Die Caritas bittet „Herein!“
Einkommensschwache Menschen, denen Obdachlosigkeit droht, werden von der katholischen Wohlfahrtsorganisation bei der Herbergssuche unterstützt
In vielen Familien, die in unserem tief mit der christlichen Religion verbundenen Landstrich leben, liegt an Heiligabend die Bibel aufgeschlagen auf dem Tisch. Ein Familienmitglied liest aus dem Lukas-Evangelium vor:
„In jenen Tagen geschah es, dass vom Kaiser Augustus ein Befehl ausging, dass der gesamte Erdkreis aufgezeichnet werde. (...) Alle gingen hin, sich eintragen zu lassen, ein jeder in seine Stadt. Auch Joseph zog von Galiläa, aus der Stadt Nazareth, hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem hieß, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, um sich eintragen zu lassen zusammen mit Maria, seiner Verlobten, die gesegneten Leibes war. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil nicht Platz für sie war in der Herberge.“Der Rest dieser Geschichte ist allgemein bekannt. Ereignet hat sie sich vor mehr als 2000 Jahren im heutigen Israel.
Noch heute singen die Kinder beim Krippenspiel: „Wer klopfet an? – „O zwei gar arme Leut’!“– „Was wollt ihr dann?“– „O gebt uns Herberg’ heut! O durch Gottes Lieb’ wir bitten, öffnet uns doch eure Hütten!“– „Oh nein, nein, nein!“– „O lasset uns doch ein!“– „Nein, nein, nein, es kann nicht sein, da geht nur fort, ihr kommt nicht rein.“
Dieser Zwiegesang erzählt von der vergeblichen Herbergssuche Marias und Josephs. Ein Lied von ergebnisloser Wohnungssuche können auch Melanie und Mike Erdmann singen. Noch leben sie zusammen mit ihren vier Kindern zwischen drei und 13 Jahren, der Oma Doris und dem kleinen Hund Flocke in einem Ravensburger Stadtteil, der Pfannenstiel heißt. Doch das Haus mit kleinem Garten wurde verkauft. Der neue Vermieter meldete Eigenbedarf an und kündigte im März diesen Jahres den Erdmanns auf den 28. Februar 2022. Fast ein Jahr Zeit, um eine neue Bleibe zu finden, müsste ausreichen, möchte man glauben. Dem ist aber beileibe nicht so. Der Mietwohnungsmarkt ist nicht nur in Ravensburg mehr als dicht. Und eine siebenköpfige Familie mit Hund tut sich besonders schwer, eine entsprechend große Wohnung zu finden. Da hilft es auch nicht, dass Mutter Melanie (34) als Verkäuferin eine feste Anstellung hat, Oma Doris einen Teil ihres Geldes beisteuert und die Familie bis zu 1900 Euro Kaltmiete bezahlen würde.
Melanie und Mike – Maria und Joseph: Die Erfahrungen ähneln sich. „Was weinet ihr?“– „Vor Kält’ erstarren wir.“– „Wer kann dafür?“– „O gebt uns doch Quartier! Überall sind wir verstoßen, jedes Tor ist uns verschlossen!“– „So bleibt halt drauß’.“– „O, öffnet uns das Haus!“– „Da wird nichts draus.“– „Zeig uns ein andres Haus.“– „Dort geht zur nächsten Tür! Ich hab nicht Platz, geht nur von hier!“
Trotz unzähliger Bewerbungen und einigen Besichtigungen bleibt die Wohnungssuche der Erdmanns erfolglos. Immer wieder schöpfen sie nach einer Besichtigung erneut Hoffnung, immer wieder werden sie enttäuscht. Man habe sich für andere Bewerber entschieden, lautet die gängigste Absage. Aber die Erdmanns bekamen auch schon zu hören: „An so eine Assi-Familie vermiete ich nicht!“Mutter Melanie reagiert resigniert und zweifelt an den Menschen. „Waren die früher nicht auch mal Kinder?“, fragt sie sich. Und „Gibt es auf dieser Welt denn keinen Platz für eine Familie mit vier Kindern?“Auf keinen Fall will sie in eine Notunterkunft ziehen, wie sie Gemeinden Menschen zur Verfügung stellen müssen, denen die Obdachlosigkeit droht.
Doch draußen vor der Tür stehen zu müssen, auf Wohlwollen angewiesen zu sein, das gefällt ihr nicht. Und niemandem.
