Kein Platz für Memorial in Russland
Das Oberste Gericht in Moskau hat die älteste Menschenrechtsorganisation des Landes aufgelöst
- Richterin Alla Nasarowa urteilte kurz und trocken: „Der Klage der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation wird entsprochen.“Gestern hat das Oberste Gericht Russlands die Internationale Geschichts- und Menschenrechtsorganisation Memorial und ihre regionalen Abteilungen liquidiert. Die Gründe für ihre Entscheidung gab die Richterin nicht bekannt. Die Staatsanwaltschaft hatte die Auflösungsklage angestrengt, weil Memorial International in den vergangenen Jahren wiederholt versäumt haben soll, sich in Veröffentlichungen als „ausländischer Agent“zu markieren. Russlands älteste Bürgerinitiative war 2016 ins Register der „Ausländischen Agenten“geraten.
Juristen der Ende der 1980er -Jahre gegründeten Geschichts- und Bildungsgesellschaft klagten vor Gericht über die ständig neuen Verordnungen der Justiz- und Zensurbehörden zu den Markierungen. „Erst stellte sich heraus, dass wir das Portal markieren sollten“, erklärte die Menschenrechtsanwältin Tatjana Gluschkowa in ihrem Post. „Dann hieß es plötzlich, wir müssten all unsere sozialen Netze markieren. Jetzt wird uns gesagt, wir hätten jeden Post zu markieren.“
Vor Gericht wurden außer der mangelhaften Selbstbrandmarkung Memorials noch völlig andere Argumente für die Abschaffung der Gesellschaft laut. Staatsanwalt Alexei Schafjarow erklärte am Dienstag, Memorial schaffe ein historisches Lügenbild der UdSSR als Terrorstaat. „Warum sind wir, die Nachfahren der Sieger, gezwungen zuzusehen, wie versucht wird, Vaterlandsverräter und Nazihandlanger zu rehabilitieren“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur Interfax. Memorial habe sich darauf spezialisiert, die historische Vergangenheit zu entstellen, vor allem die des siegreichen „Großen Vaterländischen Krieges“gegen Hitlerdeutschland.
Am Vortag hatten die kremlnahen „Veteranen Russlands“die Ermittlungsorgane aufgerufen, Memorial zur Rechenschaft zu ziehen, weil es in seiner Datenbank der Opfer von Stalin-Repressionen 19 Nazihelfer aufgenommen hätte. Staatsanwalt
Schafjarow erwähnte elf namentlich.
Nikita Petrow, Historiker bei Memorial International und Experte für die Geschichte der Stalinschen Sicherheitsorgane, hält diese Argumente für unwissenschaftlich. „Es geht um einige wenige Fälle, unsere Opferlisten enthalten 3,5 Millionen Menschen, Ungenauigkeiten sind nicht zu vermeiden." Und zuerst hätten die staatlichen Behörden die Masse davon rehabilitiert. Offenbar seien darunter ebenso als NaziSchergen Verurteilte wie frühere NKWD-Beamte, die selbst Unschuldige erschossen hätten. „Aber unsere Anfragen, uns Zugang zu den Archiven und Ermittlungsunterlagen zu gewähren, an denen sich das überprüfen lässt, werden immer wieder abgelehnt.“
Als Beispiel, dass sich auch der Staat irre, nannte seine Kollegin Jelena Schemkowa vor Gericht den Namen
Fatych Sultanow. Der solle auch mit Deutschen kollaboriert haben, werde aber trotzdem vom Verteidigungsministerium als „Vaterlandsverteidiger“geführt.
Verteidiger Michail Birjukow kommentierte die Worte des Staatsanwalts zur Sowjetgeschichte, die Anklage haben endlich offengelegt, warum sie Memorial liquidieren wollen, aber diese Argumente seien juristisch nicht relevant.
„Natürlich ärgert Memorial den Staat. Weil die Gesellschaft sich vor allem mit den Verbrechen des Sowjetregimes beschäftigt“, sagt Petrow. „Aber wenn wir lediglich die Repressionen unter Stalin kommentierten, würden die Behörden uns vielleicht nur schief ansehen.“Memorial aber bringe die heutigen Folgen des verbrecherischen Sowjetsystems zur Sprache: „Die Hauptkrankheit ist nicht kuriert worden, Menschenrechte
werden weiter verletzt.“Memorial International äußere sich auch zu aktuellen Ereignissen, zu Gesetzesnovellen, die der Verfassung widersprechen, oder zur Aggression Russlands gegen die Ukraine. „Eben das ist nach Ansicht des Kremls ein Verbrechen.“
Erst am Montag hatte ein Gericht in Petrosawodsk Juri Dmitrijew, den Leiter der Gesellschaft Memorial in der Republik Karelien, als mutmaßlichen Pornoproduzenten und Kinderschänder zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Bei Memorial befürchtet man, der 65-Jährige werde die Haft nicht überleben.
Auch gemäßigte Regimekritiker wie die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja glauben, der tatsächliche Grund für Dmitrijews Verurteilung seien seine Ausgrabungen im Wald Sandarmoch. Sie legten Ende der 1990er-Jahre Massengräber offen, in denen sich Tausende Opfer stalinscher Erschießungskommandos fanden. Und vor dem Moskauer Stadtgericht läuft ein weiteres Verfahren gegen das Menschenrechtszentrum der Memorial-Gruppe, auch ihm droht die Liquidation.
Die Verteidigung will in Berufung gehen. Wenn nötig, sagte MemorialDirektor Jan Ratschinski vor Journalisten, werde man das Urteil vor dem Verfassungsgericht und auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anfechten. Und es gäbe Memorial-Strukturen ohne jede juristische Form. Deshalb sei es unmöglich, die Tätigkeit ganz zu unterbinden. „Das Verfahren vor dem Obersten Gericht zeigt, dass der Kreml für Memorial keinen Platz in Russland sieht“, sagt Historiker Petrow. „Aber das bedeutet keineswegs, dass wir diesen Platz nicht behalten oder wieder finden werden.“