Wenn jeder Fehler der letzte sein kann
Der Kampfmittelbeseitigungsdienst Baden-Württemberg übernimmt seit 75 Jahren eine gefährliche Aufgabe
Von Hildegard Nagler
- Dieser Katalog ist einer des Grauens. Darin: spitze, runde und eckige Objekte unterschiedlicher Größe. Allen gemein ist: Sie sollen töten. Der „Identifizierungskatalog für Munition und Kampfmittel beider Weltkriege und Neuzeit“. Herausgegeben hat ihn der Kampfmittelbeseitigungsdienst des Landes Baden-Württemberg (KMBD). Auch heute, 75 Jahre nach seiner Gründung, rücken dessen Experten ein- bis zweimal pro Woche aus. Dann gilt es, tödliche Objekte schnellstmöglich unschädlich zu machen, die an Land und unter Wasser entdeckt wurden. Der Sindelfinger Dienststellenleiter Ralf Vendel formuliert es nach jahrzehntelanger Arbeit im KMBD lakonisch: „Der Mensch ist Profi darin, Waffen und Munition herzustellen.“
„Tallboy“oder „Grand Slam“– das sind vermeintlich heroisch klingende Namen. In den Ohren der KMBD-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter lassen sie die Alarmglocken schrillen. „Tallboy“ist eine bunkerbrechende 5,4 Tonnen schwere Fliegerbombe der britischen Royal Air Force (RAF) mit 2,4 Tonnen Sprengstoff, die im Zweiten Weltkrieg abgeworfen wurde. 854 dieser Bomben hatte die RAF ab Frühjahr 1944 zur Verfügung. „Grand Slam“, ebenfalls eine Bombe, folgte „Tallboy“. Sie ist mit ihrem Gewicht von zehn Tonnen die schwerste im Zweiten Weltkrieg eingesetzte Fliegerbombe. Derartige Kriegsrelikte werden immer wieder im Boden gefunden, beispielsweise bei Bauarbeiten. Je länger sie im Boden liegen, desto gefährlicher können sie werden – auch wenn sie mit Luft in Kontakt kommen.
„Wenn solche Bomben mit Verzögerungsbeziehungsweise Langzeitzündern ausgestattet sind, können sie, einmal entdeckt, jederzeit losgehen – mit unberechenbaren Folgen“, warnt Ralf Vendel. Der Grund: Das Material ermüdet zunehmend, die Explosivstoffe sind nach Jahrzehnten im Erdreich empfindlich, das Wetter und mögliche Beschädigungen durch Dritte tun ihr Übriges.
„Tallboy“und „Grand Slam“sind nur zwei von Tausenden von Waffen,
mit denen der KMBD konfrontiert wird. Was bedeutet: Der Dienststellenleiter und seine Mitarbeitenden brauchen eine sehr gute Waffenkenntnis, um solche Objekte überhaupt analysieren und ihre Gefahr einschätzen zu können. Muss man dafür Waffennarr sein? „Nein, überhaupt nicht“, sagt Ralf Vendel. „Meine 33 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch ich haben mit Waffen nichts am Hut. Aber tiefgehende Kenntnisse sind für uns überlebensnotwendig. Wir sind keine Alleinkämpfer, rücken immer zu zweit aus. Mir ist es recht, wenn einer sagt: Die und die Waffe kann ich nicht richtig einschätzen, lass uns lieber den Kollegen fragen. Das verringert das Risiko.“Für Abenteurer und Fantasten sei im KMBDTeam kein Platz. „Wir haben kein Interesse, uns selbst zu gefährden“, sagt der 56-Jährige. „Davon hätte keiner etwas.“
Viele Fundstücke sind deutlich mehr als 100 Jahre alt: Ein bis zwei Prozent aller Fundstücke, mit denen der KMBD Baden-Württemberg zu tun hat, stammen aus dem DeutschFranzösischen Krieg von 1870. Aus dem Ersten Weltkrieg sind es zehn Prozent, aus dem Zweiten der Rest. Ihre Herkunft: Deutschland, England, Frankreich und USA, ganz wenige aus Russland. Die KMBDHotline hat einen Rufbereitschaftsdienst, der von den Ordnungsämtern oder der Polizei bei dringenden Angelegenheiten benachrichtigt werden kann. Zwischen 850 und 1000 Meldungen gehen pro Jahr aus ganz Baden-Württemberg ein. Um die Lage rasch einschätzen zu können, nutzen die Experten Luftbilder, die sie von Amerikanern und Engländern gekauft haben – sie hatten Deutschland bombardiert und, um die Erfolge zu dokumentieren, Luftaufnahmen gemacht. Manchmal müssen auch Handyfotos genügen, die Finder oder die Polizei von Munition oder Bomben aufgenommen haben.
Rund 1,35 Millionen Tonnen Sprengkörper wurden während des Zweiten Weltkriegs auf das Gebiet des damaligen Deutschen Reiches abgeworfen. Alleine über BadenWürttemberg waren es etwa
100 000 Tonnen. „Während die großen Industriezentren, wie zum Beispiel Stuttgart, Mannheim,
Karlsruhe, Heilbronn, Friedrichshafen und Ulm, mehrfach durch große alliierte Bombengeschwader angegriffen wurden, sind kleinere Industriegebiete und Depots vermehrt durch Jagdbomber der alliierten Streitkräfte bombardiert worden“, heißt es auf der Website des KMBD.
