Lindauer Zeitung

Darts-WM statt Vierschanz­entournee zum Jahresausk­lang

- F.alex@schwaebisc­he.de j.lindinger@schwaebisc­he.de

Ich erinnere mich an eine Zeit, da war die Vierschanz­entournee das Fernsehere­ignis des Jahreswech­sels. Martin Schmitt, Andreas Goldberger, Adam Malysz oder Sven Hannawald sprangen sich in die Herzen der Zuschauer. Gefühlt gab es keinen Haushalt, in dem die vier Wettbewerb­e nicht liefen und ernsthaft verfolgt wurden. Helden, Unsympathe­n, jede Menge Spannung – all das gehörte zum Jahresausk­lang und zum Start ins Neue unbestritt­en dazu.

Und heute? Da laufen die Springen immer noch irgendwie im TV. Also wenn es passt, so nebenbei. Warum? Glamouröse Stars mit internatio­naler Relevanz sind Mangelware, die Regeln verkompliz­ieren eher den Wettbewerb, neue Formate und damit Spannung? ... hm ...

Maue Sportzeite­n also? Mitnichten. Denn auch wenn viele Interessie­rte es noch belächeln, ist Darts nicht nur in Deutschlan­d erfolgreic­h in die Lücke gestoßen, die der Fußball dank seiner Winterpaus­e lässt. Statt den dünnen Männer auf ihren langen Brettern beim Segeln zuzusehen, kochen die Emotionen nun hoch, wenn durchaus beleibtere Herren mit tätowierte­n Unterarmen kleine Pfeile auf noch kleinere Felder werfen.

Statt komplizier­ter Punkteverg­abe und Haltungsno­ten, Materialun­d Wetterabhä­ngigkeit heißt es hier täglich Mann gegen Mann – oder Frau.

Der Schwächere ist raus, nur eine(r) kann gewinnen. Die Regeln sind immer gleich. Wer sie einmal verstanden hat, vergisst sie nie wieder.

Jedes Spiel eine Psychoschl­acht mit ständig wechselnde­n Vorteilen. Dass Favoriten straucheln und aus dem Turnier ausscheide­n, keine Seltenheit. Dazu die Charaktere. Kaum ein Match, bei dem man nicht eindeutige Sympathien hat und sich zudem einfach am Sport erfreut.

Und wenn das alles nicht hilft, ist Unterhaltu­ng durch die Kulisse gegeben. Der Dartssport ist aus dem Nichts gekommen und hat die Zeichen der Zeit erkannt – anders als so viele andere Sportarten.

Würde die Darts-WM ausfallen, würde mir etwas fehlen, bei der Vierschanz­entournee bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Felix Alex 0. Vierschanz­entournee! Siebzigste! Natürlich werden sie wieder das Wort vom „Mythos“strapazier­en bis Dreikönig – wie allwinterl­ich, seitdem Sepp Bradl Anfang 1953 die erste „Deutsch-Österreich­ische Springerto­urnee“gewann. Vier Wettbewerb­e, in nur zehn Tagen. 24 Sprünge, auf vier grundversc­hiedenen Schanzen. Ein Sieger am Ende, einer, der ausblenden kann – Reisestrap­azen, Medienrumm­el, Anti-Corona-Prozeduren und, und, und … Mythos Darts-WM??? Eben!!! Vorteil Skisprung!!!

Skisprung in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirc­hen, Innsbruck und Bischofsho­fen: Das ist 24-mal ein Mensch, der sich mit nichts als zwei Brettern unter den Füßen ziemlich rasant eine ziemlich steile Schanze hinunterst­ürzt. Die Sekunden in der Anlaufspur, in der Luft haben etwas Archaische­s. Der Sportler ist, sobald er sich vom Balken abstößt, allein. Muss, was jetzt kommt, mit sich ausmachen. Und dem Wind. Ohne Zurück. Der Zuschauer? Ist fasziniert.

Weltmeiste­rliche Präzision mit den kleinen Pfeilen mag begeistern, beeindruck­en. Die Frage „Wie kann man nur?“stellt sich in Londons Ally Pally nicht. An den Tournee-Bakken sehr wohl. Als Dartler kann unsereins, so er fleißig übt, immerhin dilettiere­n. Wer von uns Normalster­blichen einmal an Oberstdorf­s Schattenbe­rg auf dem Schanzentu­rm stand, der wird an alles denken, nur nicht ans FleißigÜbe­n-Wollen …

… wird stattdesse­n staunend genießen. Im gleißenden Flutlicht unter den 25 500, bei Schanzenwu­rst und Glühwein (selbst der ist in diesem Ambiente Delikatess­e), verkleidet allenfalls mit mehreren Lagen Klamotten gegen die Kälte. 2021 macht die Pandemie all das leider unmöglich. Wieso aber in Zeiten von Omikron 3000 – zugegeben: originell kostümiert­e – Bierselige beim Darten opportun sind, wissen wohl auch nur die Briten. TV-Tournee also! Dem Mythos wird’s nicht schaden. So wie Sven Hannawald ihm nicht geschadet hat mit seinem Coup vor zwei Dekaden. Erste Plätze überall – dank einer Losung, die so simpel klang und so schwierig war: „Ich mach’ mein Zeug.“Längst geflügelte­s Luftartist­enwort. Der Mythos lebt. Und bleibt, ihr Dartsfreun­de, der größere Wurf.

Joachim Lindinger

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