Ein Engel wird geboren
Holz zum Leben zu erwecken, hat in Oberammergau eine lange Tradition – Ein Schnitzkurs macht auch Laien Lust auf mehr
Feine Schneeflocken tanzen vom Himmel, überzuckern die Ammergauer Alpen und ihre Dörfer. Über dem Landstrich, in den alle zehn Jahre von Mai bis Oktober bis zu 500 000 Menschen zu den weltbekannten Oberammergauer Passionsspielen reisen, liegt eine besondere Stille. Ein alter Mann stapft an jenem Morgen durch den Schnee, eine Mutter zieht ihr Kind auf einem Schlitten durch die engen Gassen, vorbei an den alten Häusern mit der für die Gegend so typischen Lüftlmalereien, vorbei am hell erleuchteten Christbaum. Weihnachten naht, ein zweitägiger Krippenschnitzkurs bei Holzbildhauerin Rebecca Nunn steht an. Auch wenn frau schon viel mit Holz gearbeitet hat, ist die Schnitzanfängerin von Demut erfüllt, denn klar ist: Dieses Kunsthandwerk erfordert besondere Fertigkeiten – handgeschnitzte Madonnen oder fein geschnitzte Krippenbilder in den Werkstätten und Läden der Ammergauer Alpen zeugen davon.
Im Vorfeld des Kurses stellen die Organisatoren klar, dass keine komplette Krippe entstehen kann. Zur Vorbereitung bitten sie um eine Vorlage für die Wunschfigur. Bald steht fest: Es soll weder eine Maria noch ein Josef noch ein Christkind sein. Denn sollte es sich erweisen, dass frau keine Begabung fürs Schnitzen hat, würde nur einer von ihnen an Weihnachten ein einsames Dasein fristen, was dann doch kein Weihnachten wäre. Also steht auf dem Wunschzettel ein nicht an die Jahreszeit gebundener glücklicher Engel, dessen lockiges Haar auf dem Kopf zu einem Dutt zusammengesteckt ist.
Ein Engel? Da leuchten die Augen von Rebecca Nunn, einer zierlichen Frau mit feingliedrigen Händen: Auch sie liebt Engel. Ihre Werkstatt hat die Holzbildhauerin in Bad Kohlgrub unweit von Oberammergau im früheren Schwimmbad eines ehemaligen Hotels. Ein ungewöhnlicher Ort für eine ungewöhnliche Holzbildhauerin. Denn Rebecca Nunn hat noch nie ein Kruzifix angefertigt, wie es für die Oberammergauer lange Zeit so typisch war. Vielmehr schnitzt die sympathische 28-Jährige Menschen im Kleinformat, wie Hochzeitspaare mit Hochzeitsstrauß, einen Skateboarder
Die Szene ist zum Schießen – im wahrsten Sinne des Wortes. Mit ängstlichem Gesichtsausdruck rettet sich der Jäger auf einen Holzstapel – in letzter Sekunde ist er einem keifenden Keiler entronnen. Sein Schießgewehr hat er wohl auf der Flucht vor dem angreifenden Tier verloren; es liegt nutzlos auf dem Boden.
So ein gar nicht friedliches Bild vom Jäger als Gejagten würde man nicht unbedingt als Weihnachtskrippenfigur vermuten – es legt Zeugnis ab vom freien Geist des Schrambergers Gregor Moosmann (1801 – 1872), der in den letzten 20 Jahren seines Lebens Tausende Krippenfiguren auf Papier malte.
Im Schwarzwald bekannt geworden ist der Handwerker unter dem Spitznamen Hartschierle. Sein Vater war Aufseher an der nur wenige Kilometer von Schramberg entfernten Grenze zwischen Baden und Württemberg; er war von Beruf ein „Hartschier“, nach dem italienischen Wort Arciere, Bogenschütze. Und das brachte dem Sohn die Verniedlichungsform Hartschierle, kleiner Hartschier, ein.
Gregor Moosmann malte auf Abfallpapier wie zum Beispiel auf alten Kalenderblättern, Schulbüchern oder Aktendeckeln. „Zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert war das durchaus üblich“, sagt Carsten Kohlmann, Leiter des Schramberger Stadtarchivs. „Denn Papier war ein günstiges Material.“Ein paar Hundert dieser Hartschierle-Figuren sind heute Eigentum des Stadtmuseums Schramberg im Schloss; in Privatbesitz dürften sich
sowie beispielsweise Tiere, und zwar nach Fotos.
Der Kurs beginnt mit einem sogenannten Rohling, den die Holzbildhauerin in einen Schraubstock eingespannt hat. Das von ihr vorab bearbeitete Vierkant-Lindenholzstück seiner Schätzung nach noch einmal etwa doppelt so viele befinden.
Weil im Schwarzwald sogenannte Mooskrippen Tradition seien, habe Hartschierle kleine angespitzte Holzleistchen auf der Rückseite seiner Krippenbilder angebracht,
lässt ein sitzendes himmlisches Wesen mit großen Flügeln erahnen. Die Hilfsmittel für seine „Geburt“– allerlei Schnitzwerkzeuge – liegen bereit. „Schleifpapier ist tabu, weil sonst das Werkstück zu glatt und nicht mehr lebendig damit man sie gut in das weiche Dekorationsmaterial stecken konnte, sagt Kohlmann.
Um den Hartschierle ranken sich in der Fünftälerstadt Schramberg bis heute einige Legenden. Denn der gelernte Schildmaler war ein Außenseiter wirkt“, sagt Rebecca Nunn. Das Schnitzeisen wird leicht schräg zur Holzmaserung mit einer aufliegenden Hand geführt. „Probiere selbst aus, ob du eher von oben oder eher von unten schnitzt – je nachdem, in welche Richtung es am besten
und Eigenbrötler, der im Sommer tief im Wald hinter dem Schlossberg in einer Höhle hauste, der Moosmannshöhle. Wie die frühere Museumschefin Gisela Lixfeld in der Geschichtszeitschrift „D’Krätz“schrieb, geriet der Freidenker, geht“, sagt sie. Vorsichtig und sicherheitshalber auf der Rückseite der Figur geht frau ans Werk. Denn klar ist: Was weg ist, ist weg. Die Holzbildhauerin erkennt den Zwiespalt. „Trau dich, loszulegen – natürlich mit Vorsicht und Fingerspitzengefühl. Sonst kommst du nicht voran.“Tatsächlich löst sich bald Span um Span vom Rohling, die Flügel des Engels nehmen Form an. Es ist eine aufwendige Arbeit, die viel Zeit braucht.
Auf 25 bis 30 wird die Zahl der Schnitzerinnen und Schnitzer in Oberammergau derzeit geschätzt, etwa zehn können von ihrer Handwerkskunst leben. Geschnitzt wird in den Ammertaler Alpen schon seit dem 15. Jahrhundert. „Die Landwirtschaft war zwar schwierig, Holz aber war vorhanden“, sagt Helga Stuckenberger vom Oberammergauer Museum. „Vorteilhaft war unsere Lage an der Handelsroute Venedig-Augsburg. So konnte die Ware gut verkauft werden.“Wurden den Handwerkern lange Zeit die Figuren beinahe aus den Händen gerissen, begann in den 1950er-, 1960er-Jahren der Niedergang der Schnitzerei, als im Südtiroler Grödnertal Maschinenware in Form von Rohlingen gefertigt wurde, wie Helga Stuckenberger erklärt. Auch in Oberammergau hielt sie bald Einzug.
In der Werkstatt von Rebecca Nunn wird die Idee, dass der Holzengel Zehen bekommen soll, aus Zeitgründen verworfen. Ist ja auch kalt im Winter, da trägt das himmlische Wesen besser Schuhe, die einfacher zu schnitzen sind. Das Innere der Flügel, die Haare und das Gesicht müssen noch erarbeitet werden. Es geht ans Eingemachte.
Das tut es derzeit in allen Orten mit großer Schnitztradition. Corona habe den Holzbildhauern viel genommen, klagt Wolfgang van Elst, Schulleiter der Staatlichen Berufsfachschule für Holzbildhauer in Oberammergau. „Verschärfend hinzu kommt, dass das Publikum für die bisherige Massenware ausstirbt.“Noch in den 1970er- bis 1990er-Jahren hätten die Menschen nach günstigen Figuren für ihre rustikalen Eichenschrankwände gesucht. Heute sei das anders. „Designerteile aus Holz sind im Kommen“, berichtet van Elst. Die Kunden kauften keine fünf bunten Figuren mehr für 1000 Euro, sondern
der den Gottesdienst nicht oft besuchte, eines Tages in den Verdacht, ein Wegkreuz geschändet zu haben und verließ deshalb seine Heimatstadt. Die Hungerkrise um 1850 zwang ihn nach Jahren der Wanderschaft zur Rückkehr nach Schramberg, wo er das Heimatrecht und damit das Anrecht auf Unterstützung hatte.
Lixfeld schreibt: „Statt unter den Menschen zu leben, zog sich Gregor Moosmann jedoch in eine im Wald gelegene Höhle zurück. Als Geächteter war er zunächst einmal aus der Gemeinschaft ausgestoßen.“Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, begann der Sonderling mit dem Gestalten von Krippenfiguren („Kripplimali“). Abnehmer waren Handwerker und Bauern der umliegenden Höfe, die ihm im Winter als Gegenleistung Unterkunft und Verpflegung gewährten.