Zehn bis 15 Prozent davon detonierten nicht – sei es durch technische Fehler oder durch die geringe Abwurfhöhe aus den Flugzeugen. Dazu muss man wissen: Die Zünder sind so aufgebaut, dass sie erst in einer bestimmten Höhe auslösen. Damit sollte vermieden werden, dass das eigene Flugzeug bei der Detonation einer Bombe getroffen wird. Manche Sprengkörper konnten auch während der Kriegswirren nicht mehr entschärft oder geborgen werden. So kommt es, dass Fachleute noch immer etliche Blindgänger im Land vermuten. Darüber hinaus hätten deutsche Soldaten am Ende des Krieges in aller Eile Munition, Patronen und Waffen entsorgt. Die Munition wurde in Depots oder auf Sammelplätzen – vielfach nur lose aufgehäuft – gesprengt, in Bombentrichtern vergraben, auf dem Grund von Gewässern versenkt oder einfach weggeworfen. All diese Kampfmittel, heißt es beim KMBD, stellten bis heute „eine erhebliche Gefährdung für die Bevölkerung“dar.
Das wurde jüngst wieder in München deutlich: Dort explodierte bei Bauarbeiten der Deutschen
Bahn AG an der Donnersbergerbrücke eine 250 Kilogramm schwere Fliegerbombe amerikanischer Herkunft. Vier Menschen wurden verletzt, einer davon schwer. Kampfmittelexperte Andreas Heil sagte, es hätte auch Tote geben können – vermutet wird, dass die Bombe bei einer Bohrung unglücklich getroffen wurde und deshalb explodierte. Ein Blindgänger liege selten allein im Boden, sagt der Kampfmittelexperte. Warum wurde die Fliegerbombe nicht rechtzeitig entdeckt, beispielsweise bei einer Bodenuntersuchung, wie sie normalerweise vorgenommen wird? Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässigen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion.
Als der schwedische Möbelkonzern Ikea in Ulm nahe dem
Güterbahnhof baute, war Ralf Vendel mehr als ein Jahr vor Ort. 16 Bomben wurden auf dem 16 Hektar großen Gelände entdeckt, zudem mehrere Tonnen an Kleinmunition. Auf einem Flugfeld in Böblingen wurden beim Bau von Mehrfamilienhäusern, Industrieanlagen und Verwaltungsgebäuden mehr als 30 Bomben durch den Kampfmittelbeseitigungsdienst entschärft.
Kontrolliert gesprengt werden nur Bomben, die nicht mehr entschärft werden können – und zwar am Fundort, da ein Transport viel zu riskant wäre. Die kontrollierte Sprengung birgt Risiken. „Wir können versuchen, die Wucht des Sprengstoffs durch Sand oder das Anbringen von sogenannten Flexitanks zu verringern – das sind Big Packs, die man wie eine Folie obendrauf legt und dann mit mehreren tausend Litern Wasser füllt“, erklärt der Experte. „Und ich kann den Zeitpunkt wählen, zu dem das Ding hochgeht. Das ist das Einzige, was wir tun können. Ansonsten ist es wie ein Sechser im Lotto, wenn es keine Schäden gibt.“
Wird im Wasser, beispielsweise im Bodensee, Auffälliges entdeckt, kommen KMBD-Taucher zum Einsatz. Sie kooperieren dann mit Beamten der Wasserschutzpolizei, deren Taucher vom KMBD im Erkennen von Kampfmitteln ausgebildet wurden. Wenn möglich, arbeiten sie mit einem Unterwasserroboter.
24 Tonnen Kampfmittel haben Mitarbeiter im vergangenen Jahr beseitigt. Darunter waren 14 Blindgänger alliierter Spreng- und Splitterbomben.
Die Luftbildauswertungen zeigen, dass noch zahlreiche Flächen im Land mit Kampfmitteln belastet sind. In diesem Jahr wurden bereits 22 Bomben mit einem Gewicht von jeweils mehr als 50 Kilogramm aufgefunden und entschärft – zuletzt eine amerikanische 500 Kilogramm schwere Bombe mit fast 250 Kilogramm Sprengstoff in Stuttgart-Feuerbach.
Beim bayerischen KMBD wurden im vergangenen Jahr rund 150 Tonnen Kampfmittel, darunter 63 Blindgänger alliierter Spreng- und Splitterbomben beseitigt. Die Zahl der noch nicht im Boden gefundenen Fliegerbomben soll fünfstellig sein.
Addiert man die Räumergebnisse zwischen dem 12. August 1946 und dem 31. Dezember 2020, so wurden allein in Baden-Württemberg mehr als 7 460 000 Kilogramm Munition geborgen und vernichtet, 24 617 Bomben entschärft und vernichtet sowie 88 126 800 Quadratmeter Fläche von Munition befreit.
Einige der Fundstücke gelangen auf ungewöhnlichen Wegen ins Land. Ralf Vendel berichtet, dass es Menschen gibt, die zum Beispiel im Urlaub in Südfrankreich Kampfmittel aus dem Ersten Weltkrieg suchen, die Fundstücke mit nach Hause nehmen und dann dort vergraben, weil ihnen das Ganze zu heiß wird. Experten schätzen, dass die Kampfmittelbeseitigungsdienste in Deutschland noch für Jahrzehnte Arbeit haben werden. Doch es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie gefährlich dieser Job ist: Seit Kriegsende starben allein im Bereich des KMBD BadenWürttemberg 13 Mitarbeiter im Einsatz.
Warum also wählt jemand gerade diesen Job? Einerseits sei er sehr interessant und auch technisch aufwendig, sagt Ralf Vendel. Viel mehr aber treibt ihn die Motivation an, dabei „mitzuhelfen, unser Land von Unrat zu befreien, damit die Bürgerinnen und Bürger sicher leben können“. Er ist seit mittlerweile 36 Jahren im Einsatz. Kehrt nach so langer Zeit Routine ein? Die Antwort des Kampfmittelbeseitigungsexperten lässt nicht lange auf sich warten. „Routine hat bei uns keinen Platz. Denn jeder Fehler kann unser letzter sein.“