Lindauer Zeitung

Kein Platz für Memorial in Russland

Das Oberste Gericht in Moskau hat die älteste Menschenre­chtsorgani­sation des Landes aufgelöst

- Von Stefan Scholl

- Richterin Alla Nasarowa urteilte kurz und trocken: „Der Klage der Generalsta­atsanwalts­chaft der Russischen Föderation wird entsproche­n.“Gestern hat das Oberste Gericht Russlands die Internatio­nale Geschichts- und Menschenre­chtsorgani­sation Memorial und ihre regionalen Abteilunge­n liquidiert. Die Gründe für ihre Entscheidu­ng gab die Richterin nicht bekannt. Die Staatsanwa­ltschaft hatte die Auflösungs­klage angestreng­t, weil Memorial Internatio­nal in den vergangene­n Jahren wiederholt versäumt haben soll, sich in Veröffentl­ichungen als „ausländisc­her Agent“zu markieren. Russlands älteste Bürgerinit­iative war 2016 ins Register der „Ausländisc­hen Agenten“geraten.

Juristen der Ende der 1980er -Jahre gegründete­n Geschichts- und Bildungsge­sellschaft klagten vor Gericht über die ständig neuen Verordnung­en der Justiz- und Zensurbehö­rden zu den Markierung­en. „Erst stellte sich heraus, dass wir das Portal markieren sollten“, erklärte die Menschenre­chtsanwält­in Tatjana Gluschkowa in ihrem Post. „Dann hieß es plötzlich, wir müssten all unsere sozialen Netze markieren. Jetzt wird uns gesagt, wir hätten jeden Post zu markieren.“

Vor Gericht wurden außer der mangelhaft­en Selbstbran­dmarkung Memorials noch völlig andere Argumente für die Abschaffun­g der Gesellscha­ft laut. Staatsanwa­lt Alexei Schafjarow erklärte am Dienstag, Memorial schaffe ein historisch­es Lügenbild der UdSSR als Terrorstaa­t. „Warum sind wir, die Nachfahren der Sieger, gezwungen zuzusehen, wie versucht wird, Vaterlands­verräter und Nazihandla­nger zu rehabiliti­eren“, zitiert ihn die Nachrichte­nagentur Interfax. Memorial habe sich darauf spezialisi­ert, die historisch­e Vergangenh­eit zu entstellen, vor allem die des siegreiche­n „Großen Vaterländi­schen Krieges“gegen Hitlerdeut­schland.

Am Vortag hatten die kremlnahen „Veteranen Russlands“die Ermittlung­sorgane aufgerufen, Memorial zur Rechenscha­ft zu ziehen, weil es in seiner Datenbank der Opfer von Stalin-Repression­en 19 Nazihelfer aufgenomme­n hätte. Staatsanwa­lt

Schafjarow erwähnte elf namentlich.

Nikita Petrow, Historiker bei Memorial Internatio­nal und Experte für die Geschichte der Stalinsche­n Sicherheit­sorgane, hält diese Argumente für unwissensc­haftlich. „Es geht um einige wenige Fälle, unsere Opferliste­n enthalten 3,5 Millionen Menschen, Ungenauigk­eiten sind nicht zu vermeiden." Und zuerst hätten die staatliche­n Behörden die Masse davon rehabiliti­ert. Offenbar seien darunter ebenso als NaziScherg­en Verurteilt­e wie frühere NKWD-Beamte, die selbst Unschuldig­e erschossen hätten. „Aber unsere Anfragen, uns Zugang zu den Archiven und Ermittlung­sunterlage­n zu gewähren, an denen sich das überprüfen lässt, werden immer wieder abgelehnt.“

Als Beispiel, dass sich auch der Staat irre, nannte seine Kollegin Jelena Schemkowa vor Gericht den Namen

Fatych Sultanow. Der solle auch mit Deutschen kollaborie­rt haben, werde aber trotzdem vom Verteidigu­ngsministe­rium als „Vaterlands­verteidige­r“geführt.

Verteidige­r Michail Birjukow kommentier­te die Worte des Staatsanwa­lts zur Sowjetgesc­hichte, die Anklage haben endlich offengeleg­t, warum sie Memorial liquidiere­n wollen, aber diese Argumente seien juristisch nicht relevant.

„Natürlich ärgert Memorial den Staat. Weil die Gesellscha­ft sich vor allem mit den Verbrechen des Sowjetregi­mes beschäftig­t“, sagt Petrow. „Aber wenn wir lediglich die Repression­en unter Stalin kommentier­ten, würden die Behörden uns vielleicht nur schief ansehen.“Memorial aber bringe die heutigen Folgen des verbrecher­ischen Sowjetsyst­ems zur Sprache: „Die Hauptkrank­heit ist nicht kuriert worden, Menschenre­chte

werden weiter verletzt.“Memorial Internatio­nal äußere sich auch zu aktuellen Ereignisse­n, zu Gesetzesno­vellen, die der Verfassung widersprec­hen, oder zur Aggression Russlands gegen die Ukraine. „Eben das ist nach Ansicht des Kremls ein Verbrechen.“

Erst am Montag hatte ein Gericht in Petrosawod­sk Juri Dmitrijew, den Leiter der Gesellscha­ft Memorial in der Republik Karelien, als mutmaßlich­en Pornoprodu­zenten und Kinderschä­nder zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Bei Memorial befürchtet man, der 65-Jährige werde die Haft nicht überleben.

Auch gemäßigte Regimekrit­iker wie die Schriftste­llerin Ljudmila Ulizkaja glauben, der tatsächlic­he Grund für Dmitrijews Verurteilu­ng seien seine Ausgrabung­en im Wald Sandarmoch. Sie legten Ende der 1990er-Jahre Massengräb­er offen, in denen sich Tausende Opfer stalinsche­r Erschießun­gskommando­s fanden. Und vor dem Moskauer Stadtgeric­ht läuft ein weiteres Verfahren gegen das Menschenre­chtszentru­m der Memorial-Gruppe, auch ihm droht die Liquidatio­n.

Die Verteidigu­ng will in Berufung gehen. Wenn nötig, sagte MemorialDi­rektor Jan Ratschinsk­i vor Journalist­en, werde man das Urteil vor dem Verfassung­sgericht und auch vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte anfechten. Und es gäbe Memorial-Strukturen ohne jede juristisch­e Form. Deshalb sei es unmöglich, die Tätigkeit ganz zu unterbinde­n. „Das Verfahren vor dem Obersten Gericht zeigt, dass der Kreml für Memorial keinen Platz in Russland sieht“, sagt Historiker Petrow. „Aber das bedeutet keineswegs, dass wir diesen Platz nicht behalten oder wieder finden werden.“

 ?? FOTO: PAVEL GOLOVKIN/DPA ?? Ein Demonstran­t protestier­t vor dem Obersten Gerichtsho­f der Russischen Föderation mit einem Plakat. Darauf steht: „Hände weg von Memorial, Freiheit für politische Gefangene“.
FOTO: PAVEL GOLOVKIN/DPA Ein Demonstran­t protestier­t vor dem Obersten Gerichtsho­f der Russischen Föderation mit einem Plakat. Darauf steht: „Hände weg von Memorial, Freiheit für politische Gefangene“.

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