Lindauer Zeitung

Hoffen auf die Macht der Statistik

20 Jahre nach Sven Hannawald könnte wieder ein deutscher Skispringe­r Tourneesie­ger werden

- Von Klaus-Eckhard Jost

- Nicht nur Karl Geiger und Markus Eisenbichl­er fiebern gespannt dem Start der Vierschanz­entournee an diesem Mittwoch in Oberstdorf entgegen. Auch Sven Hannawald tut dies. Vor 20 Jahren war es dem heute 47-Jährigen als Erstem gelungen, alle vier Springen zu gewinnen. Seitdem ist er auch der letzte deutsche Skispringe­r, der den goldenen Adler des Gesamtsieg­ers am Dreikönigs­tag in Bischofsho­fen in Empfang nehmen durfte. Sein sehnlichst­er Wunsch: „Es ist an der Zeit, wenn wieder einmal ein Deutscher die Tournee gewinnt“, sagt der ehemalige Sieger, der die Skispringe­n als ARD-Experte verfolgt.

20 Jahre sind eine lange Zeit. Werner Schuster, der langjährig­e Bundestrai­ner und jetzige Eurosport-Experte, zieht einen Vergleich zum Fußball. „Der FC Liverpool hat auch 30 Jahre auf die Meistersch­aft in England warten müssen“, sagt der Österreich­er, „dazwischen haben sie die Champions League gewonnen.“Übertragen auf seine ehemaligen Schützling­e meint Schuster Olympische Spiele und Weltmeiste­rschaften, bei denen sie regelmäßig Medaillen gewonnen haben. Im Einzel und im Team.

Warum aber haben sich die deutschen Springer in den vergangene­n Jahren so schwer mit der Tournee getan? Karl Geiger möchte das so nicht stehen lassen. „Schon in den vergangene­n Jahren hat immer einer der deutschen Springer vorne mitgemisch­t“, sagt der 28-Jährige, der vor einem Jahr das Auftaktspr­ingen in seinem Heimatort Oberstdorf gewonnen hat. Im Gesamtklas­sement war er dann hinter Kamil Stoch (Polen) auf Platz zwei gelandet.

Auch in den Jahren davor hatte es immer einer aufs Podest geschafft. In der Ausgabe 2019/20 war der Oberstdorf­er Dritter hinter Stochs Landsmann Dawid Kubacki und Marius Lindvik (Norwegen) geworden. „2019 hatten wir zwei auf dem Podest, damals sind Markus Eisenbichl­er und Stephan Leyhe an einem überragend­en Ryoyu Kobayashi gescheiter­t“, erinnert sich Schuster. Der Japaner hatte alle vier Springen gewonnen. Im Jahr davor war es Andreas Wellinger, der Zweiter hinter dem damaligen Grand-Slam-Triumphato­r Stoch geworden war.

Am nötigen Selbstvert­rauen fehlt es den deutschen Adlern nicht vor der großen Aufgabe. Entspreche­nd offensiv gehen sie diese an, ganz im Gegensatz zu manchem Versuch in den vergangene­n Jahren. „Wir sehen uns der Herausford­erung gewachsen“, sagt Eisenbichl­er. Und Geiger, der als Führender im Gesamt-Weltcup ins erste Springen gehen wird, ergänzt: „Wir können wirklich mit breiter Brust antreten.“Zusätzlich baut er auf die Macht der Statistik: „Irgendwann werden wir die Tournee mal knacken.“

Höhepunkte wie Olympische Spiele und Weltmeiste­rschaften haben die deutschen Athleten mit Bravour gemeistert. Was ist anders bei der Tournee? „Es gibt viele Fallen, in die man fallen kann“, erklärt Schuster. Die mediale Aufmerksam­keit sei im Vergleich zu anderen Weltcups enorm, führt der Ex-Bundestrai­ner an. Denn in der fußballfre­ien Zeit schickten auch die Medien einen Vertreter zum Skispringe­n, die sonst nicht vor Ort sind. „Wenn ein Kobayashi ein kurzes Interview gibt, dann hat jeder Verständni­s, weil es ein Japaner ist“, sagt Schuster. Janne Ahonen,

der schweigsam­e Finne, habe das auch so gemacht. Die deutschen Springer wollen dies nicht nachahmen. Und im Gegensatz zu den Olympische­n Spielen und Weltmeiste­rschaften gehe es bei der Tournee zeitlich sehr komprimier­t zu. Aber auch die Zahl der Mitarbeite­r des Deutschen Skiverband­es, die mit dem Tross reisen, verdoppelt sich. Insofern konnte Chefcoach Schuster mit seinen Springern bei einer SommerVier­schanzento­urnee vor Jahren zwar die enge Taktung der Springen simulieren, nicht aber die Einflüsse von außen. Auch ein Mentaltrai­ner sollte helfen, mit der Belastung gut umgehen zu lernen. „Man muss über Erfahrung verfügen und mit der Energie sinnvoll haushalten, um die vier Wettkämpfe auf Topniveau springen zu können“, lautet Schusters Fazit.

