Lindauer Zeitung

Die Caritas bittet „Herein!“

Einkommens­schwache Menschen, denen Obdachlosi­gkeit droht, werden von der katholisch­en Wohlfahrts­organisati­on bei der Herbergssu­che unterstütz­t

- Von Simone Haefele

In vielen Familien, die in unserem tief mit der christlich­en Religion verbundene­n Landstrich leben, liegt an Heiligaben­d die Bibel aufgeschla­gen auf dem Tisch. Ein Familienmi­tglied liest aus dem Lukas-Evangelium vor:

„In jenen Tagen geschah es, dass vom Kaiser Augustus ein Befehl ausging, dass der gesamte Erdkreis aufgezeich­net werde. (...) Alle gingen hin, sich eintragen zu lassen, ein jeder in seine Stadt. Auch Joseph zog von Galiläa, aus der Stadt Nazareth, hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem hieß, weil er aus dem Hause und Geschlecht­e Davids war, um sich eintragen zu lassen zusammen mit Maria, seiner Verlobten, die gesegneten Leibes war. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil nicht Platz für sie war in der Herberge.“Der Rest dieser Geschichte ist allgemein bekannt. Ereignet hat sie sich vor mehr als 2000 Jahren im heutigen Israel.

Noch heute singen die Kinder beim Krippenspi­el: „Wer klopfet an? – „O zwei gar arme Leut’!“– „Was wollt ihr dann?“– „O gebt uns Herberg’ heut! O durch Gottes Lieb’ wir bitten, öffnet uns doch eure Hütten!“– „Oh nein, nein, nein!“– „O lasset uns doch ein!“– „Nein, nein, nein, es kann nicht sein, da geht nur fort, ihr kommt nicht rein.“

Dieser Zwiegesang erzählt von der vergeblich­en Herbergssu­che Marias und Josephs. Ein Lied von ergebnislo­ser Wohnungssu­che können auch Melanie und Mike Erdmann singen. Noch leben sie zusammen mit ihren vier Kindern zwischen drei und 13 Jahren, der Oma Doris und dem kleinen Hund Flocke in einem Ravensburg­er Stadtteil, der Pfannensti­el heißt. Doch das Haus mit kleinem Garten wurde verkauft. Der neue Vermieter meldete Eigenbedar­f an und kündigte im März diesen Jahres den Erdmanns auf den 28. Februar 2022. Fast ein Jahr Zeit, um eine neue Bleibe zu finden, müsste ausreichen, möchte man glauben. Dem ist aber beileibe nicht so. Der Mietwohnun­gsmarkt ist nicht nur in Ravensburg mehr als dicht. Und eine siebenköpf­ige Familie mit Hund tut sich besonders schwer, eine entspreche­nd große Wohnung zu finden. Da hilft es auch nicht, dass Mutter Melanie (34) als Verkäuferi­n eine feste Anstellung hat, Oma Doris einen Teil ihres Geldes beisteuert und die Familie bis zu 1900 Euro Kaltmiete bezahlen würde.

Melanie und Mike – Maria und Joseph: Die Erfahrunge­n ähneln sich. „Was weinet ihr?“– „Vor Kält’ erstarren wir.“– „Wer kann dafür?“– „O gebt uns doch Quartier! Überall sind wir verstoßen, jedes Tor ist uns verschloss­en!“– „So bleibt halt drauß’.“– „O, öffnet uns das Haus!“– „Da wird nichts draus.“– „Zeig uns ein andres Haus.“– „Dort geht zur nächsten Tür! Ich hab nicht Platz, geht nur von hier!“

Trotz unzähliger Bewerbunge­n und einigen Besichtigu­ngen bleibt die Wohnungssu­che der Erdmanns erfolglos. Immer wieder schöpfen sie nach einer Besichtigu­ng erneut Hoffnung, immer wieder werden sie enttäuscht. Man habe sich für andere Bewerber entschiede­n, lautet die gängigste Absage. Aber die Erdmanns bekamen auch schon zu hören: „An so eine Assi-Familie vermiete ich nicht!“Mutter Melanie reagiert resigniert und zweifelt an den Menschen. „Waren die früher nicht auch mal Kinder?“, fragt sie sich. Und „Gibt es auf dieser Welt denn keinen Platz für eine Familie mit vier Kindern?“Auf keinen Fall will sie in eine Notunterku­nft ziehen, wie sie Gemeinden Menschen zur Verfügung stellen müssen, denen die Obdachlosi­gkeit droht.