Ein „Krippli“bestand damals aus mehreren Hundert Teilen. Hartschierle fertigte die fünf bis 15 Zentimeter großen Figuren mit Wasserfarben von Hand auf starkem Papier. Er malte natürlich die Weihnachtsdarstellung – Maria, Josef und das Jesuskind, Stall, Ochs und Esel –, die Verkündigung und die Anbetung der Könige; er malte den Kindermord des Herodes, die Beschneidung, die Flucht nach Ägypten, den zwölfjährigen Jesus im Tempel und die Hochzeit zu Kana. Er malte neben den religiösen Figuren auch jede Menge Volk, überwiegend sonntäglich gekleidete Menschen aus vorindustrieller Zeit wie Hausierer, Hütemädchen, die eine Gans im Korb tragen, Hütejungen mit Vieh, Uhrenmännle, Mägde, Bauern und Bäuerinnen. Und er malte unzählige
„lieber eine tolle Figur für 1500 Euro“. Weg von der Massenware, hin zur Qualität laute die Devise. Angst um die Holzbildhauertradition hat der Schulleiter nicht. „Sie wird überleben. Da bin nicht nur ich mir ganz sicher.“
Zurück zum Engel: Die Federn im Inneren der Flügel werden mit feineren Schnitzeisen angedeutet. Dann geht es an die Nase, die Augen und den Mund. Weil der geplante Dutt doch nicht zur Figur passt, wird er kurzerhand in eine Krone umgearbeitet.
„Willst du deinen Beruf wechseln?“, fragt ein Freund, der Zimmermann ist, angesichts des Engels. Nein, denn das wäre doch zu verwegen: Ohne die hervorragende Unterstützung von Rebecca Nunn wäre es wohl wie einem Journalistenkollegen ergangen. Der wollte gemeinsam mit seinem Sohn eine Figur schnitzen. Es war dann eine Schale, die die beiden mit nach Hause genommen haben. Die Kursteilnehmerin hingegen packt sorgsam ihr himmlisches Wesen ein – und ein Vierkantholz. Mit Schnitzwerkzeug im Gepäck stehen die Chancen gut, dass der mit viel Herzblut geschnitzte Engel ein Geschwisterchen bekommt.
Auch Rebecca Nunn wird weiterschnitzen. Sie beherrscht die traditionelle Holzkunst, interpretiert sie aber neu und hat damit ihre Nische gefunden. Engeln allerdings wird sie immer treu bleiben. „Für mich ist klar, dass jeder von uns sowieso einen Schutzengel hat. Aber viele können ihn eben nicht sehen.“Umso mehr freut sich die Holzbildhauerin, wenn sie für diese Menschen nach ihrer Intuition ihren ganz persönlichen Schutzengel in Holz schnitzen darf. Die 28-Jährige sagt: „Ich denke, jeder von uns braucht einen Schutzengel, der neben einem steht und einem Kraft, Mut, Schutz, Geborgenheit und Vertrauen schenkt – und das nicht nur zur Weihnachtszeit.“
Die Recherchereise wurde mit Unterstützung der Ammergauer Alpen GmbH in Oberammergau realisiert. Wer einen Schnitzkurs buchen will, kann sich an sie wenden: Tel. 08822/92 27 40, info@ammergauer-alpen.de, www.ammergauer-alpen.de
Tiere und Jäger; Tausende Darstellungen sind so zusammengekommen, die heute seltene Sammlerstücke sind – jedes einzelne ein Unikat.
„Am eigenständigsten, sorgfältigsten und variationsreichsten sind die Tiere der heimischen Umgebung gemalt, und auch die Wanderhändler und Jäger sind deutlich eigenständiger als die religiösen Figuren ins Bild gesetzt“, hält Gisela Lixfeld fest. Auffällig sei ferner, dass Fabrikarbeiter gänzlich fehlten. Die Industrialisierung sei offensichtlich kein Thema für Hartschierle gewesen. „Er konservierte idealisierte vorindustrielle Verhältnisse.“
Was auch der Laie sehen kann: Das Alt-Schramberger Original schaffte es mit einfachsten Mitteln und vor allem großer Begabung, Tiefe und Lebendigkeit in seine gar nicht eindimensionalen Werke zu bringen. Ein weiteres HartschierleMerkmal ist die kunstvolle Verschmitztheit, mit der er weitere Jäger gestaltete, die auf einen Rehbock lauern oder auf einen Fuchs warten – beide Tiere haben ihn aber schon längst im Visier. Jägerlatein eben.
Jedes Jahr im Winter zeigt das Stadtmuseum Schramberg im Schloss traditionell eine Krippenausstellung. Die diesjährige Weihnachtsausstellung ist dem Krippenbauer Max Scheller jr. (19211895) zum 100. Geburtstag gewidmet. Scheller jr. prägte mit seinen Kasten- und Bühnenkrippen die Anfänge der so genannten Schramberger Schule.
Di. – Sa. 13 – 17 Uhr. Sa. und So. sowie Feiertag 11 – 17 Uhr.