Karlsruher Signal für Behinderte
Bundesverfassungsgericht fordert wegen Pandemie Gesetz zum Umgang mit Triage
- Die Botschaft ist eindeutig: „Unverzüglich“muss nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Gesetzgeber Maßnahmen ergreifen, damit auch Behinderte und Menschen mit einer Vorerkrankung wirksame medizinische Hilfe erhalten, wenn es in den Krankenhäusern wegen der CoronaPandemie zu Engpässen kommt und die Patienten nicht mehr gleichermaßen versorgt werden können. Dann müssen Ärzte möglicherweise über Leben und Tod entscheiden, dieser Auswahlprozess wird „Triage“genannt. Die acht Richter des Ersten Senats gehen davon aus, dass es aktuell Anhaltspunkte für ein Risiko gibt, benachteiligt zu werden.
Karlsruhe nimmt mit der am Dienstag veröffentlichten Entscheidung die Sorgen von neun Beschwerdeführenden sehr ernst, die vom Gesetzgeber entsprechende Regeln einfordern. Vielleicht auch vor dem Hintergrund der Schreckensbilder aus Oberitalien und dem Elsass aus dem vergangenen Jahr befürchten die Antragsteller, dass sie aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation weniger Hilfen erhalten könnten als andere. Einem mit den Verfassungsbeschwerden verbundenen Eilantrag hatte der Erste Senat im Vorjahr nicht entsprochen.
Damals ging Karlsruhe noch davon aus, dass die Problematik sich nicht unmittelbar stellt. Eineinhalb Jahre später und unter dem Eindruck der sich rasant verbreitenden Omikron-Variante sieht das für die Richter offenbar anders aus – sonst hätten sie nicht die in Karlsruhe meist ruhige Phase zwischen Weihnachten und Neujahr gewählt, um ihre Entscheidung zu veröffentlichen.
Das Bundesverfassungsgericht formuliert auch gleich Grundsätze, an denen sich der Gesetzgeber orientieren soll: So muss er berücksichtigen, dass begrenzte personelle und sachliche Kapazitäten nicht so stark in Anspruch genommen werden dürften, dass das Ziel, Leben und Gesundheit von Patienten mit Behinderungen zu schützen, „ins Gegenteil verkehrt“würde. Gleiches gelte im Hinblick auf die Schutzpflichten für Leben und Gesundheit aller. Auch die Lage in den Kliniken, etwa die gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen, sei zu achten.
Zudem wird die Letztverantwortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im Einzelfall als Maßstab genannt. Bei der konkreten Ausgestaltung komme dem Parlament aber ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Das Ziel bleibt indes klar: Der Bundestag müsse im Lichte der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen dafür sorgen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung „hinreichend wirksam verhindert wird“.
Klägerin Nancy Poser aus Trier zeigte sich „erleichtert“über das Karlsruher Urteil. „Für mich als Juristin war es sehr wichtig gewesen zu wissen, dass man sich auf die Verfassung verlassen kann“, sagte die Richterin
am Amtsgericht Trier am Dienstag der Deutschen PresseAgentur. Die 42-Jährige hatte mit acht weiteren Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Freude verspürt Poser nach dem Richterspruch eigenen Angaben zufolge nicht. „Freude kann man nicht sagen, denn es geht um Triage. Das ist ein Thema, da kann es keine Freude geben – egal nach welchen Kriterien entschieden wird, es ist immer tragisch“, sagte die 42-Jährige, die an einer spinalen Muskelatrophie leidet. Aber eben Erleichterung: „Weil das Grundgesetz Menschen mit Behinderungen schützt und das Verfassungsgericht auch in Anbetracht dieser Krisensituation die Grundrechte von Menschen mit Behinderungen wahrt.“
Poser sagte weiter: „Wir hoffen, dass der Gesetzgeber da schnell tätig wird und Regelungen trifft zu unserem Schutz.“Triage sei immer tragisch, „aber es ist was anderes, ob dabei auch noch Menschen diskriminiert werden aufgrund ihre Behinderung.“Das Verfassungsgericht habe „hier ganz klar festgestellt, dass der Gesetzgeber seine Schutzpflicht verletzt hat“. Poser sitzt im Rollstuhl und lebt mit Assistenz.
Das Wort „Triage“kommt aus dem Französischen und bedeutet übersetzt „Auswahl“oder „sortieren“. Der Begriff stammt aus der Militärmedizin, wo es um die Versorgung der Verletzten auf dem Schlachtfeld geht. Er wird aber auch in der Notfallmedizin oder dem Zivilschutz verwendet, etwa bei Katastrophen, Terroranschlägen oder Pandemien.