Im November ist ein neuer Silberstreif am Himmel erschienen. Familie Erdmann steht jetzt in Kontakt mit Diplom-Sozialpädagoge und Sozialarbeiter Christian Mayer, der bei der Caritas Bodensee-Oberschwaben zusammen mit seiner Kollegin Lea Kopittke das Projekt „Kirchliche Wohnraumoffensive – Herein!“betreut. Vor fünf Jahren wurde das Projekt ins Leben gerufen mit dem Ziel, Wohnraum zu schaffen für einkommensschwache Menschen. Die Herbergsgeschichte spielt dabei eine bedeutende Rolle. So setzt sich der Projektname „Her-ein“auch aus den Worten „Herberge“und „eintreten“zusammen. „Wohnen ist ein Menschenrecht“, sagt Ewald Kohler, Regionalleiter der Caritas Bodensee-Oberschwaben. Die Caritas sei massiv konfrontiert mit verzweifelten Menschen, die über Monate oder Jahre hinweg nach einer bezahlbaren Bleibe suchen. „Diese Situation gefährdet den sozialen Frieden, weil bei diesen Menschen dauerhaft das Gefühl aufkommt, in dieser Gesellschaft nicht mehr dazuzugehören.“
Auch geflüchtete Familien beispielsweise aus Afrika oder den arabischen Ländern werden von der Caritas bei der Wohnungssuche unterstützt. Doch: „Unser Augenmerk gilt vor allem Schwangeren und alleinerziehenden Müttern“, erklärt Sozialarbeiter Mayer. Nicht nur das erinnert an die biblische Herbergssuche. „Wir schauen nicht nach 1a-Lagen, eher nach 3b-Unterkünften“, sagt Mayer. Der Sozialarbeiter und seine Kollegin versuchen, „Wirte“zu finden und sie zur Vermietung zu bewegen, indem sie eine gewisse Sicherheit anbieten. Denn: Der Mietvertrag wird in der Regel erst einmal zwischen dem Vermieter und der Caritas für zwei Jahre abgeschlossen. Der eigentliche Mieter wiederum überweist den entsprechenden Betrag an die Caritas. Das bedeutet für den Vermieter, dass die monatlichen Raten sicher pünktlich bezahlt werden, auf Wohnung oder Haus geachtet wird und er die Gelegenheit bekommt, die neuen Mieter besser kennenzulernen. Ziel der Caritas ist es, dass nach zwei Jahren ein direkter, am besten unbefristeter Vertrag zwischen Mieter und Vermieter geschlossen wird.
Im Fall der 40-jährigen Aneta Stasch-Berisha hat das funktioniert. Die alleinerziehende Mutter von drei Kindern lebt in einer Wohnung in Tettnang, die sie über das „Herein!“-Projekt bekommen hat. „Das war im Dezember 2019 und für mich das schönste Weihnachtsgeschenk“, erzählt Stasch-Berisha. Und zwei Jahre später, am 15. Dezember 2021 hat sie einen neuen Mietvertrag für die 70-Quadratmeter große Dreizimmerwohnung direkt mit dem Vermieter abgeschlossen. „Dafür bin ich sehr dankbar. Jetzt kann ich beruhigt Weihnachten feiern.“
Das Pilotprojekt der Caritas Bodensee-Oberschwaben hat Nachahmer gefunden. „Türöffner“heißen zum Beispiel vergleichbare Caritas-Projekte in den Nachbarregionen. Hunderte von Wohnungen wurden dadurch in den vergangenen Jahren an Bedürftige vermittelt. Meist auch in enger Zusammenarbeit mit den entsprechenden Städten, die mit der Caritas kooperieren und finanzielle Unterstützung gewähren. „Bündnis für bezahlbaren Wohnraum“oder „Wohnraumallianz“nennt sich diese Art der Kooperation. „Das klappt auch in der Regel gut. Die Städte Weingarten und Friedrichshafen sind zum Beispiel sehr verlässliche Partner“, weiß Mayer.
Über die Kommunen werden Menschen, denen Obdachlosigkeit droht, auf die Caritas aufmerksam gemacht, aber auch über die eigenen Beratungsstellen. Bei Familie Imad, die ursprünglich aus Syrien stammt, war es ein sozial engagierter Bekannter, der sie mit Christian Mayer zusammengebracht hat. Ahmed Imad, der einmal Chef des Wasserwerks von Aleppo war, ist seit einigen Jahren als Monteur bei den Technischen Werken Schussental (TWS) in Ravensburg beschäftigt und benötigte deshalb eine dem Arbeitsort möglichst nahe Wohnung. Doch der Umzug aus einem Dorf bei Messkirch gestaltete sich für die vierköpfige Familie äußerst schwierig.
13 Monate lang war die syrische Familie auf Wohnungssuche. Erst dank der Caritas gelang es Imads, in der Ravensburger Weststadt ansässig zu werden, in einer Dreieinhalbzimmerwohnung, die warm 960 Euro im Monat kostet. In ihrem neuen Zuhause fühlt sich Familie Imad wohl. Vater, Mutter und die beiden Kinder Hasan (zehn) und Zeina (neun) räkeln sich gemeinsam auf dem gemütlichen Sofa, Mutter Jehan kocht in der modernen Küche Kaffee und Tee, auf dem Tisch stehen Weihnachtsplätzchen. Doch bald wird Hasan und Zeina das in perfektem Deutsch geführte Gespräch zu langweilig, sie verdrücken sich leise ins Kinderzimmer. Von dem es allerdings in der Wohnung nur eines gibt. „Das ist nicht ideal“, bemerkt Vater Ahmed. „Vor allem, wenn die beiden älter werden.“Doch vor einer neuerlichen Wohnungssuche graut es ihm und seiner Frau, die derzeit eine Ausbildung in einem Kindergarten absolviert.
„Jetzt packt euch fort!“– „O, dies sind harte Wort’“– „Zum Viehstall dort!“– „O, wohl ein schlechter Ort!“– „Ei, der Ort ist gut für euch; Ihr braucht nicht viel. Da geht nur gleich!“. Worte wie diese, wenn auch in abgemildeter Form, haben Jehan und Ahmed noch im Ohr. „Viele Menschen glauben, wir könnten auf Dauer die Miete nicht bezahlen“, mutmaßt Jehan. Ahmed hat eine weitere Erklärung für die monatelange Herbergssuche: Die Angst vor Fremden.
Wer der Caritas für das Projekt „Kirchliche Wohnraumoffensive – Herein!“eine Wohnung oder ein Haus zur Vermietung bereitstellen möchte, kann sich direkt an Christian Mayer wenden, Tel.: 0176/