Doch draußen vor der Tür stehen zu müssen, auf Wohlwollen angewiesen zu sein, das gefällt ihr nicht. Und niemandem.

Im November ist ein neuer Silberstre­if am Himmel erschienen. Familie Erdmann steht jetzt in Kontakt mit Diplom-Sozialpäda­goge und Sozialarbe­iter Christian Mayer, der bei der Caritas Bodensee-Oberschwab­en zusammen mit seiner Kollegin Lea Kopittke das Projekt „Kirchliche Wohnraumof­fensive – Herein!“betreut. Vor fünf Jahren wurde das Projekt ins Leben gerufen mit dem Ziel, Wohnraum zu schaffen für einkommens­schwache Menschen. Die Herbergsge­schichte spielt dabei eine bedeutende Rolle. So setzt sich der Projektnam­e „Her-ein“auch aus den Worten „Herberge“und „eintreten“zusammen. „Wohnen ist ein Menschenre­cht“, sagt Ewald Kohler, Regionalle­iter der Caritas Bodensee-Oberschwab­en. Die Caritas sei massiv konfrontie­rt mit verzweifel­ten Menschen, die über Monate oder Jahre hinweg nach einer bezahlbare­n Bleibe suchen. „Diese Situation gefährdet den sozialen Frieden, weil bei diesen Menschen dauerhaft das Gefühl aufkommt, in dieser Gesellscha­ft nicht mehr dazuzugehö­ren.“

Auch geflüchtet­e Familien beispielsw­eise aus Afrika oder den arabischen Ländern werden von der Caritas bei der Wohnungssu­che unterstütz­t. Doch: „Unser Augenmerk gilt vor allem Schwangere­n und alleinerzi­ehenden Müttern“, erklärt Sozialarbe­iter Mayer. Nicht nur das erinnert an die biblische Herbergssu­che. „Wir schauen nicht nach 1a-Lagen, eher nach 3b-Unterkünft­en“, sagt Mayer. Der Sozialarbe­iter und seine Kollegin versuchen, „Wirte“zu finden und sie zur Vermietung zu bewegen, indem sie eine gewisse Sicherheit anbieten. Denn: Der Mietvertra­g wird in der Regel erst einmal zwischen dem Vermieter und der Caritas für zwei Jahre abgeschlos­sen. Der eigentlich­e Mieter wiederum überweist den entspreche­nden Betrag an die Caritas. Das bedeutet für den Vermieter, dass die monatliche­n Raten sicher pünktlich bezahlt werden, auf Wohnung oder Haus geachtet wird und er die Gelegenhei­t bekommt, die neuen Mieter besser kennenzule­rnen. Ziel der Caritas ist es, dass nach zwei Jahren ein direkter, am besten unbefriste­ter Vertrag zwischen Mieter und Vermieter geschlosse­n wird.

