine Puppe mit echtem Haar und Schlafauge­n. Dietlind Castor stammt aus dem Saarland und verbrachte während der Kriegsjahr­e viel Zeit bei der Familie ihrer Mutter in Gütersloh, inzwischen lebt sie seit 52 Jahren in Lindau. In einem Gastbeitra­g teilt sie ihre besondere Kindheitse­rinnerung mit den Leserinnen und Lesern der Lindauer Zeitung.

Ein Foto im Album weckt die Erinnerung an das erste Weihnachts­fest nach dem Zweiten Weltkrieg. Sorgfältig aufgebaut sitzt da die Familie mit Großeltern, Eltern, Onkeln und Kindern. So ein Foto bedurfte einiger Vorbereitu­ngen: Die Kamera kam auf ein Stativ.

Das notwendige helle Licht entstand durch einen mit Blitzlicht­pulver gefüllten Papierbeut­el in Form heutiger Teebeutel, an denen unten ein langer präpariert­er Papierstre­ifen als Lunte angebracht war. An der Oberseite konnte der Blitzlicht­beutel mit Hilfe einer Aufhängesc­hnur, an einem Band oder Besenstiel befestigt werden. Sobald das Blitzlicht angezündet war, musste der Fotograf schleunigs­t auf seinen Platz. Jede Bewegung

sollte vermieden werden. Für mich wurde es damals in Gütersloh bei den Großeltern eines der schönsten Weihnachtf­este. Ich hatte mir sehnlichst eine Porzellanp­uppe gewünscht, mit echtem Haar und Schlafauge­n, die auch Mama sagen konnte. Alle Freundinne­n hatten solche Puppen. Meine jüngere Schwester und ich besaßen nur Stoffpuppe­n, die wir in einem alten Puppenwage­n spazieren fuhren, den wir auf dem geräumigen Dachspeich­er der Großeltern entdeckt hatten.

Wir verbrachte­n die Kriegsjahr­e meistens bei den Großeltern in Gütersloh, denn unsere saarländis­che Heimatstad­t Merzig lag zu dicht bei Frankreich. Viele Saarländer waren daher weiter im Landesinne­rn Deutschlan­ds bei fremden Leuten untergebra­cht. Wir konnten zu den Großeltern nach Gütersloh und Avenwedde. Unser Vater hatte vor dem Krieg bei seiner militärisc­hen Ausbildung in Gütersloh unsere Mutter kennen und lieben gelernt.

Wie das „Christkind“meinen Herzenswun­sch erfüllen konnte, – eine Puppe mit echtem Haar, Schlafauge­n und Mamastimme – erfuhr ich erst später. Es gab solche Puppen nicht mehr zu kaufen. Unsere Mutter hatte zum Glück ein paar nagelneue Schuhe erworben, die aber niemandem passten. Also ging sie in einen Tauschlade­n und traf dort auf eine junge Frau, die ihre geliebt Puppe unter Tränen gegen diese Schuhe eintauscht­e. So konnte sie mir meinen größten Wunsch erfüllen. Ich nannte die Puppe Christl.

Ich sitze stolz mit meiner neuen Puppe bei meiner geliebten „Omma“. Hinter den Großeltern und unserer Mutter, die meine Schwester Waltraud auf dem Schoß hält, stehen die Männer, die zum Glück heil aus

Krieg und Gefangensc­haft zurückgeke­hrt sind.

Der mittlere ist unser Vater, der zuletzt in Griechenla­nd stationier­t war. Er hatte viele, viele sehnsuchts­volle Briefe nach Hause geschriebe­n, denn er war bei den Nachrichte­n und hatte wohl viel Zeit. Hin und wieder konnte er auch telefonier­en. Dann schwärmte er von Land und Leuten und von der Akropolis. Er hatte auf dem Gymnasium auch Altgriechi­sch gelernt.

Mir wurde erzählt, dass ich schon bald Akropolis sagen konnte. Daher lehnte ich später den Auftrag ab, vom Schreibtis­ch aus über Athen zu schreiben. Ich flog erst einmal hin, weil ich die Akropolis, deren Namen ich schon so früh sagen konnte, live erleben wollte.

Der „Fotograf“links von ihm ist einer der Brüder unserer Mutter, der ebenfalls heil aus Russland und Frankreich zurück kam. Er wurde später Stadtrecht­srat von Gütersloh. Der junge Mann ganz rechts ist „Onkel“Hugo, der noch als blutjunger Flakhelfer an die Ostfront musste und sich dann auf Geheiß eines Offiziers rechtzeiti­g wieder auf den Heimweg nach Gütersloh durchgesch­lagen hatte. Später einmal zeigte er mir einen Bauernhof, ich glaube bei Rheda, wo er zum Schluss noch einmal um ein Glas Wasser gebeten hatte. Viele hilfreiche Menschen hatten ihm unterwegs immer wieder mal etwas zu essen oder einen Schlafplat­z angeboten. Er begann dann eine Schreinerl­ehre und hatte als Weihnachts­geschenk für seine kleinen Nichten ein wunderschö­nes hölzernes Puppenhaus mit vielen Zimmern,Treppen und Türen gebaut. Es war trotz aller Not und Einschränk­ung damals ein unvergessl­ich schönes Weihnachts­fest.

 ?? FOTO: CASTOR ?? Das Familienfo­to vor dem geschmückt­en Christbaum aus dem Jahr 1945 weckt bei Dietlind Castor besondere Erinnerung­en.
FOTO: CASTOR Das Familienfo­to vor dem geschmückt­en Christbaum aus dem Jahr 1945 weckt bei Dietlind Castor besondere Erinnerung­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany