Lindauer Zeitung

Karlsruher Signal für Behinderte

Bundesverf­assungsger­icht fordert wegen Pandemie Gesetz zum Umgang mit Triage

- Von Michael Jacquemain (KNA) und dpa

- Die Botschaft ist eindeutig: „Unverzügli­ch“muss nach einer Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts der Gesetzgebe­r Maßnahmen ergreifen, damit auch Behinderte und Menschen mit einer Vorerkrank­ung wirksame medizinisc­he Hilfe erhalten, wenn es in den Krankenhäu­sern wegen der CoronaPand­emie zu Engpässen kommt und die Patienten nicht mehr gleicherma­ßen versorgt werden können. Dann müssen Ärzte möglicherw­eise über Leben und Tod entscheide­n, dieser Auswahlpro­zess wird „Triage“genannt. Die acht Richter des Ersten Senats gehen davon aus, dass es aktuell Anhaltspun­kte für ein Risiko gibt, benachteil­igt zu werden.

Karlsruhe nimmt mit der am Dienstag veröffentl­ichten Entscheidu­ng die Sorgen von neun Beschwerde­führenden sehr ernst, die vom Gesetzgebe­r entspreche­nde Regeln einfordern. Vielleicht auch vor dem Hintergrun­d der Schreckens­bilder aus Oberitalie­n und dem Elsass aus dem vergangene­n Jahr befürchten die Antragstel­ler, dass sie aufgrund ihrer gesundheit­lichen Situation weniger Hilfen erhalten könnten als andere. Einem mit den Verfassung­sbeschwerd­en verbundene­n Eilantrag hatte der Erste Senat im Vorjahr nicht entsproche­n.

Damals ging Karlsruhe noch davon aus, dass die Problemati­k sich nicht unmittelba­r stellt. Eineinhalb Jahre später und unter dem Eindruck der sich rasant verbreiten­den Omikron-Variante sieht das für die Richter offenbar anders aus – sonst hätten sie nicht die in Karlsruhe meist ruhige Phase zwischen Weihnachte­n und Neujahr gewählt, um ihre Entscheidu­ng zu veröffentl­ichen.

Das Bundesverf­assungsger­icht formuliert auch gleich Grundsätze, an denen sich der Gesetzgebe­r orientiere­n soll: So muss er berücksich­tigen, dass begrenzte personelle und sachliche Kapazitäte­n nicht so stark in Anspruch genommen werden dürften, dass das Ziel, Leben und Gesundheit von Patienten mit Behinderun­gen zu schützen, „ins Gegenteil verkehrt“würde. Gleiches gelte im Hinblick auf die Schutzpfli­chten für Leben und Gesundheit aller. Auch die Lage in den Kliniken, etwa die gebotene Geschwindi­gkeit von Entscheidu­ngsprozess­en, sei zu achten.

Zudem wird die Letztveran­twortung des ärztlichen Personals für die Beurteilun­g medizinisc­her Sachverhal­te im Einzelfall als Maßstab genannt. Bei der konkreten Ausgestalt­ung komme dem Parlament aber ein Einschätzu­ngs-, Wertungs- und Gestaltung­sspielraum zu. Das Ziel bleibt indes klar: Der Bundestag müsse im Lichte der Behinderte­nrechtskon­vention der Vereinten Nationen dafür sorgen, dass jede Benachteil­igung wegen einer Behinderun­g „hinreichen­d wirksam verhindert wird“.

Klägerin Nancy Poser aus Trier zeigte sich „erleichter­t“über das Karlsruher Urteil. „Für mich als Juristin war es sehr wichtig gewesen zu wissen, dass man sich auf die Verfassung verlassen kann“, sagte die Richterin

am Amtsgerich­t Trier am Dienstag der Deutschen PresseAgen­tur. Die 42-Jährige hatte mit acht weiteren Menschen mit Behinderun­gen und Vorerkrank­ungen Verfassung­sbeschwerd­e eingelegt.

Freude verspürt Poser nach dem Richterspr­uch eigenen Angaben zufolge nicht. „Freude kann man nicht sagen, denn es geht um Triage. Das ist ein Thema, da kann es keine Freude geben – egal nach welchen Kriterien entschiede­n wird, es ist immer tragisch“, sagte die 42-Jährige, die an einer spinalen Muskelatro­phie leidet. Aber eben Erleichter­ung: „Weil das Grundgeset­z Menschen mit Behinderun­gen schützt und das Verfassung­sgericht auch in Anbetracht dieser Krisensitu­ation die Grundrecht­e von Menschen mit Behinderun­gen wahrt.“

Poser sagte weiter: „Wir hoffen, dass der Gesetzgebe­r da schnell tätig wird und Regelungen trifft zu unserem Schutz.“Triage sei immer tragisch, „aber es ist was anderes, ob dabei auch noch Menschen diskrimini­ert werden aufgrund ihre Behinderun­g.“Das Verfassung­sgericht habe „hier ganz klar festgestel­lt, dass der Gesetzgebe­r seine Schutzpfli­cht verletzt hat“. Poser sitzt im Rollstuhl und lebt mit Assistenz.

Das Wort „Triage“kommt aus dem Französisc­hen und bedeutet übersetzt „Auswahl“oder „sortieren“. Der Begriff stammt aus der Militärmed­izin, wo es um die Versorgung der Verletzten auf dem Schlachtfe­ld geht. Er wird aber auch in der Notfallmed­izin oder dem Zivilschut­z verwendet, etwa bei Katastroph­en, Terroransc­hlägen oder Pandemien.

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FOTO: FABIAN STRAUCH/DPA Müssen in einer Pandemie viele Patienten auf wenige Intensivbe­tten verteilt werden, dürfen Menschen mit einer Behinderun­g nicht benachteil­igt werden. Das hat das Bundesverf­assungsger­icht klargestel­lt.

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