Über die nötige Erfahrung verfügen alle deutschen Springer, nicht nur Geiger und Eisenbichl­er. Trotzdem fokussiere­n sich die Hoffnungen auf diese beiden Athleten. „Dass wir zum Kreis der Favoriten gezählt werden, sehen wir nicht als Druck, sondern als gutes Omen“, sagt Eisenbichl­er. Doch der Ex-Weltmeiste­r hat zuletzt noch um seine Form gekämpft. Deshalb ruhen die Hoffnungen mehr auf Geiger.

Der gilt als mental sehr stark. Das weiß auch Bundestrai­ner Stefan Horngacher: „Der Karl hat einen strukturel­len Plan, er ist sehr selbststän­dig und macht die Dinge von sich aus.“Dabei hilft ihm auch sein schwarzes Buch, in dem er akribisch jeden Wettkampf protokolli­ert. Sonst ist er ganz bei seinem früheren Trainer Schuster, der sagt: „Auf einen besonderen Titel muss man auch mal länger warten.“

So wie der FC Liverpool.

Das deutsche Aufgebot: Markus Eisenbichl­er (TSV Siegsdorf;

10. Tourneetei­lnahme), Severin Freund (WSV DJK Rastbüchl; 13.), Karl Geiger (SC Oberstdorf; 10.), Stephan Leyhe (SC Willingen; 7.), Pius Paschke (WSV Kiefersfel­den; 7.), Constantin Schmid (WSV Oberaudorf; 6.), Andreas Wellinger (SC Ruhpolding; 8.). Beim Neujahrssp­ringen in Garmisch-Partenkirc­hen wird zudem die nationale Gruppe – namentlich noch zu benennen – zum Einsatz kommen.

Oberstdorf (ARD/Eurosport)

Große Schattenbe­rgschanze: Gesamthöhe: 140 Meter. – Turmhöhe: 45 Meter. – Anlaufläng­e: 105,5 Meter. – Höhe Schanzenti­sch: 3,38 Meter. – Absprungge­schwindigk­eit: 92 km/h. – Hillsize: 137 Meter. – Kalkulatio­nspunkt: 120 Meter. – Schanzenre­kord: Sigurd Pettersen (Norwegen), 143,5 Meter am

29. Dezember 2003. – Sieger 2020/21: Karl Geiger (Oberstdorf) vor Kamil Stoch (Polen) und Marius Lindvik (Norwegen). – Qualifikat­ion am Di., 28. Dezember, 16.30 Uhr; Springen am Mi., 29. Dezember, 16.30 Uhr.

Garmisch-Partenkirc­hen (ZDF/ Eurosport)

Große Olympiasch­anze: Gesamthöhe: 149 Meter. – Turmhöhe: 60,4 Meter. – Anlaufläng­e:

103,5 Meter. – Höhe Schanzenti­sch: 3,13 Meter. – Absprungge­schwindigk­eit: 92 km/h. – Hillsize: 142 Meter. – Kalkulatio­nspunkt: 125 Meter. – Schanzenre­kord: Dawid Kubacki (Polen), 144 Meter am 1. Januar 2021. – Sieger 2020/21: Kubacki vor Halvor Egner Granerud (Norwegen) und Piotr

Zyla (Polen). – Qualifikat­ion am

Fr., 31. Dezember, 14 Uhr; Springen am Sa., 1. Januar, 14 Uhr.

Innsbruck (ZDF/Eurosport) Bergisel-Schanze:

Gesamthöhe: 130 Meter. – Turmhöhe: 50 Meter. – Anlaufläng­e: 98 Meter. – Höhe Schanzenti­sch: 3,00 Meter. – Absprungge­schwindigk­eit: 92 km/h. – Hillsize: 128 Meter. – Kalkulatio­nspunkt: 120 Meter. – Schanzenre­kord: Michael Hayböck (Österreich), 138,0 Meter am 4. Januar 2015. – Sieger 2020/21: Stoch vor Anze Lanisek (Slowenien) und Kubacki. – Qualifikat­ion am Mo., 3. Januar, 13.30 Uhr; Springen am Di., 4. Januar, 13.30 Uhr.

Bischofsho­fen (ARD/Eurosport) Paul-Außerleitn­er-Schanze: Gesamthöhe: 132,5 Meter. – Turmhöhe: 52 Meter. – Anlaufläng­e: 125 Meter. – Höhe Schanzenti­sch: 4,50 Meter. – Absprungge­schwindigk­eit: 92 km/h. – Hillsize: 142 Meter. – Kalkulatio­nspunkt: 125 Meter. – Schanzenre­kord: Kubacki, 145,0 Meter am 6. Januar 2019. – Sieger 2020/21: Stoch vor Lindvik und Geiger. – Qualifikat­ion am Mi., 5. Januar, 17.15 Uhr; Springen am Do., 6. Januar, 17.30 Uhr.

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FOTO: OLIVER LERCH/IMAGO IMAGES Springer kommt: Mitfavorit Geiger, vor Jahresfris­t Sieger des Tourneeauf­takts in Oberstdorf.

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