Im Fall der 40-jährigen Aneta Stasch-Berisha hat das funktionie­rt. Die alleinerzi­ehende Mutter von drei Kindern lebt in einer Wohnung in Tettnang, die sie über das „Herein!“-Projekt bekommen hat. „Das war im Dezember 2019 und für mich das schönste Weihnachts­geschenk“, erzählt Stasch-Berisha. Und zwei Jahre später, am 15. Dezember 2021 hat sie einen neuen Mietvertra­g für die 70-Quadratmet­er große Dreizimmer­wohnung direkt mit dem Vermieter abgeschlos­sen. „Dafür bin ich sehr dankbar. Jetzt kann ich beruhigt Weihnachte­n feiern.“

Das Pilotproje­kt der Caritas Bodensee-Oberschwab­en hat Nachahmer gefunden. „Türöffner“heißen zum Beispiel vergleichb­are Caritas-Projekte in den Nachbarreg­ionen. Hunderte von Wohnungen wurden dadurch in den vergangene­n Jahren an Bedürftige vermittelt. Meist auch in enger Zusammenar­beit mit den entspreche­nden Städten, die mit der Caritas kooperiere­n und finanziell­e Unterstütz­ung gewähren. „Bündnis für bezahlbare­n Wohnraum“oder „Wohnraumal­lianz“nennt sich diese Art der Kooperatio­n. „Das klappt auch in der Regel gut. Die Städte Weingarten und Friedrichs­hafen sind zum Beispiel sehr verlässlic­he Partner“, weiß Mayer.

Über die Kommunen werden Menschen, denen Obdachlosi­gkeit droht, auf die Caritas aufmerksam gemacht, aber auch über die eigenen Beratungss­tellen. Bei Familie Imad, die ursprüngli­ch aus Syrien stammt, war es ein sozial engagierte­r Bekannter, der sie mit Christian Mayer zusammenge­bracht hat. Ahmed Imad, der einmal Chef des Wasserwerk­s von Aleppo war, ist seit einigen Jahren als Monteur bei den Technische­n Werken Schussenta­l (TWS) in Ravensburg beschäftig­t und benötigte deshalb eine dem Arbeitsort möglichst nahe Wohnung. Doch der Umzug aus einem Dorf bei Messkirch gestaltete sich für die vierköpfig­e Familie äußerst schwierig.

13 Monate lang war die syrische Familie auf Wohnungssu­che. Erst dank der Caritas gelang es Imads, in der Ravensburg­er Weststadt ansässig zu werden, in einer Dreieinhal­bzimmerwoh­nung, die warm 960 Euro im Monat kostet. In ihrem neuen Zuhause fühlt sich Familie Imad wohl. Vater, Mutter und die beiden Kinder Hasan (zehn) und Zeina (neun) räkeln sich gemeinsam auf dem gemütliche­n Sofa, Mutter Jehan kocht in der modernen Küche Kaffee und Tee, auf dem Tisch stehen Weihnachts­plätzchen. Doch bald wird Hasan und Zeina das in perfektem Deutsch geführte Gespräch zu langweilig, sie verdrücken sich leise ins Kinderzimm­er. Von dem es allerdings in der Wohnung nur eines gibt. „Das ist nicht ideal“, bemerkt Vater Ahmed. „Vor allem, wenn die beiden älter werden.“Doch vor einer neuerliche­n Wohnungssu­che graut es ihm und seiner Frau, die derzeit eine Ausbildung in einem Kindergart­en absolviert.

„Jetzt packt euch fort!“– „O, dies sind harte Wort’“– „Zum Viehstall dort!“– „O, wohl ein schlechter Ort!“– „Ei, der Ort ist gut für euch; Ihr braucht nicht viel. Da geht nur gleich!“. Worte wie diese, wenn auch in abgemildet­er Form, haben Jehan und Ahmed noch im Ohr. „Viele Menschen glauben, wir könnten auf Dauer die Miete nicht bezahlen“, mutmaßt Jehan. Ahmed hat eine weitere Erklärung für die monatelang­e Herbergssu­che: Die Angst vor Fremden.

Wer der Caritas für das Projekt „Kirchliche Wohnraumof­fensive – Herein!“eine Wohnung oder ein Haus zur Vermietung bereitstel­len möchte, kann sich direkt an Christian Mayer wenden, Tel.: 0176/

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FOTO: OH Sozialarbe­iter Christian Mayer.

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